Glückliches Ende. Isaac Rosa

Glückliches Ende - Isaac Rosa


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ausgestatteter Schulen, überfüllter Krankenhäuser, einer verarmten Arbeiterschicht und kaputter Familien, die Kinder werden von morgens bis abends in der Schule abgestellt, und dann diese ganze Liebe, die keine freie Liebe ist, sondern eine liberalisierte Liebe, leckt mich doch alle mit eurer Scheißfreiheit! Am Ende hast du laut gebrüllt, der ganze Saal hat zugehört, die umliegenden Tische schon seit du lauter geworden warst. Unsere Freunde schwiegen unbehaglich, sogar Fabio. Du bist aufgestanden und leichten Schrittes verschwunden, und als ich dich suchte, fand ich dich nirgends. Ich suchte an dem Teich vor dem Restaurant, war mir sicher, dass ich dich dort am Ufer sitzend finden würde, die verweinten Augen aufs Wasser gerichtet, was man nach so einem bühnenreifen Abgang eben erwartet, aber da warst du nicht, und dann war ich es, der die melancholische Pose am Ufer einnahm, bis mir eisig kalt wurde. Als ich in den Saal zurückkam, wo inzwischen Musik spielte, warst du wieder da: Du tanztest mit den anderen, mitten auf der Tanzfläche, warst Teil der Choreografie, du lachtest, und das zuckende Licht und der Alkohol in meinem Blut brachten dich irgendwie zum Flackern, verlangsamt, verschoben, eine Abfolge lächelnder Ángelas, mit offenen Augen, mit geschlossenen Augen, mit gespitzten Lippen, mitsummend, dir auf die Unterlippe beißend, mit herausgestreckter Zunge, mit eingefrorenem Lachen.

