INSEL DER URZEIT. Rick Poldark
in den Gang stellen zu können. Dann packte er sie am Griff, hob sie hoch und schob sie ohne große Mühe in das Gepäckfach. Anschließend schloss er die Klappe und nickte der Dame zu.
Sie lächelte ihn an. »Danke schön.«
Sie sprach Englisch, das war gut. Bill erkannte eine Chance, und wenn er in einer Sache richtig gut war, dann darin, sich bietende Gelegenheiten zu nutzen. »Wäre es für Sie vielleicht in Ordnung, wenn wir die Sitze tauschen würden? Sie könnten dann am Fenster sitzen. Denn ich werde wahrscheinlich ziemlich oft zur Toilette müssen.« Er tat sein Bestes, um möglichst verlegen auszusehen.
»Oh nein«, sagte die Dame entschieden. »Ich habe Angst vorm Fliegen. Ich schaue nicht gern aus dem Fenster, das ist mir zu gruselig.«
Es war also an der Zeit, zu verhandeln. »Sie könnten doch die Sonnenblende herunterziehen.« Bill deutete auf das Fenster.
Die Dame wirkte immer aufgeregter und fuchtelte mit den Händen herum. »Nein, Sir. Tut mir leid. Ich strecke meine Füße gern im Gang aus. Mein Blutkreislauf ist nämlich nicht mehr der beste.«
Bill begriff, dass er unmöglich als Gewinner aus dieser Verhandlung hervorgehen würde. Außerdem war er ein Gentleman, also ließ er es dabei bewenden. Er kehrte zu seinem Platz am Fenster zurück und beschloss, sich seine gute Laune durch die Platzierung nicht verderben zu lassen. Es ging in seinem Leben immerhin stetig nach oben. Außerdem würde ihm die Rache so sicher sein wie das Amen in der Kirche. Er würde sie nämlich während des Fluges mehrmals bitten müssen, aufzustehen, weil seine Blase ihm das Leben schwer machen würde.
Noi Bai war ein geschäftiger Flughafen, aber nachdem das Flugzeug ein wenig herumgerollt war, durfte es sich relativ schnell in die Warteschlange der Startbahn einreihen. Die Stimme des Piloten erklang jetzt knisternd über die Lautsprecher. Er informierte die Passagiere über die voraussichtliche Flugzeit, die Wetterbedingungen und einiges mehr. Die Flugbegleiter beeilten sich, die Sicherheitseinweisung hinter sich zu bringen, und dann spürte Bill bereits, wie die Motoren anzogen.
Er sah aus dem Fenster. Draußen war es pechschwarz und Regenwasser lief über die Scheibe. Über den Wolken blitzte es, und zwar genau in der Richtung, in die sie flogen.
Durch seine Arbeit war Bill ein erfahrener und abgehärteter Vielflieger. Während das Flugzeug die Startbahn entlang beschleunigte, verzog er keine Miene und blickte ruhig nach vorn. Die Dame neben ihm umklammerte ihre Armlehnen, bis ihre Fingerknöchel weiß hervortraten.
»Es ist alles in Ordnung«, versuchte Bill sie zu beruhigen. »Hier drin ist es sicherer als in einem Auto.«
Die Dame warf ihm mit weit aufgerissenen Augen einen zweifelnden Blick zu.
Das Flugzeug hob jetzt ab, wobei es kurz in der Luft hüpfte und schaukelte, und die Blitze in den schwarzen Wolken außerhalb von Bills Fenster kamen immer näher. Einen Moment später durchstießen sie die dunklen Wolken und erreichten innerhalb weniger Minuten die Reiseflughöhe. Gelegentlich wurde das Flugzeug durchgerüttelt, weshalb das Anschnallzeichen erleuchtet blieb, aber sie waren nun über den Wolken.
Die Dame neben ihm schien sich etwas zu entspannen.
»Am riskantesten beim Fliegen sind der Start und die Landung.«
Sie lächelte ihn schief an. »Was sind Sie, ein Pilot?«
Sie hatte einen deutlich hörbaren Akzent. Er vermutete, dass sie in Vietnam lebte und Verwandte in Australien besuchen wollte.
