INSEL DER URZEIT. Rick Poldark
auf sie zukommen konnten. Wenn sie in den Ozean stürzten, würde er die Schwimmweste unter seinem Sitz hervorziehen, und das Sitzkissen würde als Schwimmhilfe dienen. Sobald er soweit war, würde er sich um Bian kümmern. Stürzten sie an Land ab, konnte er nichts tun, außer zu hoffen, dass er den Aufprall überlebte.
Er war schon so oft geflogen und nie hatte es auch nur ansatzweise technische Probleme gegeben. Sein Bewusstsein ergab sich nun zusammen mit seinem Magen der Panik. Er wollte sich so gern an etwas festhalten, egal was.
Das Flugzeug richtete sich jetzt wieder gerader aus und bereitete sich auf eine Not-Landung vor. Es gab einen lauten Knall, als der Boden den mehr herabstürzenden als landenden Metallzylinder berührte. Alles wurde schwarz. Von draußen flackerte Licht auf, als die Kabine auseinandergerissen wurde. Bill spürte kurz Regentropfen auf seinem Gesicht, und seine Augen wurden von einem grellen Licht geblendet. Dann war da wieder nur Schwärze.
***
Bill erwachte. Er hing seitlich an seinen Sicherheitsgurt gepresst in seinem Sitz und schwebte über Bian. Seine Sicht war verschwommen und er hatte hämmernde Kopfschmerzen. Über ihm grollte Donner, und heftiger Regen ergoss sich über die Rückseite seines Kopfes.
Er griff nach links, weil er mit der Seite der Kabinenwand etwas Solides berühren wollte, aber die Wand war nicht mehr da. Auch sein Fenster war weg. Stattdessen ertasteten seine Finger einen Rand aus gezacktem Metall. Als er wieder etwas erkennen konnte, sah er Bian seitlich unter ihm hängen. Ihre Beine baumelten schlaff über dem Gang.
Bill blickte sich vorsichtig um und realisierte, dass die Kabine auseinandergerissen worden war und ihr Inneres frei lag. Er sah üppige, von einem hellen Mond beschienene Vegetation, und hörte das Prasseln des Regens, der auf große tropische Blätter niederging. Überall um ihn herum lagen reglose Körper. Auf dem schlammigen Boden unter ihm ebenso wie in den Überresten der Kabine, wo sie aus ihren Sitzen hingen.
Er streckte die Hand aus und schüttelte Bian sanft. »Bian, geht es Ihnen gut? Bian!«
Doch sie rührte sich nicht. Er konnte leider nur ihren Hinterkopf sehen. In der Kabine gab es keinerlei Bewegung. War er der einzige Überlebende?
In der Ferne ertönte jetzt ein donnerndes und tiefes Grollen. Bill wusste, dass es kein Donner war. Das Geräusch war leise und knurrend, wie ein Rudel Löwen, die gedämpft brüllten. Er schaute auf den Rand der kleinen Lichtung. Die Bäume und die Vegetation bewegten sich. Wehte der Wind so heftig? Doch es war nicht der Wind … etwas bahnte sich einen Weg auf die Lichtung zu … etwas Großes.
Er hörte das Geräusch schwerer, stampfender Schritte und sah, wie dünne Baumstämme im rechten Winkel abknickten. Am Rand der Lichtung zeichnete sich jetzt eine große, dunkle Gestalt ab. Sie gab ein tiefes Grollen von sich, ähnlich dem eines Tigers. Das tiefe Geräusch zog über die Lichtung und löste unfassbare Panik in Bill aus, denn er hörte das Grollen nicht nur … er spürte es.
Zuerst erschien ein riesiger Kopf im grünen Blattwerk der Lichtung. Er sah aus wie der Kopf eines gewaltigen Vogels, bedeckt mit weißen Federn, doch der Schnabel war zu kurz und viel zu breit. Was daran lag, dass es gar kein Schnabel war. Das Wesen, zu dem der Kopf gehörte, trottete jetzt auf die Lichtung und sog dabei schnuppernd die Luft ein.
Bill fragte sich, ob er gestorben und an einen albtraumhaften Ort versetzt worden war, weil sich das riesige Ding etwa ein Dutzend Meter über den Boden erhob. Es hatte einen langen Schwanz, der an der Spitze gefiedert war. Es bewegte seinen Kopf in einer sich wiederholenden Pendelbewegung von einer Seite zur anderen und näherte sich dabei vorsichtig den Trümmern der Maschine.
Das Wesen schnüffelte in der Luft und gab grunzende Geräusche von sich. Dann stampfte es zu den Überresten des Flugzeugs und begann, es näher zu untersuchen.
Bill blieb absolut regungslos. Das Tier befand sich am anderen Ende des Wracks, und er wollte auf keinen Fall dessen Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Er betete, dass es bald das Interesse verlieren und wieder in den Bäumen verschwinden würde, wo es hergekommen war.
