Bright Horizon. H.J. Welch
wirklich noch nie gehört«, sagte er leise.
Elias lachte. Das machte er oft. Es war ein angenehmes, tröstliches Lachen. »Das habe ich gemerkt. Deine Familie hat sie nie erwähnt?«
Ben schüttelte den Kopf und spielte mit der Ecke des Umschlags. »Meine Eltern waren Einzelkinder und die Großeltern, die ich noch hatte, sind alle vor meinem zehnten Geburtstag gestorben.« Er lächelte traurig. »Ich bin auch ein Einzelkind. Ich habe als Kind immer von einer großen Familie geträumt, die irgendwo auf mich wartet. Als ich älter wurde, habe ich diesen Traum vergessen.« Bis jetzt.
»Nun«, meinte Elias und stützte sich mit den Ellbogen auf den Tisch. »Vielleicht ist es ja doch kein Tagtraum. Mrs. Grimaldi de Loutherbergh wusste offensichtlich von deiner Existenz. Willst du jetzt den Umschlag öffnen und nachsehen, was er enthält?«
Ben fuhr sich nachdenklich mit der Zunge über die Lippen. Er war sich nicht sicher, ob er es wissen wollte. Mr. Cabot hatte gesagt, seine entfremdete Familie wäre wütend über das Testament und hätte es schon angefochten. Es war merkwürdig. Ben hatte sich daran gewöhnt, dass es nur ihn und seine Eltern gab… Hatte er auch Großonkel und Großtanten? Cousins? Wie viele Verwandte gab es, von denen er noch nie gehört hatte?
Verdammt. All die Feiertage, an denen er sich undankbar gefühlt hatte, weil er einsam war. Dabei hatte er Verwandte. Er hatte immer versucht, nicht unzufrieden darüber zu sein, dass er nur seine Eltern hatte. Wie viele andere schwule Kinder wurden von ihren Eltern verstoßen? Und doch war er oft eifersüchtig geworden, wenn er im Fernsehen eine große Familienfeier sah, besonders zu Thanksgiving und Weihnachten. Oder wenn solche Bilder in den Facebook-Accounts seiner Freunde auftauchten. Würde sich das jetzt ändern?
Es spielte keine Rolle, ob sie ihn schon so sehr hassten, wie Mr. Cabot behauptet hatte. Ben war neugierig geworden. Was hatte ihm seine Urgroßmutter hinterlassen? Wer waren diese Menschen, von denen er bis heute noch nie gehört hatte?
Es gab nur einen Weg, mehr darüber herauszufinden.
Er nickte Elias zu und riss vorsichtig den Umschlag auf. Es war ein ganz gewöhnlicher, weißer Umschlag ohne Siegel oder so. Das Logo der Rechtsanwaltskanzlei in London war in das Papier eingeprägt.
Der Umschlag enthielt einige Dokumente und einen Rückumschlag. Ben blätterte die Papiere durch, um herauszufinden, worum es ging. Aber die Worte schienen keinen Sinn zu machen. Der Juristenjargon war ihm zu fremd. Außerdem war die Schrift so unscharf, als wären die Papiere zehn oder zwanzig Mal kopiert worden. Ben biss sich auf die Lippen. Die Schrift verschwamm vor seinen Augen. Der Text hätte genauso gut in Elbisch geschrieben sein können.
Es war eine demütigende Erfahrung. Er hatte sich mit solchen Dingen noch nie befassen müssen und wusste nicht, was jetzt von ihm erwartet wurde. Studierte Menschen konnten mit diesen Hunderten von Formularen umgehen, aber Ben war vollkommen ratlos.
»Ich… ich weiß nicht…«, sagte er. Das Stammeln wurde langsam zu einer Tradition. »Es ist so… äh… ich kann nicht…«
Elias drückte ihn am Handgelenk. Ben schaute auf und sah ihn zu seiner Überraschung freundlich lächeln. Elias' Hand fühlte sich warm und beruhigend an, aber leider zog er sie gleich wieder weg, nachdem er Bens Aufmerksamkeit erregt hatte.
»Soll ich mir die Unterlagen ansehen?« Er fragte, ohne zu drängen.
Ben fühlte sich sofort besser und reichte ihm die Dokumente. Er brach ein Stück Plunder ab und beobachtete, wie Elias die Papiere überflog.
Die grünen Augen wurden größer. Und größer.
»Ben?«, sagte er langsam. Ben lief ein Kribbeln über die Haut, als Elias seinen Namen sagte. Vor allem aber wollte er endlich wissen, was in diesem Testament stand.
