Feldstudien auf der Hundewiese. Marc Bekoff
darstellen müssten, um sie intelligenter erscheinen zu lassen, als sie tatsächlich sind.16 Aber wir zäumen das Pferd keineswegs von hinten auf (bzw. leinen den Hund nicht von hinten an), indem wir wissenschaftlichen Daten erlauben, unser Mitgefühl für Hunde und andere Tiere zu stärken und ihre Lebensqualität zu steigern.
Die Kurve zeigt, dass die Anzahl der Studien zum Verhalten des Hundes in den letzten dreißig Jahren stetig gestiegen ist. Quelle: Hal Herzog, „25 Things You Probably Didn’t Know about Dogs”; verwendet mit Genehmigung. Hundefoto: flickr user alan schoolar, Creative Commons license CC BY 2.0.
Manche Menschen – glücklicherweise sind diese zunehmend in der Minderheit – behaupten immer noch, dass wir nicht wüssten, was Hunde wollen und brauchen. Ich antworte darauf immer, dass wir dies sehr wohl wüssten: Sie wollen und brauchen eben das, was auch wir wollen und brauchen – Frieden, Sicherheit und ein harmonisches Zusammenleben mit anderen.
Dieses Buch beschäftigt sich auf Basis der aktuellen Forschung mit allem, was wir über Hunde wissen. Mangelt es uns an Wissen, um eine Frage vollständig beantworten zu können – und das ist fast immer der Fall –, so weise ich darauf hin. Um den Lesefluss nicht zu unterbrechen, zitiere ich den Großteil der Studien, auf welche ich mich beziehe, im Anhang. Ich bitte den Leser, dort nachzuschlagen, um mehr zu erfahren. Will man Hunde verstehen und schätzen, so ist es unumgänglich, sich auf Forschungsergebnisse zu stützen, Studien, wissenschaftliche Artikel und Bücher zu zitieren. Andererseits berücksichtige ich auch zahlreiche Anekdoten, die mir Wissenschaftler und andere Menschen erzählt haben.17 Ich gebe Scientist-Journalisten und Autor Fred Pearce absolut recht, wenn er schreibt: „Um die Welt zu verändern, müssen die Wissenschaftler zu Geschichtenerzählern werden.”18 Laien fällt es wesentlich leichter, sich auf Forschungsergebnisse einzulassen, wenn diese auf zugängliche Art und Weise präsentiert werden. Geschichten, in denen wir uns wiedererkennen, sind ausgesprochen effektiv. Ebenso können sie uns darauf hinweisen, was wir alles noch nicht wissen und uns inspirieren, Dinge, die wir für selbstverständlich zu nehmen pflegen, Vermutungen und Dogmen in Frage zu stellen. Vielleicht überrascht es den Leser, festzustellen, dass wir trotz allem, was wir über das Verhalten, die Gedanken und Gefühle, Wünsche und Bedürfnisse der Hunde wissen, in vielerlei Hinsicht noch im Dunklen tappen. Unsere Daten sind lückenhaft – auch wenn viele populärwissenschaftliche Hundebücher das Gegenteil behaupten.
Die Herausforderung liegt darin, die faszinierenden vierbeinigen Individuen aus einer Perspektive zu verstehen, die ihnen gerecht wird, und das, was wir wissen, in ihrem Sinne einzusetzen. Der Trainingsansatz, der für Waldi funktioniert, ist vielleicht nicht der richtige für Luna, und das, was für Luna klappt, eignet sich möglicherweise nicht für Pluto. Die vielen Hunde, die im Laufe der Jahre mein Zuhause teilten, hatten abgesehen davon, dass sie alle eine Rute, zwei Ohren, zwei Augen, eine Nase, ein Maul und immer Hunger hatten, wenig gemeinsam. Wie ich gern sage: Hüten Sie sich vor dem einen, einzigen und immer gleichen Hund: Dieser ist ein Fabelwesen.
Nicht „der” Hund, sondern mein Hund und dein Hund
Im Laufe dieses Buches betone ich immer wieder, dass es irreführend ist, von „dem” Hund zu sprechen, als wären alle Hunde gleich. Die Unterschiede zwischen einzelnen Vierbeinern – sogar zwischen Individuen derselben Rasse oder Geschwistern – sind unglaublich groß. Ebenso vermeide ich es, zwischen „braven” und „schlimmen” Hunden zu unterscheiden. Meist hängt die Frage, ob wir einem Hund (oder einem Kind) das Label „brav” oder „schlimm” verpassen, viel mehr mit dem Kontext als mit dem Tier an sich zusammen. „Brav” und „schlimm” liegen im Auge des Betrachters, und je nachdem, wen man fragt, können die Kriterien dieser beiden Bezeichnungen ganz unterschiedlich aussehen. Manchmal beobachte ich, wie Vierbeiner, die ein und dasselbe typische Hundeverhalten an den Tag legen, von einem Halter als „brav” und vom nächsten als „schlimm” bezeichnet werden. Weder für den betreffenden Hund noch für mich machen die beiden Labels Sinn.