Bill lächelte zurück. »Nein, aber ich bin beruflich sehr oft mit dem Flugzeug unterwegs. Mein Name ist Bill.«
Sie lächelte nun etwas freundlicher. »Ich bin Bian. Freut mich, Sie kennenzulernen.«
»Besuchen Sie Verwandte?«
»So ist es. Meine Tochter lebt in Melbourne.«
»Oh. Ich bin gerade auf dem Rückweg dorthin.«
Bian lockerte ihren Griff um die Armlehnen, schrak aber zusammen, als das Flugzeug in eine Turbulenz geriet. »Eine schöne Stadt.«
Bill lächelte. »Ich mag Melbourne sehr.« Er sah aus dem Fenster. »Das ist aber ein echt übles Wetter da draußen.«
Das Flugzeug erzitterte wieder und sackte plötzlich ein wenig ab, was ein unangenehmes Kitzeln in der Magengrube nach sich zog. Bian stöhnte. »Ich hasse fliegen. Besonders diese Achterbahnmomente.«
»Stellen Sie sich die Luft einfach wie eine Straße vor. Für ein Flugzeug ist die Luft so fest wie der Asphalt für ein Auto.«
Bian runzelte die Stirn. »Wie soll die Luft fest sein, wenn man sie nicht greifen kann?«
Das Flugzeug sackte erneut ab. »Das sind nur Turbulenzen … wie Unebenheiten auf einer Straße.«
»Sie klingen gar nicht so, als ob Sie aus Melbourne stammen«, sagte Bian jetzt.
»Das liegt daran, dass ich ursprünglich aus New York komme. Ich bin erst vor ein paar Jahren für meinen Job nach Melbourne gezogen.«
Ein weiteres Mal sackte das Flugzeug abrupt nach unten. Die Lichter flackerten. Sogar die Flugbegleiter wirkten jetzt nervös, als sie ihre Uniformen straffzogen und sich Mühe gaben, ihre übliche Körperhaltung einzunehmen.
Bian beobachtete sie aufmerksam und sah besorgt aus. »Ich denke gerade selbst darüber nach, nach Melbourne zu ziehen, um näher bei meiner Tochter sein zu können. Haben Sie Familie?«
Bill lächelte. »Eine Frau und zwei Jungs.«
»Wie alt?«
»Acht und zehn. Können ganz schön anstrengend sein, die beiden.«
Bian kicherte, klang aber immer noch nervös. »Das war bei meiner Tochter auch so. Ist es eigentlich immer noch. Sie ist ungebunden und ich werde nicht jünger. Ich möchte endlich ein paar Enkelkinder haben, mit denen ich spielen kann.«
Bill schnaubte. »Ich leihe ihnen gern jederzeit meine Kinder aus, vielleicht gegen einen kleinen Obolus.«
»Sind sie denn stubenrein?«
»Meistens.« Bill freute sich, dass Bian entspannt genug war, um mit ihm zu scherzen.
Das Flugzeug tauchte jetzt wieder nach unten. Dieses Mal schrie eine der Flugbegleiterinnen auf.
»Das hier ist jetzt aber nicht mehr im grünen Bereich«, sagte Bill angespannt.
»Sagen Sie das bloß nicht«, erwiderte Bian panisch. »Sie sind hier schließlich die Stimme der Vernunft.«
Eine Mutter streichelte beruhigend ihr kleines Kind, das sich ängstlich an sie klammerte. Die anderen Passagiere murmelten in einer Mischung aus Unzufriedenheit und Sorge.
Vor Bills Fenster gab es jetzt ein klapperndes Geräusch, gefolgt von einem lauten Knall. Doch bevor er nach draußen schauen konnte, stürzte das Flugzeug plötzlich gefühlt wie im freien Fall und neigte sich mit der Spitze nach unten. Die Passagiere schrien voller Panik auf.
Bill umklammerte seinen Bauch, in dem etwas nach oben schießen wollte. Der Flieger fiel so plötzlich nach unten, dass es sich anfühlte, als hinge seine Seele noch irgendwo über ihm. Bian umklammerte seinen Arm und schrie laut auf. Der Pilot war nun über die Lautsprecher zu hören. Er erteilte Anweisungen, aber der Lärm der panischen Passagiere in der Kabine und die immer lauter werdenden Fluggeräusche übertönten seine blecherne Stimme. Sauerstoffmasken fielen auf einmal von der Kabinendecke herunter.
Bill riss die für ihn bestimmte Maske aus der Luft, platzierte sie über Mund und Nase und befestigte sie mit dem Gummiband an seinem Kopf. Dann drehte er sich nach rechts und stellte fest, dass Bian bewusstlos geworden war. Er griff nach ihrer Maske, setzte sie ihr auf und sicherte sie, so gut er konnte.
Das Flugzeug schlingerte und torkelte in der Luft, und verlor immer weiter an Höhe. Die Flugbegleiterinnen riefen den Passagieren zu, die Schutzposition einzunehmen, und schnallten sich ebenfalls an.
Bill beugte Bian nach vorn, bevor er sich selbst