Insomnia : Savannas Geheimnis. Barbara Voors
Handy gibt einen Piepton von sich, eine neue Nachricht. Sam reicht es mir ins Zelt hinein, meine Tränen werden mit einem unbekannten geblümten Taschentuch getrocknet.
»Wem gehört es?«
»Susanne.«
Wir werden also bald einen weiteren Hund auf dem Friedhof haben. Ich lese die Nachricht, zucke schon beim ersten Satz zusammen: »Vielleicht soll ich es ganz deutlich sagen: Ich überwache Dich. Du weißt sehr wohl, was Du gesehen hast, auch ich weiß es.« Dann erneut: »Sei vorsichtig bei Deinem Handeln, überlege, was Du tust. Euren Platz zu kennen und sich an ihn zu halten, ist eine Sache, die Euch Frauen immer schwerzufallen scheint.«
Wie soll ich das hier begreifen? grüble ich und schneuze mich. Vorsichtig? Ist die Liebe so? Ich denke an Sams Frauen, an ihre glänzenden Augen und verfitzten Haare von zuviel Intimität in viel zu kurzer Zeit. Ihren fast wie zerschlagen wirkenden Gang durch unsere Wohnung, vor der Stunde, wo Sam die Doppeltür aufstößt. Ertränkt von Liebe, so sehen sie aus. Geschwollene Lippen, zitternde Schenkel, die Brüste gleichsam spitz. Vorsichtig? Liebe geht unvorsichtig zuwege und läßt uns gestrandet und atemlos zurück, entsetzt über die Welle, die uns beim Nacken packte und hier aussetzte. Banal? Ja, sicher. Wir, die Schiffbrüchigen, sind nicht wählerisch.
»Sam?« sage ich und tauche aus dem Zelt auf, der Schlafanzug hat unzählige Knitterfalten und Heulspuren.
»Schwester?«
»Ich möchte gern wissen, ob das Liebe ist«, sage ich und stehe auf, um ihm all die Nachrichten zu zeigen, die ich in den letzten Wochen erhalten habe.
»Aber Savanna, überlege genau, wen du fragst! Was weiß ich denn von Liebe?«
Er hat recht. Was wissen wir beide davon? Wir sehen uns an, er lacht. Ich kann es nicht.
»Sollte ich mir langsam Sorgen machen? Angst haben oder entzückt sein, Sam?«
Er liest die Nachrichten, sieht verblüfft aus, es passiert nicht oft, daß er keine Antwort weiß. Er schielt zu dem Berg Schokoladentafeln, die keinerlei Spuren zu hinterlassen scheinen, weder auf seinem mageren Körper noch auf seinem schönen Gesicht.
»Du fragst mich nach Liebe«, stellt er fest.
Er liest noch einmal. Wir nicken beide. Keiner weiß, weshalb.
»Jemand ist offenbar beeindruckt«, bringt er heraus.
Ich sehe, daß mein Bruder, der die Fähigkeit einer Katze hat, zwischen einer Menge Leben zu wählen, sich wirklich anstrengt. Vor uns liegt das Taschentuch, das an Susanne erinnert, an die Resignation, mit der sie Sam ein letztes Mal geküßt hat, und daran, wie sie mitten in all der Trauer zu einer faszinierenden Erkenntnis fand: »Hieran habe ich eine Erinnerung, wenn auch eine schmerzliche: Ich habe gelebt.«
Sam hebt das Taschentuch auf, riecht kurz daran, schaut mich an und sagt: »Nein, Savanna, das hier ist etwas anderes. Aber frage mich nicht, was.«
Ich schnappe heftiger nach Luft als beabsichtigt, es klingt wie ein Schluchzer. Das verwundert uns beide. Dann folgen weitere, ich kann nicht aufhören.
»Sam, ich friere so.«
Sam schließt alle Fenster, holt einen Pullöver. Der ist weich, es hilft nichts – er kratzt trotzdem.
7. Kapitel
Ich warte auf meinen Zeitungsboten. Ich muß ihn etwas fragen, wegen der Zustellzeiten. Ob sie möglicherweise in Schichten arbeiten, ob es daran liegt, daß ich nachts so merkwürdige Schritte auf der Treppe höre, meist gegen Mitternacht. Wie sie zuerst vor meiner Tür innehalten, um sich dann nach unten zu entfernen, während ich mit weit offenen Augen und ohne Zeitung zurückbleibe. Manchmal höre ich auch, wie gleich, nachdem ich heimgekommen bin, die Haustür geöffnet wird und wieder zuschlägt. Aber wenn ich auf die Treppe hinausgehe, um zu sehen, wer es war, ist niemand dort.