Das Tier stupste jetzt den zerbrochenen Rumpf mit seinem Maul an. Das ganze Wrack geriet daraufhin in Bewegung. Bill wimmerte leise, als er auf die linke Seite geworfen wurde. Das Wesen ließ jetzt einen Luftstoß aus seinen Nasenlöchern entweichen, was ein hohes Pfeifgeräusch erzeugte.
Es stupste den Rumpf erneut an und dann ein drittes Mal noch kräftiger, bis das Wrack sich anfing zu drehen. Bill spürte, wie die Überreste des Flugzeugs aufrecht zum Liegen kamen und er nicht mehr in der Luft hing. Seine Hände wanderten unauffällig zur Schnalle seines Sicherheitsgurtes.
Das Wesen stellte die Federn auf seinem Kopf auf wie ein Papagei, was irgendwie an die Frisur eines Punkrockers erinnerte. Es schnupperte erneut und stieß dann ein lautes Brüllen aus, während es rückwärts von den Trümmern wegsprang.
Als keine Reaktion aus dem Wrack erfolgte, schlich es wieder vorwärts. Es schob seine Nase in die Sitze hinein und schnüffelte laut. Dabei stieß es ein leises Grollen aus, öffnete seine massiven Kiefer und riss mit den Vorderzähnen einen Körper von einem der Sitze. Der leblose Oberkörper des Fluggastes, der immer noch angeschnallt war, riss in Stücke.
Das Tier legte den Kopf zurück, warf den Leckerbissen zu seinen hinteren Zähnen und ließ die Kiefer dann aufeinander krachen. Blut tropfte aus seinem Maul und befleckte seine weißen Federn, während es Knochen zermalmte und Fleisch zerkleinerte. Es schluckte den Bissen hinunter und schob die Nase zurück in den Sitz.
Oh mein Gott! Es frisst die Passagiere! Es frisst die verdammten Passagiere! Bill wurde klar, dass er buchstäblich ein gefundenes Fressen sein würde, wenn er in seinem Sitz blieb. Er öffnete daher vorsichtig die Gürtelschnalle. Mit einer langsamen kontrollierten Bewegung schob er die beiden Teile seines Sicherheitsgurtes von seinem Schoß.
Die Bestie hatte jetzt offenbar im wahrsten Sinne des Wortes Blut geleckt und begann, weitere Körper von den Sitzen zu pflücken. Es packte sie mit den Vorderzähnen, kaute sie ein paar Mal und schluckte sie dann hinunter. Es war ein grauenerregender Anblick. Seine Mitpassagiere waren bereits tot, das hoffte Bill zumindest, also spürten sie nichts. Aber es war trotzdem furchtbar zu sehen, wie dieses Ding sie fraß. Es hob ein riesiges, muskulöses Hinterbein an und hielt den Rumpf mit einem krallenbewehrten Fuß fest, während es weitere Fleischstücke aus dem Metallzylinder zog.
Bill hörte plötzlich ein leises Wimmern, das aus einer der Sitzreihen vor ihm kam. Es hatte also noch jemand überlebt! Psst!, dachte er. Wer auch immer es war, er oder sie würde unweigerlich die Aufmerksamkeit dieses Wesens auf sich ziehen. Jetzt sah er, wie jemand aufstand.
Es war eine Frau. Er konnte es trotz des schwachen Mondlichts an ihren langen Haaren erkennen. Sie wirkte benommen, denn sie schwankte hin und her und hielt sich den Kopf.
Setz dich gefälligst wieder hin! Kannst du das Tier nicht sehen?
Sie schrie plötzlich laut auf, was seine Frage beantwortete.
Das große, gefiederte Biest stellte sofort die Federn auf seinem Kopf auf und ließ ein ohrenbetäubendes Gebrüll erschallen, das gleichzeitig nach einem Frachtzug und einem Tier klang. Die Frau drehte sich um und humpelte panisch den Gang hinunter. Sie lief dabei geradewegs in Bills Richtung.
Das riesenhafte Tier nahm seinen Fuß vom Flugzeugrumpf, stampfte neben dem Flugzeug her und folgte ihr. Mit seinen großen Schritten holte es rasch zu ihr auf.
Bill musste unwillkürlich an diesen einen wirklich populären Film denken, der sich um Dinosaurier drehte. »Bleib sofort stehen!«
Die Frau war so erschrocken, eine andere menschliche Stimme zu hören, dass sie mitten in der Bewegung erstarrte.
»Beweg dich nicht!«, rief Bill ihr zu. »Es kann dich nicht sehen, wenn du dich nicht bewegst!«
Wenigstens hoffte er, dass der Fall war. Damals hatte er zumindest gehört, dass die Darstellung der Tiere in diesem speziellen Film auf sorgfältig recherchierten wissenschaftlichen Erkenntnissen beruht hatte. Außerdem war das Buch, auf dem der Film basierte, von einem richtigen Arzt geschrieben worden.