Bright Horizon. H.J. Welch

Bright Horizon - H.J. Welch


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Ben schaute immer wieder auf sein Handy, aber es war keine neue Nachricht eingetroffen – von den Testnachrichten abgesehen, die sie sich heute Früh geschickt hatten.

      Ben hatte noch nie so freimütig mit einem nahezu Fremden gesprochen wie mit Elias. Vielleicht auch deshalb, weil Elias schon älter war und genau der Mensch, der Ben hoffte, eines Tages werden zu können. Ein Mensch, der sich seiner selbst sicher war und wusste, was er tat. Deshalb konnte Ben ihm vertrauen, ohne ihn allzu gut zu kennen. Die Zweifel hatten sich erst wieder gemeldet, nachdem sie sich heute Früh getrennt hatten. War er zu gutgläubig? Es fühlte sich nicht so an, aber das mochte auch an seiner mangelnden Lebenserfahrung liegen.

      Er musste mit jemandem reden, der schon etwas – wenn nicht sogar sehr viel – mehr Erfahrung in solchen Dingen hatte als er selbst.

      Ben hatte Freunde – Mitarbeiter aus der Bäckerei, ehemalige Schulkameraden und sogar einige Online-Bekanntschaften, mit denen er sehr offen diskutierte, weil er sich durch die Anonymität des Internets sicher fühlte. Manchmal war es einfacher, seine Gedanken mit Menschen auszutauschen, die man nicht persönlich kannte und deren Gesichter man noch nie gesehen hatte.

      Doch er traute sich nicht, diese Geschichte übers Internet mit Unbekannten zu teilen. Es war zu gefährlich. Als er am Nachmittag ruhelos die Bäckerei verließ, kam es ihm vor, als müsste er nur die Augen aufmachen, um eine Antwort zu finden. Wer würde ihm diese verrückte Geschichte glauben? Wer würde ihm glauben, dass eine verrückte alte Dame ihm ihr Vermögen hinterlassen hatte, dass irgendein mysteriöses Familiendrama dahinterstecken musste und er jetzt mit dem Gedanken spielte, mit einem älteren Mann um die Welt zu fliegen, in den er verschossen war und der ihm helfen wollte, sein Erbe zu sichern und…

      Oh. Natürlich.

      Es gab in der ganzen Stadt einen Menschen – einen einzigen –, dessen Leben noch verrückter war.

      Ben hoffte nur, dass sich dieser Mensch in der Stadt aufhielt und nicht zum Schnorcheln auf den Seychellen war oder irgendwo in der Antarktis ein Musikvideo drehte.

      »Liebling!«, rief Emery Klein nach dem dritten Klingeln des Handys. »Ich lasse meinem Igel gerade die Krallen maniküren. Wie geht es dir?«

      Nein, es war überhaupt nicht verrückt. Keinesfalls.

      Ben saß auf einer der Bänke am See. Das Wasser reflektierte die letzten Sonnenstrahlen. Ein eiskalter Wind wühlte die Wasseroberfläche auf und drang Ben durch die dicke Jacke bis auf die Knochen. Zitternd holte er Luft und kniff die Augen zusammen. »Ich bin gerade Millionär geworden und überlege, ob ich mit einem fremden Mann nach London fliegen soll.«

      Emery kreischte so laut, dass Ben das Handy vom Ohr zog. »Oh em gee! Das ist unglaublich! Ich will sofort alles wissen. Nein! Warte! Wie schnell kannst du im Aquarium sein? Sie trinkt einen Pornostar Martini und etwas Buntes zum Nachspülen. Irgendwas, was man anzünden kann. Wir sehen uns in einer halben Stunde. Küsschen!«

      Ben konnte nicht behaupten, dass der überschwängliche Influencer sein bester Freund wäre, aber sie hatten sich im Laufe der letzten beiden Jahre gut kennengelernt. Sie sahen sich bei den Ehemaligen-Treffen der LGBT-Gruppe ihrer Oberschule, besuchten gemeinsam Veranstaltungen und trafen sich gelegentlich auch privat. Einmal hatte Emery Freitickets für irgendeine Promo-Veranstaltung verteilt und Ben zu seinen einundzwanzigsten Geburtstag nach Las Vegas eingeladen. Solche Erlebnisse schweißten zusammen.

      Hätte Elias nicht schon angeboten, ihn nach London zu begleiten, wäre Emery vielleicht der richtige Mann gewesen, Ben zur Seite zu stehen. Emery reiste viel und hatte genug Geld. Nicht gerade Millionen, aber genug, um Ben nie selbst bezahlen zu lassen, wenn sie ins Kino oder eine Bar gingen. Er wäre vermutlich sofort mit ihm nach London geflogen, um Bens entfremdete Familie kennenzulernen.

      Aber er war nicht Elias.

      Weil Elias Anwalt war. Nur deshalb.

