Glückliches Ende. Isaac Rosa

Glückliches Ende - Isaac Rosa


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keine Sorge, ich gehe jetzt nicht zum Gegenangriff über, mit einer Ode auf dein verhärtetes Gesicht, deine Geheimratsecken oder deine Zähne, die lang geworden sind durch den Zahnfleischschwund. Wenn ich dich ansah, spürte ich weder Staunen noch Stolz, sondern Befremden. Das Befremden darüber, dich nicht zu kennen, dich nicht wiederzuerkennen. Und mich auch nicht. Je länger ich mit dir zusammen bin, desto weniger kenne ich dich. Der Satz stammt von dir, du hast ihn vor Jahren zu mir gesagt, als wir zu Hause mal wieder Streit hatten. Und du hattest recht: Dieses Gefühl, wir würden einander immer weniger kennen, uns immer fremder werden seit einem Anfangsmoment der völligen Verschmelzung. Und wenn wir uns erst getrennt haben, wird die Fremdheit noch weiter zunehmen, wir werden uns voneinander entfernen, bis irgendwann unsere Töchter uns bei einem Familientreffen anschauen und sich überrascht dasselbe fragen wie wir, wenn wir deine oder meine Eltern sehen nach all den Jahren der Trennung: Wie kann es sein, dass diese so andersartigen Wesen sich einmal ineinander verliebt und eine gemeinsame Zukunft gewünscht haben? Sooft wir uns das bei unseren Eltern fragten, landeten wir bei der Frage nach Henne oder Ei: Sind sie so unterschiedlich, so inkompatibel geworden, weil sie sich früh getrennt haben und jeder seinen eigenen Weg gegangen ist, oder lag es an dieser schon immer vorhandenen Unterschiedlichkeit, dass sie einander fremd wurden und sich schließlich trennten? Standen wir selbst uns wirklich mal so nah, oder ist das eine Idealisierung post mortem, der klassische Abschiedsschmerz nach einer Trennung? Im Park haben wir gerne die alten Leute beobachtet, Paare, die spazieren gingen, als machten sie das seit einem halben Jahrhundert: Sie an seinem Arm, ein Schweigen, das stilles Einvernehmen und Verbundenheit ausdrücken konnte oder auch Gleichgültigkeit und Erschöpfung. Wir vergnügten uns damit, körperliche Ähnlichkeiten festzustellen, die äußerliche Anpassung, nachdem man jahrzehntelang im selben Bett geschlafen hat, allgemein sagt man ja, dass Paare dazu neigen, sich anzugleichen, so wie das auch von Hunden und ihren Besitzern behauptet wird, Psychologen im Radio erklären es aus einem Zusammenspiel von selektiver Partnerwahl, Affinität und Gewohnheit. In unserer Anfangszeit wurden wir gelegentlich für Geschwister gehalten. Wir machten darüber Witze, wenn wir aus dem Haus gingen und uns im Aufzugspiegel sahen, gekleidet in denselben Farben, die Brillen so ähnlich, dass wir sie auf dem Nachttisch verwechselten, beide gleich schlank und häufig sogar mit einer ähnlichen Frisur. Ganz zu schweigen von dem Buch mit den zwei Lesezeichen, wenn wir es nicht gar zur selben Zeit lasen, nebeneinander auf dem Sofa, von unserem militärischen Gleichschritt und davon, dass wir die Wünsche des anderen vorausahnten oder uns kraft unserer geistigen Verbindung dieselbe Nachricht schickten. Das alles vermisse ich manchmal, und dann wieder finde ich es erstickend, eine Fehleinschätzung, ein allzu schnelles Verbrennen.

