Der letzte Mensch. Mary Shelley

Der letzte Mensch - Mary Shelley


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meine einzigen Begleiter waren meine Bücher und meine zärtlichen Gedanken. Ich studierte die Weisheit der Alten und blickte auf die glücklichen Mauern, die die Geliebte meiner Seele beschirmten. Mein Verstand war dennoch müßig. Ich brütete über der Poesie alter Zeiten; ich studierte die Metaphysik von Platon und Berkeley. Ich las die Geschichten von Griechenland und Rom und Englands früheren Epochen und beobachtete die Bewegungen meiner Herzensdame. Des Nachts konnte ich ihren Schatten an den Wänden ihres Zimmers sehen; bei Tag erblickte ich sie in ihrem Blumengarten oder wie sie mit ihren Gefährtinnen im Park ausritt. Mich dünkte, der Zauber sei gebrochen, wenn ich gesehen würde, dann aber hörte ich die Melodie ihrer Stimme und war glücklich. Ich verlieh jeder Heldin, von der ich las, ihre Schönheit und unvergleichliche Vorzüglichkeit – sie war Antigone, wie sie den blinden Ödipus zum Hain der Eumeniden führte und die Bestattungszeremonien Polyneikes’ leitete; sie war Miranda in der einsamen Höhle Prosperos; sie war Haidée am Strand der Ionischen Insel. Ich war beinahe von Sinnen in meinem Übermaß an leidenschaftlicher Hingabe; doch der Stolz, unbezähmbar wie das Feuer, zügelte meine Natur und bewahrte mich davor, mich durch Wort oder Blick zu verraten.

      In der Zwischenzeit, während ich mich so mit reichhaltiger geistiger Nahrung verwöhnte, hätte ein Bauer meine dürftige Kost verschmäht, die ich zuweilen den Eichhörnchen des Waldes raubte. Ich war, wie ich gestehen muss, oft versucht, zu den gesetzlosen Heldentaten meiner Jugend zurückzukehren und die beinahe zahmen Fasane, die auf den Bäumen saßen und ihre hellen Augen auf mich richteten, zu erlegen. Doch sie waren das Eigentum Adrians, die Zöglinge Idris’; und obgleich meine durch die Entbehrungen reizbar gemachte Phantasie mich denken ließ, dass sie sich besser in meiner Küche ausnehmen würden als zwischen den grünen Blättern des Waldes, gebot ich

       Nichtsdestotrotz

      Meinem Willen Einhalt, und aß sie nicht;

      ich aß sie jedoch in meinen Gedanken und träumte vergeblich von solchen Leckerbissen, in deren Genuss ich im wachen Zustande vielleicht nicht gelangen würde.

      Zu dieser Zeit jedoch stand mein Leben vor einer entscheidenden Änderung. Der verwaiste und vernachlässigte Sohn Verneys sollte bald durch eine goldene Kette mit dem Mechanismus der Gesellschaft verbunden werden und in alle Pflichten und Gewohnheiten des Lebens eintreten. Wunder sollten zu meinen Gunsten bewirkt werden, die Maschine des gesellschaftlichen Lebens drängte mit großer Anstrengung zurück. Lausche, o Leser, während ich diese Wundergeschichte erzähle!

      Eines Tages, als Adrian und Idris mit ihrer Mutter und ihren gewohnten Gefährten durch den Wald ritten, zog Idris plötzlich ihren Bruder beiseite und fragte ihn: »Was ist aus deinem Freund Lionel Verney geworden?«

      »Sogar von dieser Stelle«, antwortete Adrian, auf die Hütte meiner Schwester zeigend, »kannst du seine Behausung sehen.«

      »Tatsächlich!«, sagte Idris, »und warum, wenn er so nahe ist, kommt er uns nicht besuchen und leistet uns Gesellschaft?«

      »Ich besuche ihn oft«, antwortete Adrian; »aber du kannst leicht die Motive erraten, die ihn davon abhalten, dorthin zu kommen, wo seine Anwesenheit jemandem unter uns zur Last fallen könnte.«

      »Ich kann sie erraten«, sagte Idris, »und solcherart, wie sie sind, würde ich nicht wagen, sie zu bekämpfen. Sage mir doch, auf welche Weise er sich die Zeit vertreibt; was tut und denkt er in seinem Rückzugsort?«

      »Nun, meine liebe Schwester«, antwortete Adrian, »du fragst mich mehr, als ich beantworten kann; aber wenn du dich für ihn interessierst, warum besuchst du ihn dann nicht? Er wird sich sehr geehrt fühlen, und du kannst auf solche Weise einen Teil dessen zurückzahlen, was ich ihm schulde, und ihn für die Verletzungen entschädigen, die das Schicksal ihm zugefügt hat.«

      »Ich werde dich sehr gern zu seiner Unterkunft begleiten«, sagte die Dame, »nicht, dass ich wünschte, dass einer von uns sich unserer Schuld entledigen sollte, die, da sie in nichts weniger als deinem Leben besteht, auf ewig unbezahlbar bleiben muss. Aber lass uns hingehen; morgen werden wir zusammen ausreiten, in diesen Teil des Waldes vordringen und ihn von hier aus besuchen.«

