Glückliches Ende. Isaac Rosa
dir musste ich in die Augen schauen und diese Worte aussprechen. Ich weiß nicht, ob du es gemerkt hast, aber in diesen Tagen habe ich dich ständig angesehen. Wenn du schliefst, bevor ich das Licht ausmachte. Tagsüber, unbemerkt, wenn du mit den Mädchen beschäftigt warst, abends, wenn du das Notebook auf den Knien hattest. Ich sah dich betont beiläufig an, studierte dich aufmerksam, während in meinem Kopf immer wieder diese Verse nachhallten: »Es wird nicht mehr sein / nicht mehr / wir werden nicht mehr miteinander leben, ich werde nicht dein Kind aufziehen.« Ich hatte dich schon eine ganze Weile beobachtet, sogar schon bevor ich Inés wiedertraf. Es hat mich erstaunt, dich zu sehen, dich wiederzuerkennen, aber auch zu entdecken. An deinem Körper das Verrinnen der Zeit festzustellen. Der Zeit, die wir zusammen verbracht hatten. Du wirst mir das sicher nicht glauben, ich weiß, aber das ist das Wort: Staunen. Das Staunen, festzustellen, wie anders du warst als die Ángela, die ich vor dreizehn Jahren kennengelernt hatte. Nach und nach entdeckte ich die Unterschiede, jedes Detail, wie, ja, wie eine Lebensspur. Die Schädelknochen, die nun ein schmaleres Gesicht einfassten. Die Augen tief in den Höhlen. Die Vene, die deine Stirn schon immer senkrecht geteilt hat und die mit zunehmender Hagerkeit deutlicher geworden ist. Die violetten Lider, die Lachfalte in jedem Augenwinkel, die kleine Warze auf dem Lid, über die ich so oft mit der Zungenspitze gefahren bin. Die schmaleren, blassen Lippen. Die ehemals geraden Zähne, unten hat sich ein Zahn im Laufe der Jahre mit geologischer Langsamkeit gedreht. Die Haut, die ich, wenn du schliefst, mit der Aufmerksamkeit eines Dermatologen untersuchte: leicht orangefarben, ohne das Weiß der Jugend, die Strafe für ein Jahrzehnt Sonne. Der zarte goldene Flaum. »Ich werde dich nachts nicht haben / ich werde dich zum Abschied nicht küssen, du wirst nie wissen, wer ich war.« Die Hände. Ich weiß nicht, ob du dich daran erinnerst, aber in jenen Tagen habe ich gern deine Hand genommen, sie betrachtet und berührt, was du vielleicht für Zärtlichkeit gehalten hast. Ich würde deine Hände unter einer Million Händen wiedererkennen, ich kenne die Form deiner Knöchel, Sehnen, Adern, Nägel, Handlinien. Und dann dein Körper. Wenn du doch noch mal vor mir die Kleider ablegtest, um dich rasch umzuziehen, oder wenn du aus der Dusche kamst, der flüchtige Augenblick, in dem ich deine Brüste sah, so klein wie eh und je, und doch haben sie zwei Töchter jahrelang genährt. Das nicht mehr ganz straffe Fleisch an den Armen, der leicht geblähte Bauch, die Hüften, denen man die zwei Geburten ansieht, die weißlichen, weichen Pobacken, die Krampfadern, die sich deine Schenkel entlangschlängeln, deine inzwischen schon etwas krummen Zehen, die ich, als wir uns kennenlernten, immer so bewundert hatte: Du hast junge Füße, habe ich gesagt, die Füße einer Gräfin. »Ich werde nicht erfahren, weshalb oder wie, nie / noch ob wirklich das war / was du sagtest, dass war / noch wer du warst / noch was ich für dich war.« Jedes Körperteil für sich zeigte mir diese Spur der Zeit, zeigte, wie wir uns abnutzen. Ich merke gerade, dass es für dich vielleicht nach Verfall klingt, nach etwas Hässlichem oder gar einem Ausdruck von Missfallen, wenn ich das so Stück für Stück, Zentimeter für Zentimeter und vielleicht zu detailliert aufzähle wie bei einer Autopsie, aber das ist es nicht, im Gegenteil: Diese genaue Beobachtung war ein Ausdruck von Bewunderung. Von Schönheit. Und wenn ich dann die Perspektive erweiterte und dich ganz betrachtete, war die Gesamtheit all dieser Fragmente das strahlende Bild von allem, was ich jahrelang an dir geliebt hatte. Es machte mich glücklich, all diese Zeichen unseres gemeinsamen Lebens zu registrieren, es war etwas Schönes, das mich rührte, mich sogar stolz machte, das oftmals Begehren in mir auslöste, aber es machte mich auch traurig, weil du und ich nicht mehr zusammen alt werden würden. »Du bist nicht mehr / an einem künftigen Tag / ich werde nicht wissen, wo du lebst / mit wem / noch ob du dich erinnerst.« Während ich dich betrachtete, wurde mir bewusst, dass ich bald nicht mehr der Notar deines Alterns sein würde, und dieser Ausdruck entlockt dir hoffentlich ein Lächeln. Ich würde nicht mehr derjenige sein, der tagtäglich feststellt, wie die Zeit vergeht, der sieht, wie ein weiteres Jahrzehnt deine Haut dünner macht, sodass die Knochen immer mehr durchscheinen, wie ein weiteres Jahrzehnt deine Haare ergrauen lässt, deine Hände sprenkelt und dein Fleisch schlaffer macht, und dieser Verschleiß würde sich fortsetzen bis ans Ende deiner Tage, würde Wirbel platt machen und Zähne zerbröckeln, dieser ganze grandiose Verfall, den ich mit dir teilen und erleben und aufschreiben wollte, dessen Schönheit mich in jeder Phase überraschen sollte, das neu aufkeimende Begehren, die unerwartete Erfahrung, einen gealterten Körper als erregend zu empfinden, der mir Jahre zuvor in seiner Nacktheit und Rauheit, mit seinem Geruch zuwider gewesen wäre, den ich nun aber würde streicheln, riechen, beißen wollen. Weil wir zusammen alt geworden wären. »Ich werde dich nicht wieder berühren. / Ich werde dich nicht sterben sehen.«
