Feldstudien auf der Hundewiese. Marc Bekoff

Feldstudien auf der Hundewiese - Marc Bekoff


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an Dinge zu erinnern, auch wenn sie diese nicht mehr sehen können. So konnte er etwa einen im oberen Stockwerk aus dem Fenster geworfenen Ball apportieren, indem er ohne diesen zu sehen eine Reihe strategischer Entscheidungen im Haus und Garten traf, die ihn schließlich zu seinem Ball führten. Rusty hatte einen Gerechtigkeitssinn, der ihn einerseits sein eigenes unerwünschtes Verhalten erkennen und andererseits Janes gelegentliche wütende oder unfaire Reaktionen ablehnen ließ. Er zeigte sich intelligent, wenn es um das Vorführen von Tricks ging und ließ sich gern einen Pyjama anziehen. Lachte jedoch jemand über sein Outfit, so stolzierte er von dannen und zog den Pyjama wie eine Schleppe hinter sich her.

      Die wichtigste Lektion, die Rusty Jane lehrte, war, die Behauptungen der damaligen Wissenschaftler, dass Tiere weder mit individuellen Charakteren noch Emotionen oder Intelligenz gesegnet wären, nicht ernst zu nehmen. Stattdessen gab sie ihren Schimpansen Namen – Fifi, Flo, Figan, David Greybeard – und dokumentierte und interpretierte deren Verhalten und Aktivität auf jene Art, die später das Tierverständnis der Wissenschaft revolutionieren sollte. Ihre Vision und ihre Methoden, die einst als anthropomorphe Wissenschaftssünde angeprangert wurden, fanden ihren Weg in den Kanon der wissenschaftlichen Forschung und entwickelten sich schließlich zu deren Goldstandard.29

      Bereits 1928 schrieben C.J. Warden und L.H. Warner, zwei Psychologen an der Columbia University: „Ein großer Teil davon, was der durchschnittliche Halter über seinen eigenen Hund sowie Hunde im Allgemeinen ,weiß’, ist Tierpsychologen nicht bekannt.”30 Das Zitat illustriert, wie viel wir von Bürgerwissenschaftlern über Hunde lernen können. Wir beginnen, zu erkennen, in welchem Ausmaß die Beobachtungen von Menschen, die ihr Leben mit Vierbeinern teilen, die rigorosen Daten detaillierter wissenschaftlicher Studien untermauern und ergänzen können. Im Jahr 2015 kam eine Gruppe internationaler Wissenschaftler zu dem Schluss, dass „Bürgerwissenschaftler in Zukunft nützliche Daten sammeln, Hypothesen testen und Fragen beantworten und so konventionelle Praktiken und Versuche zur Psychologie des Hundes ergänzen werden.”31

      Vor vielen Jahren erzählte mir eine Frau, dass ihr Hund dazu neige, sich umzusehen und das Hinterbein zu heben, als würde er pinkeln, ohne dies jedoch zu tun. Einige Sekunden später pinkle er einen ganzen Eimer voll. Die Frau meinte, sie hätte den Eindruck, dass er dies nur dann täte, wenn andere Hunde in der Nähe wären. Ich hatte dasselbe Verhaltensmuster bei Hunden und Kojoten beobachtet, ihm aber bisher kaum Beachtung geschenkt. Später untersuchte ich dieses Phänomen gemeinsam mit meinen Studierenden. Wir bezeichneten es als „Trockenmarkieren” und definierten es als Verhalten eines meist männlichen Hundes, der ein Bein hebt, aber nicht pinkelt. Wie wir in Kapitel fünf sehen werden, hatte die Frau mit der Beobachtung ihres Hundes den Nagel auf den Kopf getroffen.

      Unser Interesse an Hunden und unsere Leidenschaft für sie zeigt sich auf ganz unterschiedliche Art. So erfuhr ich etwa während einer Radtour mit Rennradfahrer Rohan Dennis, dass dieser die Tätowierung eines Pitbull/Staffie-Mischlings am rechten Bizeps trug. Er hatte sich diese nach der Begegnung mit einem „bösen Clown” stechen lassen, welcher besagten Hund an der Leine führte.32 Ich fragte Rohan, ob er den Hund kenne oder ein Fan dieser Mischung sei. „Nein”, antwortete er. Die Begegnung mit dem Hund hatte ihn auf unerklärliche Art berührt, und er wollte eine Tätowierung, um sich daran zu erinnern. Später schrieb er mir: „Ich wollte damals auch gar kein Tattoo, das eine Bedeutung für mich selbst hatte – ich war erst achtzehn, und in diesem Alter ist man ziemlich naiv dem Leben gegenüber.” Ich mag Rohans Geschichte, weil er sich dafür entschied, diesen Hund in Erinnerung zu behalten, indem er ihn auf seinem rechten Oberarm verewigte. Hunde inspirieren uns und wecken Gefühle – auch wenn wir manchmal gar nicht wissen, warum.

      Immer wieder zeigt mir jemand das Tattoo seines Hundes. Hin und wieder sehe ich sogar Tabellen oder Diagramme, die das Verhalten eines Hundes in unterschiedlichen Situationen zeigen. Die entsprechenden Halter lieben, was sie tun, und ich bin mir sicher, dass ihre Hunde von den Beobachtungen profitieren. Auch wenn Sie, lieber Leser, nicht ganz so weit gehen wie Rohan oder die Hobby-Ethologen – ich möchte Sie auf jeden Fall dazu ermuntern, Zeit mit Hunden zu verbringen – mit Ihren eigenen und mit anderen. Lernen Sie die Tiere beobachten und lesen, genau wie diese uns ihrerseits beobachten und lesen lernen. Für den Fall, dass Sie wissen möchten, wie ein Ethologe Tiere beobachtet, finden Sie im Anhang eine kleine Einführung in die Ethologie.