      Am nächsten Abend, obwohl der launenhafte Herbst Kälte und Regen gebracht hatte, betraten Adrian und Idris meine Hütte. Sie fanden mich als einen Curius vor, da ich eben mein ärmliches Abendbrot aus Früchten genoss, aber sie brachten Geschenke, die reicher waren als die goldenen Bestechungsgelder der Sabiner, auch konnte ich den kostbaren Schatz der Freundschaft und des Entzückens, den sie mir überbrachten, nicht ablehnen. Gewiss waren selbst die glorreichen Zwillinge von Latona nicht willkommener gewesen, als sie in der noch jungen Welt dazu gebracht wurden, dieses »kahle Vorgebirge« zu verschönern und zu erleuchten, als dieses engelsgleiche Paar meiner bescheidenen Hütte und meinem dankbaren Herzen. Wir saßen wie eine Familie um meinen Herd. Wir sprachen über Themen, die nichts mit den Empfindungen zu tun hatten, die offensichtlich beide Seiten beschäftigten; aber jeder von uns erriet die Gedanken des anderen, und während unsere Stimmen von gleichgültigen Gegenständen sprachen, erzählten unsere Augen in stummer Sprache tausend Dinge, die keine Zunge hätte äußern können.

      Sie verließen mich nach einer Stunde. Sie ließen mich glücklich zurück – unaussprechlich glücklich. Die gemessenen Laute der menschlichen Sprache reichen nicht aus, um das Ausmaß meiner Freude auszudrücken. Idris hatte mich besucht; Idris, die ich immer vor mir sehen sollte – meine Vorstellung wanderte nicht über die Vollständigkeit dieses Wissens hinaus. Ich schwebte in der Luft; zweifellos, keine Angst, keine Hoffnung störte mich; meine Seele war von Zufriedenheit erfüllt, wunschlos glücklich, beseligt.

      Viele Tage lang fuhren Adrian und Idris fort, mir Besuche abzustatten. In diesen teuren Verkehr brachte, unter dem Deckmantel einer guten Freundschaft, die Liebe immer mehr von ihrem allgewaltigen Geist ein. Idris fühlte es. Ja, Göttlichkeit der Welt, ich las deine Zeichen in ihrem Blick und ihrer Geste; ich hörte deine melodiöse Stimme aus ihr erklingen – du bereitetest uns einen weichen und blumigen Pfad, alle sanften Gedanken schmückten ihn – dein Name, o Liebe, wurde nicht ausgesprochen, doch du warst stets verschleiert bei uns, und nur die Zeit, aber keine sterbliche Hand hätte es vermocht, den Vorhang zu heben. Keine Orgeln mit klarem Klang verkündeten die Vereinigung unserer Herzen; denn ungünstige Umstände boten dem Ausdruck, der auf unseren Lippen schwebte, keine Gelegenheit.

      O mein Stift! Schreibe rasch nieder, was war, bevor der Gedanke an das, was ist, die Hand, die dich führt, innehalten lässt! Wenn ich meine Augen öffne und die verödete Erde sehe und erkenne, dass diese lieben Augen ihren sterblichen Glanz verloren haben und dass diese schönen Lippen schweigen, ihre »karmesinroten Blätter« verblasst sind, verstumme ich auf ewig!

      Doch du lebst, meine Idris, gerade jetzt bewegst du dich vor mir! Da war eine Lichtung, o Leser! eine grasbewachsene Öffnung im Wald; die zurückweichenden Bäume verwandelten ihre samtene Weite in einen Tempel der Liebe; die silberne Themse begrenzte sie auf der einen Seite, und eine sich herabbeugende Weide, von der unsichtbaren Hand des Windes zerzaust, tunkte ihr Najadenhaar ins Wasser. Die darumgruppierten Eichen waren die Heimat einer Familie von Nachtigallen – hier bin ich nun; Idris, im besten Jugendalter, ist an meiner Seite – bedenke, ich zähle erst zweiundzwanzig, und die Geliebte meines Herzens kaum siebzehn Sommer. Der Fluss, der durch den herbstlichen Regen angeschwollen ist, hat die niedrigen Ebenen überflutet, und Adrian in seinem Lieblingsboot ist mit dem gefährlichen Zeitvertreib des Herumzupfens an einer untergegangenen Eiche beschäftigt, um den obersten Ast zu entfernen. Bist du des Lebens müde, o Adrian, dass du so mit der Gefahr spielst?

      Er errang seine Trophäe und steuerte sein Boot durch die Flut; unsere Augen waren ängstlich auf ihn gerichtet, aber der Strom trug ihn von uns weg; er war gezwungen, weiter unten zu landen und einen beträchtlichen Umweg zu machen, bevor er sich uns anschließen konnte. »Er ist in Sicherheit!«, sagte Idris, als er an Land sprang, und den Ast als Zeichen des Erfolges über seinem Kopf schwang; »Wir werden hier auf ihn warten.«

      Wir waren miteinander alleine. Die Sonne war untergegangen, das Lied der Nachtigallen begann, der Abendstern leuchtete fern in der Lichtflut, die im Westen noch nicht gänzlich verblasst war. Die blauen Augen meines engelsgleichen Mädchens waren auf dieses süße Emblem ihrer selbst gerichtet: »Das pulsierende Licht«, sagte sie, »ist


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