Feldstudien auf der Hundewiese. Marc Bekoff
Aufmerksamkeit. In einem Forschungsartikel, der eine Übersicht über sämtliche zwischen 1911 und 2016 publizierten Studien zur Kognition der Hunde liefert, zählen Rosalind Arden und ihre Kollegen nur drei Studien auf, die sich mit individuellen Unterschieden befassen.21 Im Durchschnitt, stellten sie außerdem fest, werden für eine Studie sechzehn Hunde untersucht.
Verständlicherweise wünschen sich Halter häufig eine schnelle Lösung für dieses oder jenes Problem mit ihrem Hund. Jedoch ist eine solche nicht immer realistisch – zu viel hängt von den individuellen Eigenschaften des entsprechenden Tieres ab. Immer wieder äußern meine Gesprächspartner auf der Hundewiese den Wunsch nach einer schnellen Lösung. Ich denke, der beste Tipp, den ich ihnen mit nach Hause geben kann, ist: Den Hund, der ihnen wichtig ist oder den sie genau zu kennen meinen, ganz genau zu beobachten. Im Laufe der Jahre sind mir zahlreiche Hunde begegnet; darunter ein liebenswerter und kuschelbedürftiger Pitbull. Der Mensch am anderen Ende der Leine erzählte mir, dass er sich den Terrier für Hundekämpfe gekauft hatte. Er wollte mit seiner Hilfe Geld verdienen. Als sich sein Hund jedoch weigerte, zu kämpfen, und sie beide ausgelacht wurden, erkannte er, dass sein Gefährte – genau wie alle anderen Hunde – ein einzigartiges Individuum war. Er schwor sich, nie wieder an Hundekämpfen teilzunehmen.
Ich erzähle diese Geschichte nicht, um die Vorzüge von Pitbull Terriern oder anderen Rassen zu diskutieren. Vielmehr soll sie illustrieren, dass ungezügelter „Rassismus” – zum Beispiel die Behauptung, dass alle Hunde einer bestimmten Rasse freundlich oder aggressiv gegenüber Artgenossen seien – ausgesprochen irreführend sein kann.22 Derartige Verallgemeinerungen machen manches einfacher, können im Falle falscher Vorurteile jedoch verheerende Konsequenzen für Hunde einer bestimmten Rasse haben. Mein Freund Marty brachte es auf der hiesigen Hundewiese auf den Punkt: „Kein Hund ist wie der andere.”
In der Praxis ist es unumgänglich, Verallgemeinerung zum Verhalten der Hunde zu vermeiden. James Crosby, ein approbierter Verhaltensberater und pensionierter Polizeileutnant, der zudem einen Mastertitel in veterinärwissenschaftlicher Forensik von der University of Florida trägt, erklärte mir, dass es in seinen Untersuchungen von Todesfällen infolge Hundebissen entscheidend wäre, jeden Fall und jeden Hund individuell zu evaluieren. Es gäbe keine schnellen und allgemeinen Erklärungen für tragische Vorfälle.23
Genauso ungern spreche ich über „den” Kojoten, „den” Wolf, „das” Rotkehlchen” oder „den” Goldfisch. Die Forschung zeigt, dass die Bandbreite innerhalb ein und derselben Art – Wissenschaftler sprechen von intraspezifischer Variation – bei den verschiedensten Tieren, darunter Fische, Insekten und Spinnen, gewaltig groß ist. Wieder und wieder stellten meine Studierenden und ich bei unseren Beobachtungen wilder Kojoten im Grand Teton Nationalpark nördlich von Jackson, Wyoming, fest, dass allgemeine Aussagen über das Verhalten der Kojoten relativ nichtssagend sind – ganz besonders im Zusammenhang mit ihrem Sozialverhalten. Bereits im Alter von drei Wochen zeichnen sich individuell unterschiedliche Temperamentstypen unter den jungen Kojoten ab, die erstmals ihre Umgebung erkunden: Manche sind scheu, andere mutig. Wilde Tiere lassen sich genauso wenig in Schubladen stecken wie domestizierte Hunde: Die Spezies allein kann nicht erklären, wer sie sind und warum sie bestimmte Verhaltensweisen zeigen.
Konzentrieren wir uns auf die wechselseitigen Beziehungen, die wir mit Hunden führen, so erreichen wir ein tieferes Verständnis der Hunde als Individuen und lernen, sie als solche zu schätzen. Wir müssen nicht nur verstehen, wer sie sind, sondern auch, wie sie ihrerseits ein Verständnis davon entwickeln, wer wir sind. Wenn wir Hunde erforschen – dazu gehören auch unsere Beobachtungen auf der Hundewiese –, gehen wir Beziehungen zu ihnen und auch zu anderen Menschen ein. Diese Beziehungen beeinflussen wiederum das, was Hunde tun und auch unser Verständnis ihres Verhaltens. Diese Sichtweise erfordert, dass wir alle Erwartungen und Vorurteile ablegen. Ich versuche immer, mich in die Pfoten, Köpfe und Herzen der Individuen, die mir begegnen, hineinzuversetzen, ihre Höhen und Tiefen von ausgelassener Freude bis hin zu erdrückender Trauer nachzuempfinden und ihnen so viel Empathie entgegenzubringen wie möglich. Hunde teilen häufig mit uns, was sie denken und fühlen – wir müssen nur lernen, sie zu verstehen.
