Happy Endstadium. Jan Off

Happy Endstadium - Jan Off


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Leichensack am Leib hängt?! Demgemäß war ich bisher von einem lockeren Dreikampf ausgegangen, der sich eher früher als später zum Duell verschlanken würde. Dass nun Lasse die Schar der Anwärter verstärkte, ja, offenbar schon einen Vorrundenentscheid gewonnen hatte, versetzte mich in nicht geringe Aufregung.

      Aber Halt! Nur ruhig. Vielleicht pflegten Julia und Lasse ja nur eine ganz eigene Form der Freundschaft, eine, die ein gewisses Maß an körperlicher Nähe nicht ausschloss. Und wenn nicht? Wenn nicht? Nun, wenn da doch mehr stattfand, würde ich mich eben doppelt ins Zeug legen müssen.

      Keineswegs entspannt ob dieser Aussicht, erhob ich mich und begann ziellos durch die Straßen zu streifen. Immer wieder schob sich dabei die Szene aus dem Flur hinter meine Pupillen, und ich hörte mich selbst, wie ich Julia voller Pathos meine uneingeschränkte Loyalität versicherte. Was dieses Dilemma betraf, war die Lösung zum Glück eine leichtere. Zwar würde ich mich hüten, meine innersten Überzeugungen zu verraten. Und natürlich würde ich mich auch weiterhin an sämtlichen Diskussionsprozessen innerhalb unseres Quintetts beteiligen – wenn auch vielleicht etwas zurückhaltender. Zukünftige Aktionen allerdings sollten ab sofort meine vorbehaltlose Unterstützung genießen.

      Für den Fall, dass sie meinen politischen Ansichten noch einmal zuwiderliefen, hatte ich mir in der zurückliegenden Nacht bereits einen simplen Kniff zurechtgelegt: Ab sofort würde ich alles, was wir taten, unter der Rubrik Freizeit und Abenteuer verbuchen. In der genormten Gesellschaft stellte ja schon das kleinste Aufbegehren gegen die staatliche Ordnung einen Akt der – wenn auch temporären – Freiheit dar, den es unabhängig vom sonstigen Nutzen zu feiern galt. Außerdem war das Leben kurz und die Liebe gewiss wichtiger als sture Prinzipienreiterei.

      Unterdessen hatten mich meine Schritte in die Nähe der Morbus Hansen geführt. Und obwohl ich nun wirklich jeden Grund gehabt hätte, mein Heil im Vergessen zu suchen, konnte ich der Verlockung nicht widerstehen, kurz am Tatort vorbeizuschlendern. Vielleicht hatte ja ein übereifriger Hausmeister meinem jämmerlichen »Graffito« schon den Garaus gemacht.

      Leider war dem nicht so. Zwar waren die Scheiben bereits notdürftig mit Klebeband stabilisiert worden. Die fünf zusammenhängenden Lettern, die mein ganz persönliches Versagen dokumentierten, leuchteten allerdings nach wie vor in einem grellen Rot, das an die Wangen eines Harlekins erinnerte. Verpi verkündeten sie dem aufmerksamen Flaneur – was ja nichts anderes heißen konnte als Verpickelte Teenager mit sexuellen Problemen haben versucht, dieses Geschäft mit einer ihrer albernen Parolen zu verunstalten, mussten sich am Ende aber dem eigenen Analphabetismus geschlagen geben.

      Ich wäre dem Schandmal am liebsten selber zuleibe gerückt, zur Not mit den Fingernägeln. Da mir das aus naheliegenden Gründen versagt war, meldete sich der für Frustbewältigung zuständige Teil meines Gehirns mit einem anderen Vorschlag. Er forderte jählings Bier ein. Und damit lag er – wie so häufig – goldrichtig: Ein kleiner Tröster aus der Flasche war nun wahrlich das Mindeste, was ich mir gönnen durfte.

      Am Ende der Straße gab es einen Imbiss namens Astrids Aalverwandtschaften. Und den steuerte ich jetzt an. Da konnte ich die Freuden, die ein kaltes Holsten zu bereiten vermochte, gleich noch mit den Wonnen einer Portion Fischfrikadellen multiplizieren.

      Ich war derart auf die schnelle Befriedigung meiner oralen Sehnsüchte fixiert, dass ich der restlichen Gästeschar erst Beachtung schenkte, nachdem ich dem sympathischen Muttchen mit der vorbildlich besudelten Kittelschürze, das ja nur Astrid selbst sein konnte, euphorisch meine Bestellung ins Ohr trompetet hatte. Viel los war ohnehin nicht: Ein Pärchen in den Fünfzigern, das sich schweigend eine Portion Labskaus teilte, und ein junger, leicht heruntergelebter Bursche, der mich anstarrte, als hätte er den Leibhaftigen persönlich vor sich, während er gleichzeitig versuchte, einen sogenannten Riesenknacker in seiner Jackentasche verschwinden zu lassen … Kleingeld! Was machte der denn hier?