      Kurz vor der Diskussion hattest du es mir mitgeteilt. Unsere Gruppe von elf Freunden hatte sich nach dem Aperitif am Teich gerade zum Abendessen gesetzt. Wir redeten über alles Mögliche: über Kinder, Fernsehserien, Abschiede, Eltern mit Metastasen, die Lage in Katalonien, darüber, was wir seit unserem letzten Treffen gemacht hatten, was es Neues gab bei Natalia und Jaime, die sich gerade getrennt hatten. Ich beteiligte mich an den Gesprächen, du bliebst still, sahst aber zu, mit der intensiven Aufmerksamkeit des Geistesabwesenden. Da nahmst du unter dem Tisch meine Hand, ich hielt es zuerst für eine zärtliche Geste. Dann merkte ich, dass dein Finger Buchstaben auf meine Handfläche malte, und stell dir vor, in welch glückseliger Ahnungslosigkeit ich lebte, ich war ganz erfreut: Du hattest mir schon ewig keine solchen Botschaften geschickt, in unserem alten Hand-Morsecode. Ich habe dich angelächelt, als ich das Kitzeln deiner Fingerkuppe spürte, und dann den Kopf abgewandt, damit es so aussah, als folgte ich weiter dem Tischgespräch. Mir fiel nicht schwer, die Buchstaben zu erkennen, die Striche, die dein Fingernagel auf meiner Handfläche zog: I, C, H, dann ein waagrechter Balken als Leerzeichen. W, I, L, L. Balken. D – »dich«?, dachte ich. Aber es ging weiter mit A, S, S und noch einem Balken, dann kam ein W, I, R, Balken. Da konnte ich noch annehmen, dass du müde wärst, gelangweilt, ich sah schon die ganze Hochzeitsfeier über, dass du keine Lust hattest, also erriet ich: ICH WILL DASS WIR GEHEN, was du vor unseren Freunden nicht einmal zu flüstern gewagt hättest, lieber sollte ich die Spielverderberin sein und unseren Aufbruch bekannt geben. Da schriebst du weiter: U, N, S, Balken, T, R, E, N, N, E, N. Und ein Klopfen mit dem Zeigefinger: Punkt. Meine Hand verkrampfte sich derart, dass es mir durch den Arm bis in den Nacken schoss. Ich sah dich an, setzte eine fassungslose Miene auf, aber du wandtest dich mit irgendeiner Frage an Fabio, ohne auf meine wortlose Bitte um eine Erklärung einzugehen. Okay, dachte ich, nahm deine Hand und ließ mich auf dein Spiel ein, kratzte Buchstaben für Buchstaben auf deine Tafel, hastig: W, A, S, Leerzeichen, S, O, L, L, Leerzeichen, D, A, S, dahinter ein rasch hingekritzeltes Fragezeichen. Ohne mich anzusehen, antwortetest du auf demselben Weg, und einige Minuten lang setzten wir das Gespräch unter dem Tisch fort, die Handflächen gerötet. Du: I, C, H, Leerzeichen, K, A, N, N, Leerzeichen, N, I, C, H, T, Leerzeichen, M, E, H, R. Ich: I, C, H, Leerzeichen, V, E, R, S, T, E, H, E, Leerzeichen, D, I, C, H, Leerzeichen, N, I, C, H, T. Du: I, C, H, Leerzeichen, B, I, N, Leerzeichen, A, M, Leerzeichen, E, N, D, E, Leerzeichen, W, I, R, Leerzeichen, S, I, N, D, Leerzeichen, A, M, Leerzeichen, E, N, D, E. Ich schrieb inzwischen überhastet, ließ Leerzeichen und Buchstaben aus: W, A, S, ?, I, C, H, D, A, C, H, T, D, I, R, G, I, N, G, E, S, G, U, T. Du hingegen seelenruhig und ganz sauber, um Missverständnisse zu vermeiden: W, I, R, Leerzeichen, S, I, N, D, Leerzeichen, L, Ä, N, G, S, T, Leerzeichen, I, N, Leerzeichen, D, E, R, Leerzeichen, N, A, C, H, S, P, I, E, L, Z, E, I, T. Und brachtest noch die Engelsgeduld auf, Buchstaben für Buchstaben, wie um mich einer chinesischen Wasserfolter zu unterziehen: N, U, R, Leerzeichen, N, O, C, H, Leerzeichen, G, A, R, B, A, G, E, Leerzeichen, T, I, M, E. Da hatte ich keinen Nerv mehr, Telegramme zu verfassen, ich beugte mich zu deinem Ohr, und mein Flüstern war fast ein Schrei: Was redest du da für Blödsinn, was für garbage time? Und du, eine Hand vor dem Mund, fast unhörbar in dem allgemeinen Stimmengewirr: Es ist aus, Ángela, einer von uns beiden musste diesen Schritt endlich tun. Ach, dann muss ich mich wohl bei dir bedanken, sagte ich laut, als Fabio aufstand und zwischen uns trat, eine Hand auf deine, eine auf meine Schulter legte, und du rauntest mit einem widerlich verkniffenen Lächeln: Nein, schon gut, mach’s nur nicht noch schwerer.

