Feldstudien auf der Hundewiese. Marc Bekoff
Hundewiese war er unter dem Spitznamen Staubsauger bekannt, weil er sich wie ein solcher verhielt. Als ich eines Tages ins Beobachten zweier spielender Hunde vertieft auf der Wiese stand, kam Sammy von hinten auf mich zu, und ehe ich mich wehren konnte, tauchte seine Schnauze vorne zwischen meinen Beinen auf. Ich lachte bei der Vorstellung, dass er seinen Rüssel nur ein Stückchen heben müsste, um mich darauf reiten zu lassen wie auf dem Rücken eines Pferdes. Sammy sah mein Lachen als Zeichen, dass ich Spaß an seinem Spiel hatte, und schob seine Schnauze gleich noch einmal von hinten zwischen meine Beine.
Eine Frau, die ihren ersten Hund aus dem Tierheim adoptiert hatte, erfuhr, dass ich mich beruflich mit Hunden befasste, und fragte: „Warum schnüffelt sie an allem, scheint Dinge, die ich deutlich sehe, nicht zu erkennen und reagiert unruhig und aufgeregt, wenn sie etwas hört, was ich nicht höre?“ Diese Fragen höre ich oft, und ich erkläre dann meist, dass sich die Welt aus Hundeperspektive stark von der unseren unterscheidet.
Am besten beginnt man, sich mit der Welt der Hunde zu befassen, indem man sich vorstellt, wie es ist, ein Hund zu sein und die Umgebung über die Sinne eines Vierbeiners wahrzunehmen. Hunde haben dieselben fünf Sinne wie wir auch, nehmen darüber jedoch andere Dinge wahr. Ich weiß, es ist viel verlangt, sich vorzustellen, Sie wären ein Hund. Nicht nur, dass es uns unmöglich ist, uns wirklich all die Informationen bewusst zu machen, die ein Hund über seine faszinierende Nase und eifrige Zunge wahrnimmt – Hunde berühren mit beiden dieser Organe auch ständig Dinge, die wir mitunter ziemlich abstoßend finden. Sollten Sie sich das wirklich vorstellen?
Ich präsentiere Ihnen eine „Ethologie der Sinne”, oder einen Schnappschuss dessen, wie Hunde ihre Welt über ihren Geruchs-, Seh-, Hör-, Geschmacks- und Tastsinn wahrnehmen – natürlich im Rahmen dessen, was wir Menschen als angemessenes Verhalten sehen. Wie andere Tiere – darunter auch der Mensch – verarbeiten Hunde einen Cocktail an Reizen, die gleichzeitig und in rascher Folge auf ihn eindringen. In der Regel transportieren diese von Ethologen als multimodale Signale bezeichneten Reize mehr Information als Reize, die sich auf einen einzigen Sinn beschränken.
Die anhaltende und sich ständig ändernde Kakophonie der Sinneseindrücke erlaubt es den Hunden, detaillierte Informationen dazu zu sammeln, was gerade vor sich geht. Vielleicht hilft es ihnen sogar, zukünftige Ereignisse vorauszuahnen. Die so gewonnenen Informationen sind unerlässlich für die Entscheidung, wie sie sich in einer bestimmten Situation verhalten wollen. Hunde bellen zwar (was ich in Kapitel sieben bespreche), nutzen aber nicht wie wir Menschen eine verbale Sprache, um miteinander zu kommunizieren und ihre Gefühle auszudrücken. Stattdessen verlassen sie sich in erster Linie auf ihre fünf Sinne und nonverbale Kommunikation.
Die Nase des Hundes ist ein Kunstwerk
Die Welt ist voller Gerüche. Weder können, noch müssen oder wollen wir Menschen sie alle wahrnehmen – aber Hunde sind anders. Gerüche machen ihre ganze Welt aus, und die Hundenase ist Expertin darin, diese aufzuspüren. In Hund – Nase – Mensch: Wie der Geruchssinn unser Leben beeinflusst bezeichnet Dr. Alexandra Horowitz den Hund als Nasentier bzw. als „Nase mit Körper dran”, und Forscher bezeichnen Hunde als makrosmatische Säugetiere, weil ihr Geruchssinn lebenswichtig ist.61 Ich denke immer, dass ein Hund ohne funktionierende Nase kein Hund ist. Tatsächlich haben Hunde abgesehen von ihrer guten Nase auch ein sogenanntes vomeronasales Organ, das auch als Jacobson-Organ bezeichnet wird. Es gehört zum zusätzlichen olfaktorischen System des Hundes und reagiert nicht auf flüchtige Gerüche wie die übrigen Riechzellen, sondern auf flüssige Reize.62
Wir wissen, dass Hunde ihre Nasen gern überall reinstecken. Oft schnaufen sie dabei oder kurz darauf. Ihre hochempfindlichen Nasen sind legendär – so sehr, dass wir ihre Lebensphilosophie unter dem Motto „Erst schnüffeln, dann denken” zusammenfassen könnten. Wir wissen nicht, warum die Nase der Hunde so sensibel ist. Manche Forscher vermuten, dass es damit zu tun haben könnte, dass sie sich so nah am Boden befindet. Andere meinen, es handle sich dabei einfach um eine evolutionäre Adaption, von welcher das Tier profitiere –und „darum ist es jetzt eben so, wie es ist”. Wie dem auch sei – Hunde setzen ihre Nasen scheinbar ununterbrochen ein.
