Ich schneie. Pavel Kohout

Ich schneie - Pavel Kohout


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Marke Thonet und vor allem ein pummeliges Frauchen, das den Illustrationen zu meinen geliebten alten Dickens-Ausgaben entstiegen zu sein schien.

      Überstürzt entschuldigte sie sich, daß hier noch nicht alles tipptopp sei, das Lokal habe ihr kürzlich ihr in Deutschland lebender Sohn auf einer Auktion gekauft, das sei seit ewig ihr Traum gewesen. Vor zwei Wochen habe sie aufgemacht, und einige Lieferanten hätten sich verspätet. Die haben mir nicht geglaubt, strahlte sie, daß ich immer alles schaffe! aber vielleicht werde sie mich trotzdem zufriedenstellen, also was dürfe es sein?

      Ich wünschte mir etwas gegen den Durst, aber kein Sodawasser, ich vertrage die Bläschen nicht, auch keine Cola, die ist mir einfach zuwider, an Kaffee habe ich mich übertrunken, und für Wein ist es zu früh. Na, dann Tee! rief sie frohgemut, ich wandte ein, Tee beize den Magen schlimmer als Kaffee, sie aber wedelte mit ihren Nudelholzarmen, nicht doch, sie meine chinesischen, Jasmin, den könne man immerzu trinken, zur Beruhigung wie zur Aufmunterung, zur Erfrischung wie zum Aufwärmen, er passe sich den Menschen wie den Umständen an.

      Sie rief die Erinnerung in mir wach an die melancholische Erzählung eines bis vor kurzem verbotenen Schriftstellers über einen zierlichen Gast, der in einem sozialistisch heruntergekommenen Beisl immer wieder vergebens nach Jasmintee verlangte, bis man mit Mühe welchen für ihn beschaffte, allerdings zu spät: Der Gast hatte die Lust verloren und kam nicht mehr. Jetzt verstand ich sein Verlangen, bezaubert von dem einmalig feinen Duft und Geschmack, die mein geistiges Fest fortsetzten.

      Die Besitzerin, deren Glück eine für Prager Abfüttereien und Tränken unbekannte Harmonie schuf, schilderte verträumt, wie hier neben dem unablässig brodelnden Samowar zwei Dutzend Porzellankännchen stehen würden, worin die Gäste ihren Tee mit Hilfe einer schön gedruckten Anweisung nach Lust und Laune auswählen und aufbrühen könnten. Sie erwartete hauptsächlich Männer, die von hier zu der Klinik laufen und fragen könnten, welche Fortschritte ‹ihre› Geburt mache, das Rauchen sei hier freilich erlaubt (gleich steckte ich mir eine an), und im Fall von Zwillingen sei eine besondere Sorte Brennesseln vorhanden, nach der, sie kicherte, sogar eine Stute einschlafe.

      Wie zur Bestätigung trat ein nervöser junger Mann ein, der zu dieser Zielgruppe gehörte, und sie watschelte eilig zu ihm hin. Unterwegs schaltete sie taktvoll eine Musik ein, die in öffentlichen Räumen eine besondere Art von Stille und privater Atmosphäre schafft, und ich nippte zur spanischen Gitarre und meiner Zigarette schlückchenweise den hellen Tee. Alle diese Annehmlichkeiten hinderten mich nicht, nach einer Weile festzustellen, daß es mit der Erhebung meiner Seele zu Ende ging und ich beklommen an die Begegnung mit Josef dachte.