»Elias?«
Elias rieb sich kopfschüttelnd die Nase. Seine Augen waren immer noch tellergroß. »Verstehst du, was in diesen Papieren steht?«
»Nein, nicht ein einziges Wort«, antwortete Ben.
Elias leckte sich über die Lippen. »Hier steht, dass dir deine Urgroßmutter ihren gesamten Besitz vererbt hat. Das Anwesen der Familie, das Land und die Apfelmostproduktion, die sie schon seit einigen Jahrzehnten betreiben.«
Ben musste sich an dem kleinen Tisch festhalten, so schockiert war er. Er wünschte, er hätte keinen Kaffee getrunken, weil sein Magen zu rumoren anfing. »Was?«, flüsterte er. »D-das hört sich gewaltig an.«
Elias sah ihm in die Augen. »Wenn ich die britischen Pfund grob in Dollar umrechne, dann… Ben, du bist im Moment ungefähr fünfundsechzig Millionen Dollar wert.«
Ben starrte ihn an.
Und fing an zu lachen.
Er fiel vom Stuhl vor Lachen, schlug auf dem Holzfußboden auf und verlor das Bewusstsein.
Kapitel 2
Elias
Eines war sicher – so hatte sich Elias diesen Morgen nicht vorgestellt.
Er freute sich immer darauf, das Rise and Shine zu besuchen. Natürlich gab es dort auch köstliches Gebäck, aber vor allem konnte er diesen liebenswerten jungen Mann sehen. Er schien fast jeden Tag dort zu arbeiten und wenn das einmal nicht der Fall war oder er gerade einen anderen Kunden bediente, war Elias jedes Mal enttäuscht.
Auf dem Namensschild des jungen Mannes stand Ben. Elias vermied es, bei sich diesen Namen zu benutzen, weil es ihm irgendwie merkwürdig vorkam. Es war wie ein unfairer Vorteil, weil Ben keine Ahnung hatte, wie Elias hieß.
Aber jetzt war dieses Problem gelöst.
»Ben, kannst du mich hören?«, fragte er, der Panik nahe.
Als Ben umgekippt war – und das war nach der plötzlichen Mitteilung, er wäre ein potenzieller Millionär, nur verständlich –, hatte sich Elias sofort neben ihm auf den Boden gekniet und seine Ausbildung in Erster Hilfe angewandt. Glücklicherweise schien Ben nicht mit dem Kopf aufgeschlagen zu sein. Elias hatte ihn auf den Rücken gerollt und ihm die Beine hochgelegt. Jetzt kniete er mit einem Bein auf dem Boden und kam sich vor, als wollte er Ben einen Heiratsantrag machen.
Es war verrückt.
Ben blinzelte. »Was…?«
Elias seufzte erleichtert und nickte Lars, dem Besitzer der Bäckerei, zu, der unruhig neben ihnen stand. Die Kunden hatten sich ebenfalls um sie versammelt und beobachteten besorgt, was vor sich ging. Sie hatten heute schon Einiges geboten bekommen – erst den Auftritt von Mr. Cabot, dann Bens Ohnmachtsanfall.
»Immer mit der Ruhe«, sagte Elias, als Ben sich wieder aufrichten wollte. »Warte noch einen Moment, bis sich dein Kreislauf wieder stabilisiert hat. Du bist einfach umgefallen.«
Ben ließ sich von Elias sanft auf den Boden zurückdrücken. Elias konnte nicht verhindern, dass sein Körper auf den Kontakt reagierte. Es war ihm unheimlich, weil Ben mindestens zwanzig Jahre jünger war als er selbst und gerade mitten in einer Krise steckte. Jetzt war wirklich nicht der geeignete Zeitpunkt, um für einen so jungen Kerl zu schwärmen.
Aber die Botschaft drang nicht bis zu seinem Schwanz durch.
»Ich komme mir so lächerlich vor«, murmelte Ben, faltete die Hände auf dem Bauch und schaute sich um.
Elias grinste. »Du siehst auch lächerlich aus, also ist das verständlich.«
Ben stöhnte. »Arschloch«, sagte er und grinste ebenfalls.
Flirteten sie etwa? Uff. Elias musste sich zusammenreißen. Sie durften nicht flirten. Ben war viel zu jung. Nur weil er so erwachsen wirkte, hieß das noch lange nicht, dass Elias seinen Fantasien einfach so nachgeben durfte.
Elias war vor einigen Jahren nach Pine Cove zurückgekehrt, weil das Großstadtleben seinen Reiz verloren hatte. Er war schon immer ein Stammkunde der Bäckerei gewesen und als vor anderthalb Jahren der wunderschöne junge Mann mit seinen honigblonden Locken und den braunen Augen angefangen