Es wird den Leser kaum überraschen, dass ich mir ständig Gedanken über jene Dinge mache, von denen ich hier schreibe, und mich frage, was in den Köpfen und Herzen der Hunde vor sich geht. Als ich eines Morgens mit dem Rad durch Boulder fuhr, begegnete ich Vivienne Palmer und ihren beiden Gefährten – Bartleby, ein winziger Hund, und Blue, eine riesige Dogge, die ihren kleinen Freund um ein Vielfaches überragt. Ich lächelte, als mir bewusst wurde, dass Bartleby and Blue so unterschiedlich aussahen und doch zur selben Spezies gehörten, hielt an und bat Vivienne, sie fotografieren zu dürfen. Gern war sie einverstanden. Viviennes Gefährten erinnern daran, wie irreführend es sein kann, über „den” Hund zu sprechen.
Bürgerwissenschaft auf der Hundewiese
Was, wenn wir denen, die keine eigene Stimme haben, erst zuhörten, bevor wir für sie sprächen und behaupteten, zu wissen, was sie sagen würden?
Matt Margini24
„Viele Menschen sprechen mit Tieren”, sagte Puuh.
„Ja, aber …”
„Aber nur wenige hören zu”, sagte er.
„Das ist das Problem”, fügte er hinzu.
Benjamin Hoff, Tao Te Puh. Das Buch vom Tao und von Puh dem Bären.25
Hundewiesen und andere Orte, an denen Zwei- und Vierbeiner zusammenkommen – von Gärten über Wanderrouten bis hin zu Radwegen – bergen das Potenzial einer Vielzahl von Begegnungen, Gesprächen und Auseinandersetzungen. Hunde neigen dazu, sich jedem vorzustellen, was wiederum dazu führen kann, dass auch deren Menschen einander kennen lernen. Aus diesem Grund bezeichnen Forscher Hunde oft als „soziale Katalysatoren”.26 Sie brechen das Eis und machen es ihren Zweibeinern einfacher, miteinander ins Gespräch zu kommen. Ganz besonders scheint dies für Hundeauslaufgebiete zu gelten. Die meisten Halter besuchen die Hundewiese, um ihren Vierbeinern Spaß und Sozialkontakte zu ermöglichen und schließen dabei ganz automatisch auch selbst neue Bekanntschaften.
Worum sich die Gespräche auf der Wiese drehen? Natürlich in erster Linie um Hunde. Meist geht es um Verhalten, Rassen, den Hintergrund der einzelnen Vierbeiner, den Umgang mit Problemen und die Beziehung der Hunde zu deren Menschen. Der aufmerksame Beobachter lernt in der Hundezone nicht nur Neues über seinen eigenen Gefährten, sondern auch über den Umgang von Hunden untereinander, über zwischenmenschliche Beziehungen sowie über die Eigenheiten, Vorlieben und Fähigkeiten all jener Hunde, die um ihn herum über die Wiese tollen.
Vivienne Palmer und ihre Hunde Bartleby (ein vierjähriger Chihuahua-Dackel-Mix aus dem Tierschutz; links) und Blue (eine sechseinhalbjährige Deutsche Dogge aus dem Tierschutz).
Ich ermuntere die Menschen, denen ich begegne, immer dazu, in die Rolle eines Wissenschaftlers zu schlüpfen und aus den Hundewiesen-Besuchen zu lernen, um die eigene Beziehung zu ihrem Hund zu verbessern. In Auslaufgebieten gemachte informelle Beobachtungen können sogar noch größere Auswirkungen haben, indem sie Forscher inspirieren und zum Katalysator systematischer Studien werden. In Kapitel acht wollen wir uns damit auseinandersetzen. Hundewiesen sind ausgezeichnete Schauplätze für Studien in kognitiver Ethologie – der Wissenschaft vom Verstand der Tiere – und Anthrozoologie, der Wissenschaft von der Mensch-Tier-Beziehung.
Bürgerwissenschaft auf der Hundewiese und zuhause kann sogar den Beginn einer Forscherkarriere darstellen. Ein Beispiel dafür ist die renommierte Primatologin und Naturschutzbiologin Jane Goodall, die von ihrem Hund Rusty beeinflusst wurde: Rusty, ein Gefährte ihrer Kindheit, war einer der Ersten, die ihr Interesse an Tieren weckten.27 In Dr. Goodalls eigenen Worten: „Bereits als Kind lernte ich viel über das Verhalten der Tiere: Mein Hund Rusty war ein großartiger Lehrer.”28 Elizabeth Abbott erzählt in Dogs and Underdogs mehr davon, wie Dr. Goodalls