      Wenn Emery von einer halben Stunde sprach, meinte er gewöhnlich anderthalb Stunden. Ben hatte also noch Zeit, nach Hause zu gehen – er lebte noch bei seinen Eltern –, eine Dusche zu nehmen, sich umzuziehen und dann mit einem Uber ins Aquarium, der einzigen Schwulenbar in Pine Cove, zu fahren. Seine Eltern interessierten sich nicht für sein Kommen und Gehen und falls sie ihn fragten, wie sein Tag gewesen wäre, konnte er sie mit einem einfachen Gut abwimmeln. Alles andere konnte er ihnen später erklären, wenn er es selbst richtig begriffen hatte.

      Das Aquarium war zwar die einzige Schwulenbar Pine Coves, aber eine zweite hatte die Stadt auch nicht nötig. Einrichtung und Musik waren prima und alle waren willkommen, egal, welchem Teil der Gemeinschaft sie sich zurechneten. Nicht so wie in anderen Städten, in denen es Bars gab, die nur für schwule Männer gedacht waren. Im Aquarium gab es Abende, an denen wurde Countrymusik gespielt, an anderen Rockmusik. Und es gab sogar alkoholfreie Abende. Es gab Drag-Shows und Poesielesungen, manchmal sogar Tarot- oder Malkurse.

      Eine Bar wie das Aquarium war eine große Hilfe, wenn man als junger schwuler Mann in einer Kleinstadt aufwuchs und lebte. Es war nicht einfach, sich so sehr von seinen Mitmenschen zu unterscheiden, und wenn man wusste, dass es einen Ort gab, an dem man Menschen treffen konnte, die genauso waren, fühlte man sich nicht so allein. Dazu gab es in Pine Cove noch das Sunny Side Up, das von einem schwulen Paar geführt wurde. Ben hatte zwar immer gewusst, dass er anders war, aber er hatte sich nie ausgeschlossen gefühlt.

      Es war also der perfekte Ort für diesen Moment der Verwirrung, und das nicht nur wegen der hervorragenden Cocktails. Die glitzernden, blauen Tapeten und die Unterwasserdekoration, die dem Aquarium seinen Namen gab, wirkten beruhigend auf Bens Nerven.

      Was immer ihn auch bedrückte, er konnte es schaffen.

      Um einen seiner Lieblingsautoren – Shakespeare – zu zitieren: Ben mochte klein sein, aber er war wild.

      Er scrollte durch Facebook und nippte an einem der beiden Pornostar Martinis, während er in seiner Nische darauf wartete, dass Emery in einer Glitzerwolke auftauchte. Es schien nichts Ungewöhnliches passiert zu sein. Für seine Freunde war heute ein Tag wie jeder andere auch.

      Er musste lachen, als er überlegte, wie er seinen eigenen Tag in wenigen Worten zusammenfassen könnte. Wenn er schrieb, er wäre seit heute eine Art englischer Aristokrat, würde ihm das kein Mensch abnehmen.

      Er konnte es ja selbst noch nicht glauben.

      »Die wesentliche Frage ist doch…«, sagte Emery, der plötzlich neben ihm auftauchte, »…ob sich das wirklich anzünden lässt oder nicht.«

      Er ließ sich gegenüber von Ben auf die Bank fallen und zeigte auf die beiden Gläser mit der neongrünen Flüssigkeit, die zwischen ihnen auf dem Tisch standen. Ben hatte strenge Instruktionen, was er mit den Drinks tun durfte und was nicht, wenn er sich jemals wieder hier blicken lassen wollte.

      Aber er machte sich darüber keine Sorgen. Emery wusste schon, was er tat.

      Bens farbenprächtiger Freund trug kniehohe, schwarze Stiefel zu Shorts aus Jeansstoff, die nicht mehr waren als eine Unterhose. Ergänzt wurde das Ensemble durch eine luftige Folklore-Bluse. Bei jedem anderen hätte sich Ben underdressed gefühlt, aber Emery war eine Ausnahme. Emery fand, jeder Mensch müsste er selbst sein, egal wie. Und für Ben bedeutete das eine einfache Jeans mit einem T-Shirt. Er hatte es bisher noch nicht geschafft, sich eine erwachsenere Garderobe zuzulegen.

      Andererseits trug er unter seinen Jeans einen Jockstrap, was aber niemand wissen musste. Ben fühlte sich also durchaus angemessen gekleidet.

      Er seufzte erleichtert und schob Emery einen der Drinks zu. »Der Barkeeper meinte, es wäre Absinth, also auf jeden Fall anzündbar.«

      Emery fasste sich japsend an die Brust. Sein Lidschatten glitzerte im Licht der Discokugel. »Absinth? An einem ganz normalen Wochentag?« Er lachte und man hätte sein Lachen fast als manisch bezeichnen können. »Deshalb liebe ich dich so, mein Hübscher. Schau nur! Mama hat ein Feuerzeug mitgebracht!«

      Ben war nicht sicher, ob es eine gute Idee war, aber nach diesem Tag brauchte er etwas, um seine Hirnzellen wieder aus ihrer Erstarrung zu lösen. Außerdem musste er morgen nicht arbeiten und konnte deshalb ausschlafen.


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