Ich weiß nicht, was ich davon halten soll. Ob ich vielleicht Listen anlegen, neue Mappen einrichten sollte? Wie kann ich sie in dem Fall nennen: »Schritte ohne sichtbaren Körper sowie Liebesbriefe über das moderne Tele-Netz«? Vielleicht kann ich sie neben Paulinas dünnen Ordner stellen. Darin ist ein Zeitungsausschnitt enthalten, eine Quittung der Pension in Roslagen mit einem jetzt bald vierundzwanzig Jahre zurückliegenden Datum sowie die Wiedergabe meines Gesprächs mit David Fawlkner. Oder soll ich meine neue Mappe neben die drei dicken Ordner stellen, die vollgepfropft sind mit Kopien von Elizabeth Browns gesammelter journalistischer Produktion, mit Rezensionen zu ihren beiden Romanen, haßerfüllten Artikeln über ihre Person (besonders nach der Kritik am Königshaus), ihren eigenen wohlformulierten Antworten, den vielen Interviews mit ihr (dem Artikel über das beinahe fertige Insomnia) sowie allen Nachrichtenbeiträgen voller Spekulationen über ihr Ableben.
Elizabeths Tod wurde schließlich als Selbstmord abgetan. Ich glaube es besser zu wissen. Genau dafür gedenke ich meine Privatforschung zu nutzen. Sofort erzeugt das wieder ein schlechtes Gewissen. Ein Jahr habe ich von Ljunggren bekommen, und schon jetzt bin ich erneut treulos, unzuverlässig und unsichtbar. Trotz seiner Erfrischungstücher und seiner noblen Würdigung all dessen, was ich nicht tue. Mir scheint, ich habe die Fähigkeit, älteren Männern sanfte Zärtlichkeit für mich zu entlocken. Ich weiß nicht, ob ich es beunruhigend oder amüsant finden soll, eher frage ich mich, was ich getan habe, um das zu verdienen. Aber ich bin dankbar für diese Zärtlichkeit, mein Defizit daran ist groß.
Ja, vielleicht sollte ich einen neuen Ordner für das Unbegreifliche anlegen. Ihn mein eigenes Insomnia nennen, die bedrohlichen Briefe darin abheften und ignorieren, während das Licht der Morgendämmerung meine Augen blendet und unerbittlich sagt: »Du hast es auch heute nacht nicht geschafft, ich war schneller als der Schlaf.«
Als die Zeitung kommt, nehme ich sie auf der Innenseite der Tür entgegen, und an der Art des Boten, sie festzuhalten, um mich zu necken, erkenne ich, daß mein regulärer Zeitungsmann zurück ist. Ich schließe die Tür auf und erhalte das Blatt direkt aus seiner Hand.
»Willkommen zu Hause, Jonas.«
Seine Augen glänzen.
»Danke.«
»Möchtest du ein Milchbrötchen? Ich habe eben ein paar aufgebacken.«
»Ganz schnell, aber sehr gern.«
Wir setzen uns in die Küche, und er zündet die Kerzen an, wie er es immer tut. Wir erholen uns in der Stille, während das Teewasser kocht, in dieser Nicht-Zeit, die vergeht, während wir darauf warten, daß der nächste Augenblick beginnt.
»Du bist also noch immer wach?«
»Das liegt am Licht. Die Dämmmerung kommt immer zeitiger«, versuche ich mich herauszureden. »Und bei dem Sommerlicht braucht man ja nur wenig Schlaf.«
»Sicher.«
Dieselbe Eigenschaft, die mein Bruder besitzt. Ich wußte nicht, wie sehr mir das gefehlt hatte. Wieder Ruhe. Ich kann eine weitere Nacht durchstehen. Mit Sam nebenan und meinem Zeitungsmann, in Shorts und mit einem Milchbrötchen in der Hand vor mir – sicher stehe ich noch eine Nacht durch.
»Jonas? Wer hat den Code für unser Haus?«
»Ich weiß nicht genau. Wir, die Post, verschiedene Lieferanten, die Polizei und die Feuerwehr ... Außerdem gibt es ja Standardcodes, die man benutzen kann. Warum fragst du?«
Ich umgehe die Antwort. Es verlangt äußerste Konzentration, den Tee für die Kanne abzumessen, blinzelnd lege ich den Kopf schräg. Um Tee aufzugießen, ist jede Menge Präsenz erforderlich.
»Savanna!«
»Ihr Zeitungsboten arbeitet nicht vielleicht in zwei Schichten? Zuerst einer gegen zwölf und dann du etwa um drei?«
»Mit zwei verschiedenen Zeitungen, meinst du? In der ersten Schicht wird das Feuilleton und die Sportbeilage verteilt, und dann komme ich ein paar Stunden später mit dem Hauptteil.«
»Okay.«
»Das ist auch eine Idee, ich