Gesammelte Werke von Emile Zola: Die Rougon-Macquart Reihe, Romane & Erzählungen. Emile Zola

Gesammelte Werke von Emile Zola: Die Rougon-Macquart Reihe, Romane & Erzählungen - Emile Zola


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Schrecken der Nacht steigerte noch den furchtbaren Eindruck, den am Morgen der Anblick der vier Leichen hervorgebracht hatte. Die wahre Geschichte dieses kleinen Nachtgefechtes wurde nie bekannt. Die Schüsse der Kämpfenden, Granoux' Glockenschläge, der tolle Lauf der Nationalgardisten durch die Straßen: sie hatten die Ohren mit so fürchterlichem Lärm erfüllt, daß die meisten noch immer von einer Riesenschlacht träumten, die einer unermeßlichen Anzahl von Feinden geliefert war. Als die Sieger in unbewußter Prahlerei die Zahl ihrer Gegner vergrößernd, von ungefähr fünfhundert Mann sprachen, ward dies heftig bestritten und es gab Bürger, die da behaupteten, von ihrem Fenster eine Stunde hindurch die Menge der Flüchtigen beobachtet zu haben. Übrigens wollten alle den wilden Lauf der Banditen unter ihren Fenstern gehört haben. Unmöglich hätten fünfhundert Mann eine ganze Stadt so plötzlich aus ihrer Ruhe aufscheuchen können. Es war eine Armee, eine vollständige und große Armee, durch die tapfere Bürgerwehr von Plassans hinweggefegt. Das Wort »hinweggefegt« fand man sehr zutreffend; denn die mit der Verteidigung der Stadtwälle betrauten Posten schworen bei allen großen Göttern, daß kein einziger Mann herein- noch hinausgekommen sei. Dieser Umstand verlieh der Waffentat noch einen Schimmer von Geheimnis; man dachte an gehörnte Teufel, die sich in die Flammen stürzten; kurz, die Geister gerieten vollends auf Abwege. Allerdings schwiegen die Posten von ihrem wütenden Galopp durch die Stadt. Darum hielten sich selbst die vernünftigsten Leute an den Gedanken, daß eine Aufrührerbande bei einer Bresche oder durch irgendein Loch eingedrungen sein müsse. Später munkelte man von Verrat, von einem Hinterhalte; die Leute, die Macquart auf die Schlachtbank geführt, konnten die grause Wahrheit allerdings nicht erfassen; aber es herrschte noch ein solcher Schrecken, der Anblick des Blutes hatte der Reaktion eine solche Anzahl von Feiglingen zugeführt, daß man diese Gerüchte der Wut der besiegten Republikaner zuschrieb. Von anderer Seite wurde behauptet, daß Macquart der Gefangene Rougons sei, daß dieser ihn in einem feuchten Verlies gefangen halte und daselbst eines langsamen Hungertodes sterben lasse. Diese Schreckensmär bewirkte, daß Rougon mit ehrerbietigsten Bücklingen begrüßt wurde.

      So kam es, daß dieser plumpe, schlappe, bleiche, dickwanstige Spießbürger in einer Nacht zu einem furchtbaren Herrn wurde, über den niemand zu lachen wagte. Er hatte im Blute gewatet. Die Bevölkerung der Altstadt blieb angesichts der Toten stumm vor Entsetzen. Doch gegen zehn Uhr, als die vornehmeren Leute aus der Neustadt kamen, hörte man auf dem Rathausplatze halblaute Gespräche, unterdrückte Ausrufe. Man sprach von dem anderen Angriff, von jener Einnahme des Rathauses, bei der bloß ein Spiegel zertrümmert worden war; und jetzt scherzte man nicht mehr über Rougon, man nannte seinen Namen mit ehrerbietigem Schreck; er war wirklich ein Held, ein Retter. Die Leichen starrten mit ihren offenen Augen auf die Herren Advokaten und Rentenbesitzer, die zusammenschauerten, indem sie sich sagten, daß der Bürgerkrieg seine traurigen Notwendigkeiten habe. Der Notar, der gestern die Abordnung der Bürger nach dem Rathause geführt hatte, ging von Gruppe zu Gruppe und erzählte von dem »Ich bin bereit« des energischen Mannes, dem man das Heil der Stadt verdankte. Alle hatten sich ergeben. Die sich über die Einundvierzig am grausamsten lustig gemacht, besonders die, die Rougon Ränkestifter und Feiglinge genannt hatten, die nur in die Luft schießen, sprachen zuerst davon, einen Lorbeerkranz »dem großen Manne zu widmen, der Plassans zu ewigem Ruhme gereichen werde«. Denn die Blutlachen trockneten auf dem Straßenpflaster; die Toten kündeten durch ihre Wunden, bis zu welcher Kühnheit die Partei der Unordnung, der Plünderung, des Mordes gediehen war, und welcher starken Hand es bedurfte, um den Aufstand zu unterdrücken.