      Kurz gesagt: Um das, was ich als die grundlegende Ethologie des Hundes bezeichne, zu entdecken, müssen wir uns darauf konzentrieren, was Hunde wissen, fühlen und tun. Das erfordert es, Hunde lesen zu lernen und soweit wie möglich „selbst zum Hund zu werden”. Ich meine nicht, dass wir uns wie Hunde verhalten sollten – wir müssen nicht an jenen Stellen riechen, an denen sie schnuppern, oder hündische Verhaltensweisen an den Tag legen. Vielmehr glaube ich, dass wir lernen sollten, Hunde zu lesen und deren Perspektive einzunehmen, indem wir sie ganz genau beobachten. Wir kombinieren das, was uns die Wissenschaft zum Verhalten der Hunde sagt, mit dem, was wir Hunde in bestimmten Situationen tun sehen und sehen uns das Ganze durch die Linse des gesunden Menschenverstandes an. Die Herausforderung liegt darin, all diese Perspektiven und die relevanten Daten zu vereinen und sicherzustellen, dass das Ergebnis dem Hund entspricht, den wir vor uns haben. So können wir verstehen, was ein bestimmter Hund fühlt und warum er tut, was er tut. Es gibt immer Neues zu lernen!

      Ich möchte kein Blatt vor den Mund nehmen: Ich wundere mich immer wieder, wie selten Halter ihre Hunde wirklich genau beobachten. Noch erschreckender finde ich es, dass auch Trainer – ich bezeichne diese gern als Lehrer – kaum Zeit damit verbringen, Hunde außerhalb des Trainingsplatzes zu beobachten. Das soll natürlich nicht heißen, dass sie ihre Sache nicht gut machten – aber ich zweifle nicht daran, dass es ihr Verständnis von Vierbeinern, Hund-Mensch-Beziehungen und Problemlöseansätze einschränkt, diese immer nur in ein- und derselben Umgebung zu sehen. Wenn wir mit Hunden zusammenleben oder beruflich mit ihnen zu tun haben, ist es unumgänglich, sie in den unterschiedlichsten Situationen zu beobachten. Ihr Verhalten in Wohlfühl-Momenten sowie problematischen Situationen zu beobachten macht nicht nur Spaß, sondern hilft uns auch, zu verstehen, was in ihnen vorgeht.

      Dieses Wissen ist weder esoterisch noch akademisch. Vielmehr ermöglicht es uns, unsere Aufgabe – die Aufgabe, für unsere Tiere zu sorgen – besser zu erfüllen. In den Worten von Q. Sonntag und K. Overall: „Objektive Kriterien für artgerechte Tierhaltung sollten auf Basis eines besseren Verständnisses tierischen Verhaltens formuliert werden. Sowohl Halter als auch Experten, die beruflich mit Tieren arbeiten, können dadurch die Bedürfnisse von Hunden und Katzen besser erfüllen und Probleme besser identifizieren. So lässt sich die Lebensqualität der Tiere steigern. Verantwortungsvolle Zuchtkriterien, welche die genetische Vielfalt erhöhen und jene Eigenschaften selektieren, die Hunden und Katzen dabei helfen, ihre Nische in einer sich verändernden Welt zu füllen, sollten im Sinne des Tierschutzes auf wissenschaftlichen Beweisen basieren.”33

      Sich um Hunde kümmern: Ein Leitfaden für Zweibeiner

      Wie meine Eltern vor vielen Jahren feststellten, dass ich mich als Kind um alle Tiere kümmerte, so ermuntere ich Hundehalter heute immer wieder, sich um ihre Hunde und anderen tierischen Gefährten zu kümmern. Wie ich bereits erwähnt habe, meine ich damit, dass wir uns bemühen sollten, das kognitive und emotionale Leben der Tiere so gut wie möglich zu verstehen. Was wissen sie, und was fühlen sie? Dazu gehört auch, dass wir uns bewusst machen, dass sich unsere Hunde ihrerseits auch um uns kümmern. Dabei dürfen wir jedoch nicht vergessen, dass wir die Verantwortung für das Wohlbefinden unserer Tiere tragen. Sie sind völlig von uns abhängig. Diese Abhängigkeit bringt eine große Verantwortung mit sich: Sie ist kein Freibrief, all das mit den Tieren zu machen, wonach uns gerade ist. Wir müssen Hunde dafür respektieren und lieben, wer sie sind, nicht dafür, was wir aus ihnen machen wollen.

      Der Umgang mit Tieren, den ich mir wünsche, beginnt bei der Sprache, derer wir uns bedienen. Anstatt von Besitzern zu sprechen, spreche ich im Bezug auf Hunde und andere Tieren, die mit dem Menschen zusammenleben, gern von Hundeeltern oder Herrchen und Frauchen. Häufig meinen wir alle Lebewesen mit Ausnahme des Menschen, wenn wir von „Tieren” sprechen. Natürlich gehören auch wir zu den Tieren, und wir sollten stolz auf unsere Zugehörigkeit zur Fauna sein.34 Daran erinnere ich Leser und Zuhörer hin und wieder, indem ich bewusst formuliere:


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