      In diesen Tagen, als ich dich beobachtete und an meinem Entschluss zweifelte, habe ich gerechnet, denn das machen Menschen, die sich eine Trennung wünschen und sie gleichzeitig fürchten, ganz obsessiv: Sie stellen Rechnungen auf, immer wieder dieselbe Rechnung, auf den Rändern von Heften, auf Schmierpapier, der Serviette im Café, der Tafel ihrer Töchter, im geöffneten Dokument am Computer, auf dem Taschenrechner des Handys; stets dieselbe Rechnung, ich kannte sie schon auswendig, trotzdem schrieb ich sie immer wieder um und rechnete neu, als könnte ich durch meine Hartnäckigkeit die Mathematik bezwingen: Ich addierte die Miete, den allerniedrigsten Betrag, der zwar nie so in der Anzeige stand, den ich aber auszuhandeln beabsichtigte, Nebenkosten für einen Alleinstehenden, den Unterhalt für Germán, auf den ich dessen Mutter in meiner rechnerischen Illusion gern herunterhandeln wollte, und die Kosten für Lebensmittel, angepasst an ein Existenzminimum; in einer zweiten Rechnung bezog ich meine Außenstände mit ein und wagte eine maßlos optimistische Prognose hinsichtlich zukünftiger Aufträge, verrechnete meinen Anteil an unseren restlichen Ersparnissen mit den nächsten Monaten, überschätzte den Gewinn aus einem etwaigen Verkauf des Landhauses und träumte sogar davon, dass mein bankrotter Vater uns das Geld zurückzahlte, das wir ihm geliehen hatten. Auf dem Höhepunkt meines verzweifelten Optimismus bezog ich manchmal sogar die unwahrscheinliche Zahlung eines Honorars mit ein, das mir die Zeitung seit der Schließung schuldete. Und da die Rechnung dennoch nur für ein Jahr aufging oder für eineinhalb, wenn ich den Gürtel ganz eng schnallte, fügte ich dem Schlusssaldo noch einen Vorschuss hinzu, den ich einem Verlag für ein schnell zu schreibendes und hochaktuelles Buch aus den Rippen leiern wollte, dessen Thema ich bereits hatte, nämlich, du wirst lachen: Die geschiedenen Väter unserer Generation. Ich habe dir mal davon erzählt, halb im Scherz, es ging von meiner eigenen Trennungsgeschichte mit Germáns Mutter aus: Man müsste ein Buch über die Scheidungserfahrung von Vätern in meinem Alter schreiben, also ein Buch ganz speziell für diese Männer. In diesen Wochen machte ich mir Notizen zu dem Buchprojekt, das mal journalistisch, mal sozialkritisch, mal eine frivole Sittenkomödie war, mal Fiktion, mal Autofiktion, mal alles zusammen. Ein Buch, das eine Marktlücke schließen würde, so viele Väter, die sich jung scheiden lassen, und alle haben wir dasselbe Repertoire an Ängsten, Klagen, Ärgernissen, Schuldgefühlen, Freuden, Anekdoten und Engpässen. In den Cafés, an den Nachmittagen, an denen wir als Väter in Erscheinung treten, werfen wir uns solidarische Blicke zu, wir leben in derselben finanziellen Notlage und derselben Unsicherheit, haben in Sachen Emotionen und Rechtsstreitigkeiten ähnliche Erfahrungen gemacht, jedes Mal, wenn wir bei einem Kindergeburtstag zusammenkommen, äußern wir leise die gleiche Kritik an unseren Ex-Frauen. Wenn ich besonders mutlos war und meine Rechnung nicht aufging, wurde das Buch düsterer: eine Reflexion darüber, dass die Scheidung für einen Teil unserer Generation in einer Katastrophe endet. Ich schrieb sogar einen Artikel zu dem Thema, eine Reportage, mit der ich die Leser testen und das Interesse der Verlage wecken wollte, es ging darum, dass eine Trennung mit Kindern heute für viele Menschen unweigerlich den sozialen Abstieg bedeutet. Wir, die wir in dem Glauben groß geworden sind, eine Scheidung sei kein Drama mehr, sondern lediglich eine weitere Etappe in unserem Leben, sogar erstrebenswert, verdient, ein Freiheitsversprechen im Erwachsenenalter, Sprungbrett für ein neues, genussvolles Leben als Junggeselle, nach den Freuden einer Ehe, die vor allem dann freudvoll ist, wenn man sie vor ihrem Niedergang beenden kann. Die Reportage war ein ziemlicher Erfolg, der meistgelesene Text des Tages, mit Hunderten von Kommentaren, viel beachtet in den sozialen Netzwerken, eine Menge Leute brachten ihre eigenen Erfahrungen ein und klagten über diese Scheißscheidungen, die wir uns leisten können: Väter in winzigen Wohnungen, für die sie sich vor ihren Kindern schämen, oder die zu ihren Eltern in ihre einstigen Jugendzimmer zurückgekehrt sind oder die eine Wohnung mit anderen Vierzigjährigen teilen, ganz zu schweigen von denen, die gänzlich in die Bedürftigkeit abgerutscht sind, Geschiedene, die auf einem Campingplatz leben! Diese Männer und auch Frauen, alleinerziehende Mütter in winzigsten Wohnungen, in Panik, wenn der Unterhalt des Vaters zu spät eingeht, erbitterte gerichtliche Auseinandersetzungen um ein paar Euro mehr. Wir dachten, eine Scheidung in dieser Lebensphase wäre die Eintrittskarte in den begehrten Klub reifer Männer und Frauen, die wieder da sind und, emotional gepanzert und sexuell befreit, ihre zweite Lebenshälfte genießen wollen, mit großen Kindern und einer Zukunft auf dem richtigen Gleis, wofür wir natürlich die finanzielle Grundlage hätten, kein Vermögen, aber ausreichend. Doch irgendwas ist schiefgelaufen, verdammt noch mal, da stehen wir nun, schau uns doch an, wir haben nichts gemein mit den geschiedenen Helden aus diesen schönfärberischen Fiktionen, sind nicht der attraktive Vater, der eine Wohnung mit einem Zimmer für jedes Kind hat, in die er seine Wochenendbekanntschaften mitnimmt, mit denen er prickelnde Affären hat, und der im Sommer mit seinen Kindern im Wohnmobil durch Europa reist. Die einzige Möglichkeit, sich über Wasser zu halten, ist für viele eine neue Beziehung, in der man die Kosten mit der neuen Partnerin teilt, und so harren sie aus und wagen erst den Absprung, wenn eine andere Liane gefunden ist, an die man sich klammern kann. In meinen schlaflosen Nächten als mittelloser Scheidungsanwärter malte ich mir aus, dass Tausende dieser vierzigjährigen Trennungsväter, Zehntausende, Hunderttausende, dass sie alle sofort losstürmen und dieses Buch kaufen würden, in dem es um sie ging, in dem sie sich verstanden fühlten und anerkannt; und das würde rasch ein sensationeller Verkaufserfolg werden und ein gesellschaftlicher gleich dazu: Scheidungsgeneration Golf!, welcher Verlag würde einen solchen Vorschlag ablehnen, irgendein Fernsehproduzent würde darin den Stoff für eine Serie erkennen, eine Sittenkomödie mit sozialkritischem Touch, verarmte Väter in Wohngemeinschaften, eingeblendete Lacher, sag nicht, es hätte nicht was Poetisches, wenn ich mir meine Trennung mit einem Buch über die Schwierigkeiten von Trennungen finanzieren würde. In diesen Tagen, an denen ich Inés über Telefonate, Mails und heimliche Spaziergänge immer näher kam, in diesen


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