      Ja, so habe ich es dir mitgeteilt, völlig unpassend, während eines Hochzeitsessens mit Freunden und über unseren alten Handtelegrafen, wahrscheinlich mutiger oder forscher, weil ich so viel getrunken hatte. Und ungeduldig, so ungeduldig, dass ich es dir beinahe schon in Worten gesagt hätte, als du mich zuvor beim Cocktail fragtest, was mit mir los wäre, warum ich so still sei. Oder sogar noch früher, als wir aus dem Standesamt kamen, die verschwitzten Hände voller Reis, und uns über die Treppe hinweg ansahen und du dich wundertest, weil ich dich so aufmerksam und ernst betrachtete. Derselbe ernste Blick war dir bereits im U-Bahn-Fenster aufgefallen, als wir zum Standesamt fuhren und du meine Hand drücktest und deinen Kopf auf meine Schulter legtest, ohne unser Spiegelbild im Fenster aus den Augen zu lassen, wir beide in Grau, gut aussehend und müde, irgendwie trüb, und da musste ich mich wirklich zusammenreißen, um es dir nicht zu sagen, denn die Worte lagen schon schwer in meinem Mund, aber es sollte nicht so aussehen, als wäre mein Entschluss eine Folge des routinemäßigen Streits, den wir beim Weggehen gehabt hatten. Deshalb habe ich gewartet, bis unsere schlechte Laune verflogen war, bevor ich ein Thema aufbrachte, das ich bereits am Morgen hätte anschneiden können, als wir aufwachten und du dich an mich schmiegtest, mit dieser Samstagsträgheit, dein Körper warm und kraftlos, so verletzlich. Du hast deine Stirn gegen meine gedrückt, das alte Zyklopenspiel, und mir gesagt, dass du mich liebst, mich jeden Tag noch mehr liebst, hast mich ohne Eile geküsst, und ich hatte Angst, du würdest den schalen Geschmack der Worte spüren, auf denen ich schon zu viele Tage und Nächte herumkaute, die ich hinunterschluckte und wieder hochwürgte, ohne den richtigen Augenblick zu finden, um sie zu äußern; die Worte, die ich schon mehrmals ins Handy getippt hatte, ohne am Ende den Mut zu haben, sie dir zu schicken: Ich will, dass wir uns trennen. Vor Tagen schon hatte ich diesen Entschluss gefasst. Wir setzten uns jeden Abend, wenn die Kinder ins Bett gebracht waren, ins Wohnzimmer, und du spieltest Haus-Umbauen: Das Notebook auf dem Schoß, gingst du auf die Suche nach preiswerten Heizsystemen, Herstellern für Zementfliesen, Elektroinstallateuren, Katalogen für Bäder, Lösungen für schadhafte Dächer, den Preisen für Heizkessel, für Küchenarbeitsflächen; und parallel dazu in unser Online-Konto, um Saldo und Umsätze zu prüfen und anschließend auf dem Taschenrechner die übliche Milchmädchenrechnung anzustellen; dann wurde Paint gestartet, um den Plan für das Haus abzuändern: eine Wand weggenommen, eine neue Tür eingefügt, das Wohnzimmer erweitert, das Badezimmer anders ausgerichtet. Alles begleitet von Kommentaren, und ich sollte mir das geometrische Muster von Kacheln anschauen oder sagen, wie ich es fände, wenn wir den Flur ganz wegmachten oder das Obergeschoss absperrten und fürs Erste vergäßen, uns also ganz darauf konzentrieren würden, das Untergeschoss bewohnbar zu machen, oder du erzähltest von einem Maurer, den man dir empfohlen hatte und der gut und günstig war. Aber während du weiter am Suchen, Zeichnen, Rechnen warst und dich deinen Landhausfantasien hingabst, verschanzte ich mich hinter meinem Notebook, antwortete nur einsilbig oder tat so, als müsste ich einen Artikel für den nächsten Tag fertig machen, stellte nebenbei aber meine eigenen Recherchen an: Immobilienportale, wo ich nach Mietwohnungen suchte und alle Ansprüche runterschraubte: nur ein Schlafzimmer, keine Mindestquadratmeterzahl, kein Aufzug, keine Heizung, unmöbliert, in schlecht angebundenen Vierteln und Schlafstädten, sogar Zimmer in Wohngemeinschaften. Alle paar Minuten löschte ich den Verlauf, auch wenn ich manchmal dachte, ich sollte ihn lassen, damit du ihn entdeckst und es mir dann leichter machst, den Satz auszusprechen, den ich hinunterschluckte und wieder hochwürgte, oder vielleicht als Warnung, als Hilferuf, bevor alles zu spät wäre. Und jedes Mal, wenn ich vom Bildschirm aufblickte und dich vor mir sah, konnte ich es dir einfach nicht sagen. Mein Entschluss war gefasst, und ich übte meinen Satz vor dem Spiegel ein wie ein unsicherer Teenager, doch dann sah ich dich und schaffte es nicht. Die Angst und die Schuld wogen


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