Schnüffeln Hunde an Orten und Stellen, die tabu für uns sind, so fühlen wir uns unwohl. Auf meinen Streifzügen über die Hundewiese höre ich häufig jemanden rufen: „Stopp, nimm deine Schnauze da weg!” oder „Wie widerlich! Hör auf, an seinem Popo zu schnüffeln!” Hunde schnuppern liebend gern an Geschlechtsteilen, Urinmarken und Hundehaufen, um spannende Informationen einzuholen. Was Gerüche betrifft, so sollten wir Hunde Hunde sein lassen, anstatt unsere eigenen Vorstellungen von Anstand auf sie zu übertragen. Das heißt, dass wir ihnen erlauben sollten, einander nach Herzenslust zu beschnüffeln und ihre Spaziergänge tatsächlich ihre Spaziergänge sein zu lassen – ganz gleich, wie frustrierend und schwierig dies sein mag. Ihre Sinnesorgane müssen genauso wie ihre Muskeln, Herzen und Lungen ausgelastet werden.
Was nimmt die Hundenase wahr?
Ich habe Ihnen bereits mehrere Hunde vorgestellt – darunter Paul und Pina, die „Popo-Fans”, Sally und Simba, „die Schamlosen”, und Sammy alias „Mr. Rüssel” –, für deren Nasen es kein Halten gibt. Diese Hunde können nicht anders, als ihre Schnauze an intime Orte zu stecken, was immer wieder die Frage aufwirft, warum sie dies tun und was sie daran so offensichtlich genießen.
Wir wissen zwar, dass Hunde mithilfe der Nase wichtige Informationen sammeln, aber wir können nicht immer sagen, worum es sich bei diesen Informationen handelt. Es ist allgemein bekannt, dass Rüden anhand des Geruches einer Hündin feststellen können, ob diese läufig ist. Außerdem scheinen alle Hunde in der Lage zu sein, Artgenossen auf Geruchsbasis eindeutig zu identifizieren. Sie können ihren Eigengeruch vom Geruch anderer unterscheiden und möglicherweise anhand des Duftes eines Artgenossen lesen, wo dieser gewesen ist, mit wem er Kontakt hatte und wie er sich fühlt. Nachdem wir Menschen so viel Zeit damit verbringen, zu staunen und zu lachen, wenn Hunde leidenschaftlich den Duft von Fußböden, leblosen Gegenständen und Körperteilen einsaugen, ist es erstaunlich, wie wenig wir tatsächlich wissen. Die Bürgerwissenschaft kann einen Anreiz bieten, weitere wissenschaftliche Studien auf diesem Gebiet durchzuführen.
Manchmal wird sogar spekuliert, dass Hunde Zeit riechen könnten. Sie haben sicherlich ein gewisses Zeitgefühl: Die meisten Hunde wissen, wann es Zeit für ihr Abendessen ist und scheinen vorauszuahnen, wann ihre Menschen nach Hause kommen. Wir wissen allerdings nicht, wie sie tatsächlich feststellen, wie früh oder spät es ist und was das für sie bedeutet. Alexandra Horowitz vermutet, dass Hunde Gerüche wahrnehmen können, während sich diese auflösen und sich ihr Zeitgefühl daraus ergibt. Vielleicht haben sie aus demselben Grund eine gute Vorstellung davon, wann ihr Mensch nach Hause kommt.63 Ich weiß nicht, ob dies tatsächlich der Fall ist – vielleicht können sie dies in manchen Situationen. Meine eigenen Beobachtungen und die Berichte anderer lassen darauf schließen, dass Hunde außerdem nicht nur wissen, wer an einer bestimmten Stelle eine Urinmarke hinterlassen hat, sondern auch korrekt einschätzen können, wie lange dies her ist. Dies ist bisher nicht wissenschaftlich belegt worden – wir müssen weiter forschen, um dieser respekteinflößenden und zugleich spannenden Frage auf den Grund zu gehen.
Was auch immer die Nase den Hunden verrät – sie riechen niemals nicht; vielleicht arbeitet ihre Nase sogar im Schlaf. Dabei kommt es häufig vor, dass Hunde ihre Freunde ebenso genau unter die Nase nehmen wie Bekannte und Fremde – selbst dann, wenn sie nur wenige Sekunden lang getrennt waren. Jessica Pierce erzählte mir, dass ihre Hündin Bella ihre Schwester Maya zu beschnüffeln pflegte, wenn diese beim Tierarzt gewesen war. Ich erinnere mich noch heute daran, wie häufig ich über Jethro – einen Hund, mit dem ich mein Zuhause teilte – lachte: Er roch selbst dann mit größtem Interesse an Zeke, wenn dieser weniger als eine Minute den Raum verlassen hatte. Zeke gab sich geduldig, wenn Jethro ihn vom Kopf bis zu den Zehenspitzen mit der Schnauze untersuchte. Manchmal schien es mir, als würde Zeke sagen: „Hey, ich war nur unten an der Straße, um zu pinkeln und unsere Freundin Lolo zu treffen.” Hunde scheinen das Schnüffelbedürfnis ihrer Artgenossen nicht infrage zu stellen, und ich bin mir sicher, dass sie wissen, was sie tun. Vielleicht ist es wie bei Menschen, die