Gesammelte Werke von Emile Zola: Die Rougon-Macquart Reihe, Romane & Erzählungen. Emile Zola
schonen, wenn sie dich in ihrer Gewalt hätten?
Auf dem Rathause ging Rougon daran, den Hinterhalt vorzubereiten. Granoux war ihm dabei sehr nützlich. Er sandte durch ihn seine Weisungen an die verschiedenen Posten, welche die Wälle bewachten. Die Nationalgardisten sollten sich in kleinen Gruppen und verstohlen nach dem Rathause begeben. Roudier, dieser nach der Provinz verschlagene Pariser Spießbürger, der die ganze Sache hätte verderben können, indem er Menschlichkeit predigte, wurde gar nicht benachrichtigt. Gegen elf Uhr war der Hof des Rathauses voll Nationalgardisten. Rougon jagte ihnen Entsetzen ein; er erzählte ihnen, daß die in Plassans gebliebenen Republikaner einen verzweifelten Handstreich versuchen würden; er schätzte sich glücklich, durch seine Geheimpolizei rechtzeitig Wind bekommen zu haben. Nachdem er ein bluttriefendes Bild von dem Gemetzel geliefert hatte, dessen Opfer die Stadt werde, wenn die Elenden sich der Gewalt bemächtigen würden, gab er den Befehl, kein Wort mehr zu sprechen und alle Lichter auszulöschen. Er selbst ergriff eine Flinte. Seit dem Morgen ging er wie in einem Traume umher; er erkannte sich selbst nicht mehr; er fühlte Felicité hinter sich, in deren Hände die Krise der Nacht ihn geschleudert hatte und würde sich haben hängen lassen mit den Worten: Tut nichts; meine Frau wird schon kommen, mich loszumachen. Um das Getöse zu verstärken und den Schrecken über der schlafenden Nacht zu verlängern, bat er Granoux, sich nach der Kathedrale zu begeben und bei den ersten Flintenschüssen Sturm läuten zu lassen. Der Name des Marquis sollte ihm die Türe des Mesners öffnen. Im Schatten und in der Stille des Hofes harrten die geängstigten Nationalgardisten, die Augen auf das Tor gerichtet und von Ungeduld gefoltert, ihre Gewehre abzuschießen, wie auf der Lauer nach Wölfen.
Inzwischen hatte Macquart den Tag bei Tante Dide zugebracht. Er hatte sich auf dem alten Koffer ausgestreckt und bedauerte, daß er nicht mehr auf dem weichen Sofa des Herrn Garçonnet liegen könne. Wiederholt überkam ihn ein wahnsinniges Verlangen, in ein benachbartes Kaffeehaus zu gehen und dort seine zweihundert Franken anzuzapfen. Dieses Geld, das er in eine Westentasche gesteckt hatte, brannte ihm die Seite; er benützte seine Muße dazu, es im Geiste auszugeben. Seine Mutter, die seit einigen Tagen ihre Kinder schreckensbleich in ihr Haus kommen sah, ohne deshalb aus ihrem Stillschweigen herauszutreten und die Unbeweglichkeit ihres Gesichtes zu verlieren, ging vor ihm hin und her mit ihren steilen, unbewußten Bewegungen und schien seine Anwesenheit nicht zu bemerken. Sie wußte nichts von dem Schreck, der die ganze verschlossene Stadt im Banne hielt; sie war tausend Meilen weit von Plassans, jenem steten Gedanken nachhängend, der ihre Augen weit offen, ihre Sinne leer erhielt. Und doch brachte in jener Stunde eine Unruhe, eine menschliche Sorge einen Augenblick ihre Wimpern zum Zucken. Antoine, der dem Verlangen, einen guten Bissen zu essen, nicht widerstehen konnte, sandte sie aus, um von einem Gastwirte der Vorstadt ein gebratenes Huhn zu holen. Als er bei Tische sitzend sich damit gütlich tat, sagte er zu der Alten:
Du ißt nicht oft Huhn, wie? Das ist für solche, die da arbeiten und ihr Geschäft verstehen. Du aber hast nur immer alles vergeudet ... Ich wette, daß du deine Ersparnisse diesem frommen Rührmichnichtan Silvère gibst. Der Duckmäuser hat eine Geliebte. Hast du irgendwo etwas Geld verborgen, so wird er eines Tages sicher den Schatz heben.
Er trieb seinen Spott mit ihr; eine wilde Freude durchloderte ihn. Das Geld, das er in der Tasche hatte; der Verrat, den er vorbereitete, die Gewißheit, sich teuer verkauft zu haben: sie erfüllten ihn mit der Zufriedenheit der Bösewichte, die im Schlechten ihre natürliche Heiterkeit und ihre Spottsucht wiederfinden. Aber Tante Dide hörte aus all dem nur den Namen Silvère heraus.
Hast du ihn gesehen? fragte sie, endlich die Lippen öffnend.
Wen? Silvère? entgegnete Antoine. Er spazierte unter den Aufständischen umher mit einem großen, roten Mädchen am Arm. Wenn er eine blaue Bohne erwischt, wird ihm ganz recht geschehen.
Die Alte blickte ihn starr an.
Warum? fragte sie in ernstem Tone.
Ei, weil er ein Tölpel ist, erwiderte Antoine verlegen. Hat man je gehört, daß man für solche Sachen seine Haut riskiert? Ich habe meine Sache in Ordnung gebracht; ich bin kein Kind.