Auch darin, wie sehr er sich zu uns hingezogen fühlt, unterscheidet sich ein Hund vom nächsten. Auf die Gefahr hin, manchen Leser mit dieser Information zu erschrecken, muss doch gesagt werden, dass Hunde nicht notwendigerweise unsere besten Freunde sind und uns auch nicht bedingungslos lieben. Natürlich können Hunde uns lieben, mit uns spielen und uns unterhalten, bis wir Tränen lachen. Sie stellen aber auch „Bedingungen” an uns, die eine große Herausforderung sein können – aus diesem Grund floriert die Hundetrainings- bzw. -unterrichtsindustrie.
Und nicht nur das: Jeder Hund kann, genau wie wir, einen schlechten Tag haben, was sich in seinem Verhalten widerspiegelt. Ich erinnere mich an einen Hund namens Cheghi, den ich gut kannte. Bei einem Besuch verhielt er sich nicht wie er selbst: Anstatt ein Energiebündel zu sein, wirkte er ruhig und ein wenig weggetreten. Später fand ich heraus, dass ihm ein Bügeleisen auf den Kopf gefallen war. Sein Mensch glaubte, dass Cheghi Kopfschmerzen oder sogar eine leichte Gehirnerschütterung hatte. Erst einige Tage später war er wieder ganz der Alte: ein überschwängliches Energiebündel. Ein andermal beobachtete ich, wie einer der Hunde, mit dem ich zusammenlebte, nach dem Laufen schnell eine große Menge eiskaltes Wasser trank. Ich bin mir sicher, dass er davon Kopfschmerzen bekam: Er kniff die Augen zusammen und beutelte den Kopf, als wolle er etwas abschütteln. Er wurde ungehalten und schien sich eine ganze Weile lang unwohl zu fühlen. Genauso geht es auch mir, wenn ich nach einer langen Fahrradtour zu schnell eine Flasche Eistee trinke.
Immer wieder erhalte ich E-Mails und Anrufe von Forschern und Hundeliebhabern, die mich um eine aussagekräftige Zusammenfassung dessen bitten, was wir über die kognitiven Fähigkeiten der Hunde wissen bzw. nicht wissen. Verstehen sie uns, wenn wir in eine bestimmte Richtung zeigen? Orientieren sie sich an der Blickrichtung des Menschen? Sind kognitive Fähigkeiten rasseabhängig? Wie schneiden Hunde im Vergleich zum Wolf ab? Diese und viele weitere Fragen bekomme ich immer wieder zu hören.
Ich versuche, sie auf Basis aktueller Forschungsergebnisse zu beantworten – allerdings lassen sich hier keine allgemeingültigen Aussagen treffen. Wir müssen immer die Variablen der entsprechenden Studien berücksichtigen: Wie viele Hunde wurden getestet? Waren es Rüden oder Hündinnen, intakte oder kastrierte Tiere? Wie alt waren sie, und welchen Hintergrund hatten sie? Was genau wurde untersucht, und wo wurden die Hunde getestet? Emily Bray und ihre Kollegen fanden heraus, dass das Temperament eines Hundes, welches sich in einer erhöhten Erregungslage abzeichnet, die Problemlösefähigkeit beeinflusst. Auch konnte die Erregungslage der vierbeinigen Studienteilnehmer von den Forschern manipuliert werden.19 In den Tests, die die Problemlösekapazitäten der Hunde testen sollten, schnitten Familienhunde mit zunehmender Erregung schlechter ab, während Assistenzhunde mit zunehmender Erregungslage besser abschnitten. Die Studie illustriert, dass wir vorsichtig sein müssen, unser Wissen über „den” Hund zu stark zu vereinfachen. Das soll natürlich keine Kritik an den Forschern oder ihrer Arbeit sein – vielmehr handelt es sich um eine faszinierende Tatsache, welche die Wissenschaft rund um die kognitiven, emotionalen und verhaltenstechnischen Eigenheiten der Hunde umso faszinierender und spannender macht.
Ein Hundeexperte wandte sich im Oktober 2016 mit einer Frage an mich, die den Nagel auf den Kopf trifft: „Wer sind die Hunde in all diesen Tests?” Er bezog sich auf die Tatsache, dass die Studien häufig davon ausgehen, dass alle Hunde gleich seien – das sind sie aber ganz und gar nicht. Es ist schlicht unmöglich, zu sagen, dass alle oder auch nur die meisten oder viele Vierbeiner dies oder jenes täten. Ebenso wenig können wir sagen, dass „der Hund” und „der Wolf” einander in diesem oder jenem ähneln oder sich voneinander unterscheiden. Viele Menschen, die ich auf der Hundewiese treffe, wissen dies bereits – und zwar weil sich ihr eigener Hund wie ein einzigartiges Individuum verhält!
Stellt man mir Fragen über „den” Hund, so antworte ich darum oft, dass „der” Hund nicht existiere. Tests in unterschiedlichen Labors und zahlreiche Feldstudien zeigen vor allem eines: dass die Variabilität innerhalb der Spezies Hund unglaublich groß ist. Melissa Howses Masterarbeit zum Verhalten der Hunde in der Quidi-Vidi-Hundezone im kanadischen St. John’s (Neufundland) zeigt dies sehr deutlich. House vergleicht ihre Arbeit mit weiteren in Hundezonen durchgeführten