Wie rührend. Und was soll ich jetzt sagen? Muss ich mich bei dir bedanken, weil du schweigend meiner Schlaffheit und meinem faszinierenden goldenen Flaum gehuldigt, weil du sentimentale Gedichtchen vorgetragen hast, anstatt mit mir zu reden und zu sagen, dass es dir nicht gut geht, dass du dich in eine andere verliebt hast, und zu schauen, ob wir noch eine Lösung finden? Toll gemacht, wirklich. Notar meiner, wie war das noch mal, Notar meines Alterns? Nein, das fand ich überhaupt nicht witzig. Dieselben Liebesworte, die in einem bestimmten Augenblick rühren können, wirken für sich genommen, also außerhalb ihres emotionalen Zusammenhangs, einfach nur lächerlich. Deine Beschreibung meiner »Lebensspuren« ist eben das: lächerlich. Und nein, ich könnte deine Hände nicht unter einer Million Hände wiedererkennen. Ich habe deine gerichtsmedizinische Analyse nicht durch eine eigene erwidert. Mit Lebensspuren habe ich nichts am Hut, Notarin deines Verfalls will ich auch nicht sein. Und dass die Zeit verrinnt, beunruhigt mich nicht sonderlich. Denn wenn du mich in diesen Tagen so oft angesehen hast, dann nicht vor Erstaunen, Stolz oder Begehren. Nicht einmal, weil du an deiner Entscheidung gezweifelt hättest: Du hast mich einfach als Spiegel benutzt. Als einen Kalender. Schon seit Jahren war das Verrinnen der Zeit bei dir ein Dauerthema. Mit den Mädchen machtest du Witze über ihren alten Papa und die verlorene Jugend und die sportlichen Glanzleistungen, die wir bei einem über Vierzigjährigen doch bitte sehr bewundern sollten. Wieder und wieder kamst du darauf zurück, und nicht mehr nur im Spaß: Du hättest diesen Freund nach Jahren wiedergetroffen, der sei jetzt das reinste Wrack; gerade seien die Mädchen noch Babys gewesen, die du auf dem Arm tragen konntest, ihre Köpfchen hätten in deine Hand gepasst, und schau, wie groß sie jetzt sind; die Wohnung mit ihren gesammelten Abnutzungserscheinungen, den Mängeln und dem Schmutz, worüber du laufend Buch führtest; die Stadt, in der kaum noch eine der Bars von früher blieb. Wenn du mal vergessen hattest, den Browserverlauf zu löschen, entdeckte ich darin nicht etwa Immobilienseiten, sondern Tutorials zur Stärkung des Bizeps und Reduzierung des Bauchumfangs, hypochondrische Suchen zu urologischen Sachverhalten, nostalgische Videoclips und Pornoseiten, jede Menge Pornoseiten, immer mit blutjungen Lesben. Deine Playlist stammte ausnahmslos aus dem letzten Jahrhundert. In Sachen Film kreisten deine Vorlieben obsessiv um dasselbe Thema: Wiederbegegnungen von Freunden, die in einer gewaltigen Katharsis enden, Kinder, die ihre Eltern zu Grabe tragen, Todkranke bei ihrem Abschied von der Welt, Paare in der Krise, zurückgewonnene Jugendlieben, ein Junge, der während der zwölf Jahre dauernden Dreharbeiten immer größer wird, oder dieser nervige Streifen von Malick, den du dir gleich zweimal angeschaut hast. Im letzten Sommer, unterm Sonnenschirm an einem überfüllten Strand, sahst du mich, nachdem du eine Zeit lang einer Gruppe Dreißigjähriger zugesehen und zugehört hattest, die in ihrer lärmenden Ausgelassenheit wie aus einer Fernsehkomödie entlaufen wirkten, mit einem Ausdruck an, den ich für ironisch hielt, doch anstatt, wie ich es erwartet hatte, über ihre Unreife herzuziehen, fragtest du mich ganz ernst, mehr, um dich selbst zu hören als in Erwartung einer Antwort: Musst du auch manchmal daran denken, dass wir nie wieder dreißig sein werden? Und noch schlimmer, nach dem letzten Weihnachtsessen mit der Familie: Auf der Rückfahrt nach Hause, die Mädchen schlafend auf dem Rücksitz, du und ich hundemüde und mit diesem brennenden Unbehagen, das jedes Familientreffen bei uns hinterließ, brachst du ein langes Schweigen auf nächtlichen Straßen, um einen wenig weih nachtlichen Gedanken zu teilen: Wir kommen allmählich in das Alter, in dem uns die Eltern wegsterben. Du mit deinen Lebensspuren. Ich will nicht sagen, dass das alles nur eine klassische Midlife-Crisis ist, der über Vierzigjährige, den es schwindelt, wenn er auf einmal spürt, wie die Zeit verrinnt, der wehmütig auf das blickt, was er nicht erreicht hat, und nach der verlorenen Jugend sucht, indem er sich die junge Inés anlacht, und dann hebt er den Blick vom PC und sieht seine reife Ehefrau und staunt über ihre weißlichen Pobacken und ihre schlaffen Arme. Ja, ja, da ist noch mehr, allzu simple Erklärungen bringen uns nicht weiter, deshalb graben wir ja in