Doch Tante Dide hörte ihn nicht.
Er hatte schon die Hände voll Blut, murmelte sie. Man wird mir ihn töten wie man den andern getötet hat. Seine Oheime werden die Gendarmen nach ihm aussenden.
Was plappert Ihr da? sagte ihr Sohn, den Rest des Huhns verzehrend. Ich verlange, daß man es mir ins Gesicht sagt, wenn man etwas wider mich hat. Wenn ich manchmal mit dem Kleinen von der Republik sprach, so geschah es nur, um ihn auf vernünftigere Gedanken zu bringen. Er war rein närrisch. Ich liebe die Freiheit, aber ich will nicht, daß sie in Zügellosigkeit ausartet. Und Rougon hat meine Achtung; das ist ein Mann von Mut und Klugheit.
Er hatte die Flinte bei sich, nicht wahr? unterbrach ihn Tante Dide, deren trüber Geist dem fernen Silvère auf seinem Wege zu folgen schien.
Die Flinte? Ach ja, Macquarts Flinte, fuhr Antoine fort, nachdem er einen Blick auf den Kaminmantel geworfen, wo sonst die Waffe hing. Ich glaube, sie in seinen Händen gesehen zu haben. Ein nettes Ding, um mit einem Mädchen im Arm in Wald und Feld herumzustreifen. Welch ein Tor!
Er glaubte einige plumpe Späße machen zu sollen. Tante Dide ging jetzt wieder im Zimmer ab und zu. Sie sprach kein Wort mehr. Gegen den Abend entfernte sich Antoine, nachdem er eine Bluse angezogen und eine tiefe Mütze, die seine Mutter ihm gekauft, aufgesetzt und über die Augen herabgezogen hatte. Er betrat die Stadt, wie er sie verlassen, indem er den Nationalgardisten, die das römische Tor bewachten, irgendeine Geschichte vormachte. Dann begab er sich nach dem alten Stadtviertel, wo er verstohlen von Tür zu Tür schlich. Alle eifrigen Republikaner, alle Genossen, die den Aufständischen nicht gefolgt waren, fanden sich gegen neun Uhr in einem Winkelkaffeehause ein, wohin Macquart sie bestellt hatte. Als ihrer etwa fünfzig beisammen waren, hielt er ihnen eine Rede, in welcher er von einer persönlichen Rache sprach, die befriedigt, von einem Siege, der errungen, von einem Joche, das abgeschüttelt werden mußte; zum Schlusse machte er sich anheischig, ihnen binnen zehn Minuten das Rathaus in die Hände zu liefern. Er komme soeben von dort, und es sei leer, versicherte er; wenn sie wollten, würde noch diese Nacht die rote Fahne vom Giebel des Rathauses flattern. Die Arbeiter berieten untereinander; zu dieser Stunde liege die Reaktion in den letzten Zügen, die Aufständischen ständen vor den Toren der Stadt; die Ehre gebiete, sich der Gewalt zu bemächtigen, ehe sie zurückkehren; dies werde gestatten, sie als Brüder zu empfangen, mit offenen Toren und geschmückten Straßen und Häusern. Überdies hatte niemand Mißtrauen gegen Macquart; sein Haß gegen die Rougon, die persönliche Rache, von der er sprach, bürgten für seine Aufrichtigkeit. Es wurde vereinbart, daß alle jene, die zu jagen pflegten und eine Flinte besaßen, ihre Waffen holen sollten und daß man sich um Mitternacht auf dem Rathausplatze treffen werde. Es gab allerdings ein kleines Hindernis, das sie stutzig machte: sie hatten keine Kugeln; doch sie beschlossen, ihre Gewehre mit Schrot zu laden, was schließlich auch überflüssig sei, da sie doch nicht auf einen Widerstand stoßen würden.
Wieder einmal sah Plassans bewaffnete Männer in den vom Monde erhellten Straßen die Häuser entlang huschen. Als die Bande vor dem Rathause versammelt war, trat Macquart kühn, aber vorsichtig offenen Auges hervor. Er klopfte an das Tor und als der Pförtner, der von Rougon abgerichtet worden, fragte, was man wolle, stieß der andere solche furchtbare Drohungen aus, daß der Pförtner ganz erschreckt tat und sogleich öffnete. Langsam taten sich die beiden Torflügel auf. Leer und hohl klaffte das weite Torgewölbe.
Da rief Macquart mit lauter Stimme:
Kommt, ihr Freunde!
Dies war das Signal. Er selbst trat rasch zur Seite und während die Republikaner hereinstürzten, blitzten vom finsteren Hofe her Flammen auf und krachten Schüsse, die unter der Torwölbung dumpf widerhallten. Das Tor spie den Tod. Erbittert durch das lange Warten, nach Erlösung von dem Alp lechzend, der in diesem finsteren Hofe sie bedrückte, hatten die Nationalgardisten in fieberhafter Hast alle zugleich ihre Flinten abgeschossen. Der Blitz war so hell, daß Macquart in dem fahlen Scheine des Schießpulvers deutlich sah, wie Rougon zu zielen suchte. Er glaubte den Lauf seines Gewehres auf sich gerichtet, erinnerte sich des Errötens Felicités und flüchtete, indem er brummte:
Nur keine Dummheiten!