      Nach den Jahren der Bekanntschaft, die eigentlich nur durch Viktor aufrechterhalten wurde, hatten wir noch ein Jahr nach seiner Flucht in kameradschaftlicher Verbindung gestanden, bis wir einander auf Knall und Fall verfielen. Bis dahin war das Körperliche für mich eher eine Begleiterscheinung der seelischen Hochstimmung gewesen (fast auch deshalb brachten mir meine Absprünge keine Wollust), jetzt aber schien es sich verselbständigt zu haben. Ich verspürte keine Verliebtheit, und trotzdem wurde mir plötzlich ein gestern noch ziemlich fremder Mensch physisch vertrauter als mein Herzallerliebster Vít’a, das Lieben mit ihm schlug mich rasch in seinen Bann. Von der Arbeit (damals noch der Hausmeisterstelle) jagte ich nach Hause, kochte für Gábina, sah ihre Aufgaben durch (besser gesagt, ich tat nur so, und bald schlug sich das auf ihrem Zeugnis nieder, wofür ich sie in meiner Tollheit verprügelte), versprach ihr das Blaue vom Himmel, stellte ihr den Fernseher an und betrat eine halbe Stunde später zur neuen Runde Josefs Bett (das ganze Zimmer hatte sich in einen Ring verwandelt, und wir rühmten uns gegenseitig wie die Narren unserer Kollektion von Bissen und Kratzern aller Schattierungen). Er war nachgerade unverwüstlich, wir aßen einen Happen, beglückten einander weit über Mitternacht hinaus (mit Rauchpausen), und er blieb dann noch lange erregt, nachdem er längst eingeschlafen war. Vor sechs haben wir uns kurz, aber stark verabschiedet (‹Riemen› nannte er diese rasche Liebe, so besorgten es die Soldaten im Torweg den Dienstmädchen, behauptete er lachend, sie hängten den einen Fuß ins Koppel!), und um sieben machte ich daheim Gábi schon für die Schule fertig, das gleiche Karussell drehte sich eine Woche lang, zwei, sechs, die Spannung lockerte sich auch tagsüber nicht, ich wischte meine endlosen Treppenhäuser und dachte gierig an die kommende Nacht. Heute weiß ich, es war eine verspätete hysterische Reaktion auf die größte Niederlage meines Lebens (die ich bald mit ebenso hysterischer Sittsamkeit kompensierte), doch damals war ich vor Lust von Sinnen, bereit, mich zu Tode zu lieben; ich magerte bis unter die Maße meiner Ledigenzeit ab und gefiel mir im Spiegel wie nie zuvor und danach. Dann brachen die Ferien an, und meine Besessenheit zwang mich, mein Versprechen zu brechen, daß ich mit der Tochter wie jedes Jahr in das kleine Hotel an der mittleren Moldau fahren würde (den ganzen Winter über hatte ich wie ein Fisch nach dem Wasser gelechzt und schreckte plötzlich vor dem Gedanken zurück, das müsse für drei Wochen Josefs Umarmung ersetzen), ein letztes Mal glückte es mir, meinen einstigen Ehegatten (der nicht mehr jung und schön, aber um so erfolgreicher war, weil er mit Geschick kollaborierte) zu überreden, daß er mit ihr in die Ferien fuhr, falls er sie nicht ganz verlieren wollte; das war seit langem ihr Traum, doch in diesem Sommer begriff sie sehr wohl, daß ich sie mit diesem ‹Geschenk› ganz brutal abschob, und beschloß, es mir heimzuzahlen. Ich verlor sie aus dem Sinn, kaum daß die Tür hinter den beiden ins Schloß fiel, und zog zu Josef, der in seinem Betrieb (es kümmerte mich nicht, in welchem) überfälligen Urlaub nahm; die Freudenfeste des Leibes hielten auch tagsüber an, aber unser Verlangen versiegte nicht, mehr und mehr wurde mir die abgrundtiefe Kluft bewußt zwischen dem, was ich jahrelang für körperliche Liebe gehalten hatte (‹Geschlechtsverkehr› war genau der richtige Ausdruck dafür), und dem, was ich jetzt erlebte: das ständige Sichannähern bis an die Grenze der Durchdringbarkeit (es erinnerte mich an die phantastische amerikanische Photoserie, die einen Menschen beim Sonnenbaden zeigt, beginnend mit dem weitesten Objektiv von der Spitze eines Chicagoer Wolkenkratzers aus, wo er als ein unkenntlicher Punkt so gut wie unsichtbar bleibt, bis hin zu der mikroskopischen Vergrößerung eines seiner Leberflecke), bei dem die höchste Lust kaum nachließ. (Welch ein Glück, daß bereits die erste Umarmung meines wiedergefundenen Liebsten vor einem Jahr diese trügerischen Höhepunkte mit einem Schlag übertraf, amor vincit omnia!) Dann kam die Nacht heran, über die ich beim Jasmintee nachdachte: Drei Tage vor Gábinkas Rückkehr, also auch vor dem einstweiligen Ende unserer Raserei, hatten wir beide zugleich das Bedürfnis, uns für eine Weile nicht zu berühren. Da auch nach Mitternacht die Hitze immer noch nicht nachgelassen hatte, zogen wir unsere Matratze auf die Terrasse hinaus, in die keiner hineinschauen konnte, denn wir befanden uns ganz oben, und ringsum waren nur Krankenhäuser, wo alles bereits eingeschlafen oder schon gestorben war. Das Radio spielte irgendwas, wir rauchten (er seine starken Gauloises), schlürften das Getränk unseres Sommers, den ‹Weißen Bären› (ein Eiscocktail mit russischem Wodka, der die Süße des tschechischen Sekts zurücknahm), und segelten gemächlich unter den regungslosen Sternen dahin.

      «Ich möchte dir gern etwas sagen», flüsterte er.

      Seltsam, daß wir zu jenen Zeiten meist flüsternd miteinander sprachen, obwohl wir uns vor niemandem verstecken mußten und auch keinen störten (und es war damals vielleicht die einzige Tätigkeit, für die das Regime keinen Paragraphen hatte).

      «Na los!» ermunterte ich ihn. (Ich erwartete die fällige Verabredung für unsere Zeit ‹danach›.)

      «Ich liebe dich und möchte dich heiraten.»

      Noch nie hatten wir uns Liebe eingestanden. Und daß er sich entschließen würde, ein zweites Mal zu heiraten, war mir nie in den Sinn gekommen. Auf dem einzigen Photo, das in seiner Wohnung hing, umarmte er verliebt eine zierliche Frau; ihrer beider Rücken waren mit Fallschirmen beschwert. Der ihre hatte sich irgendwann später nicht geöffnet. Das schilderte er mir einmal mit kargen Worten. Sie sprangen an einem klaren Wintertag zu acht einen Stern, hatten ihn bereits geformt und hielten sich ringsum kurz an den Händen, für sie beide die letzte Berührung im Leben. So was passiert schon mal, berichtete er fast allzu unbeteiligt (und verriet damit, daß er selbst heute noch mit ihr abstürze), deshalb wird das auch trainiert, meistens reicht es, wenn man mit Armen und Beinen bremst, ich hätte sie eingeholt und an mir festgemacht; sie aber (er sprach nicht einmal ihren Namen aus) war offenbar im Schock, sie sank durch die blaue Luft wie ein Turmspringer


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