      Nun, das war ja allzu offensichtlich. Ich schob mich an den Stehtisch, an dem er lehnte, und schenkte ihm ein breites Lächeln.

      »Na, schmeckt’s?«

      »Ich war schnorren«, kam es ohne direkten Bezug zu meiner Frage aus Kleingelds Mundhöhle zurück, in der hektisch letzte Schweinefleischbrocken zermalmt wurden.

      Eine Aussage, die vielleicht darauf hinweisen wollte, dass das ketzerische Tun, dessen Zeuge ich hier wurde, seinen Ursprung in der harten Fron des Geldverdienens hatte. Mir war das herzlich egal. Hauptsache, der Sünder fühlte sich ertappt, ergab sich doch dadurch die für mich strategisch günstige Gelegenheit, ihm einen Beweis meines Großmuts zu liefern.

      »Keine Sorge«, sagte ich also, »du kannst dein Stück Aas ruhig wieder aus der Tasche holen. Ich bin ja auch nicht nur wegen der Beilagen hier.«

      Das schien den Verängstigten ein wenig zu beruhigen. Er brachte den phosphathaltigen Prengel wieder zum Vorschein, zögerte aber noch, hineinzubeißen.

      Ich nahm einen Schluck Bier und schielte zum Tresen, um zu sehen, was meine Bestellung machte. Dann sagte ich: »Ich wollte mich übrigens bei dir entschuldigen. Ich hätte mich gestern Abend auf keinen Fall dermaßen hinreißen lassen sollen. Aber in der politischen Auseinandersetzung verliere ich manchmal jedes Maß, weißt du.«

      Kleingeld nahm den Themenwechsel mit sichtbarer Erleichterung auf.

      »Kein Ding«, sagte er, während er sich mit Daumen und Zeigefinger der freien Hand ein Stückchen Pelle aus dem Oberkiefer zog, das er nach einem kurzen prüfenden Blick wieder zwischen den Lippen verschwinden ließ. »Und vielleicht hast du mit dem, was du gesagt hast, gar nicht mal so Unrecht.«

      »Lass uns einfach nicht mehr davon sprechen, zumindest nicht beim Essen.«

      Kleingeld nickte bedächtig und sah sich endlich in der Lage, seine Mahlzeit fortzusetzen.

      Nachdem ich mir zwischenzeitlich meine Frikadellen an den Tisch geholt hatte, herrschte eine geradezu vertraute Stimmung.

      »Julia war gestern echt sauer auf dich«, bemerkte Kleingeld.

      »Ist mir nicht entgangen.«

      »Sie hat schon darüber nachgedacht, dich rauszuschmeißen.«

      »Und? Was hältst du davon?«

      »Also was mich betrifft, kannst du bleiben.«

      Als wir den Laden verließen, brachte Kleingeld eine Dose Pfefferminzpastillen zum Vorschein.

      »Hier, für den Atem.«

      Ich griff dankbar zu.

      »Immer wieder kommt ein neuer Frühling«

      [Peter Alexander & Heintje]

      »… keine exklusiven Shopping-Gelegenheiten, keine trendy Brandstores, in denen sich ohnehin nur die bedienen können, die der Mahlstrom namens Kapitalismus seit jeher an die Oberfläche spült. Wir brauchen auch keine Wellnesstempel oder Wohlfühloasen und erst recht keine gediegene Erlebnisgastronomie. Unsere Erlebniswelten schaffen wir uns immer noch selbst. Und solange Standortlogik und Stadtmarketing-Strategien das Recht auf Wohnraum tagtäglich der Lächerlichkeit preisgeben, behalten wir uns das Recht vor, ebenfalls aktiv in die Umgestaltung unserer Umgebung einzugreifen – stellvertretend für die Vielen, die niemals eine Chance hatten, den Kampf um ein menschenwürdiges Dasein überhaupt zu beginnen. Grundbesitz vergesellschaften! Kommando Schwarzer Freitag«

      Ich ließ das Blatt, von dem ich abgelesen hatte, auf die Tischplatte segeln und blickte erwartungsfroh in die Runde.

      Die Begeisterung hielt sich in Grenzen.

      »Schwarzer Freitag? Da fällt mir nichts zu ein … außer Robinson Crusoe natürlich.« Kleingeld wieherte, als ob ihn dieser Beleg seines Erstklässlerhumors tatsächlich begeistern würde.

      Um unser gutes Verhältnis nicht gleich wieder zu gefährden, verzichtete ich darauf, ihm übers Maul zu fahren. Stattdessen sagte ich so ruhig wie möglich: »Damit ist natürlich der Zusammenbruch der Börse gemeint. Also eigentlich der Ende der Zwanziger. Aber so ein Ereignis


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