      Granoux nahm in der Menge Beglückwünschungen und Händedrücke entgegen. Die Geschichte mit dem Hammer war bekannt geworden. Vermöge einer harmlosen Lüge, an die er selbst bald zu glauben begann, gab er vor, daß er zuerst die Aufständischen gesehen und Sturm geläutet habe; sei er nicht gewesen, so wären die Nationalgardisten niedergemetzelt worden. Dies verdoppelte noch seine Wichtigkeit. Sein Auskunftsmittel wurde als wunderbar bezeichnet. Man nannte ihn nur mehr »Herr Isidor; der Herr, der mit dem Hammer Sturm geläutet hat«. Obgleich der Satz etwas lang war, würde Herr Granoux ihn gern als Adelstitel angenommen haben; man konnte fortan das Wort »Hammer« nicht vor ihm aussprechen, ohne daß er an eine zarte Schmeichelei glaubte.

      In dem Augenblick, als man die Leichen fortschaffte, kam Aristide hinzu, um zu sehen. Er betrachtete die Leichen von allen Seiten, forschte und schnupperte herum, befragte alle Gesichter. Seine Miene war ruhig, seine Augen hell. Mit seiner gestern noch verbundenen, jetzt freien Hand hob er die Bluse eines der Toten in die Höhe, um die Wunde besser betrachten zu können. Diese Prüfung schien ihn zu überzeugen, ihm jeden Zweifel zu benehmen. Er kniff die Lippen zusammen und stand eine Weile wortlos da: dann ging er, um die Ausgabe des »Unabhängigen« zu beschleunigen, in dem er einen großen Artikel veröffentlichte. Während er die Häuser entlang dahinschritt, erinnerte er sich des Wortes seiner Mutter: »Morgen sollst du sehen.« Was er gesehen, war sehr stark; es schreckte ihn sogar ein wenig. Indes begann Rougon sich in seinem Siege unbehaglich zu fühlen. Im Kabinett des Herrn Garçonnet allein, das dumpfe Geräusch der Menge hörend, hatte er eine seltsame Empfindung, die ihn abhielt, sich auf dem Balkon zu zeigen. Das Blut, in dem er gewatet, machte ihm die Beine schwer. Er fragte sich, was er bis zum Abend anfangen solle. Sein armer, leerer Kopf, durch die Krise der Nacht völlig verstört, suchte verzweifelt eine Beschäftigung, eine Weisung, die er erteilen, eine Maßregel, die er ergreifen könne und die ihn zerstreuen werde. Aber er wußte nichts mehr. Wohin führte ihn Felicité? War es jetzt aus oder wird er noch mehr Leute töten müssen? Die Furcht erfaßte ihn wieder: schreckliche Zweifel tauchten in ihm auf; schon sah er die Stadtmauern auf allen Seiten von der rächenden Armee der Republikaner beschossen, als ein ungeheurer Schrei: »Die Aufständischen, die Aufständischen!« unter den Fenstern des Rathauses ertönte. Er fuhr auf und hob einen Vorhang in die Höhe. Da konnte er die Menge verzweifelt über den Platz rennen sehen. Bei diesem Donnerschlag sah er sich in weniger denn einer Sekunde ruiniert, geplündert, ermordet; er fluchte seiner Frau, er fluchte der ganzen Stadt. Als er einen Ausweg suchend, mißtrauisch um sich blickte, hörte er das Volk in einen Jubel ausbrechen, daß die Scheiben erzitterten. Er trat wieder ans Fenster; die Frauen ließen ihre Tücher flattern, die Männer sanken einander in die Arme; einige faßten sich bei den Händen und tanzten. Er war ganz blöde, begriff nichts von all dem, sein armer Kopf drehte sich im Kreise, er fühlte sich furchtbar geängstigt in diesem großen, öden, stillen Rathause.

      Als Rougon später seiner Frau beichtete, vermochte er niemals zu sagen, wie lange seine Marter gedauert hatte. Er erinnerte sich bloß, daß laute Tritte, die in den weiten Sälen widerhallten, ihn aus seiner Bestürzung geweckt hatten. Er erwartete die mit Sensen und Knütteln bewaffneten Blusenmänner und sah die Gemeindevertretung eintreten, ehrsam, schwarz gekleidet, mit strahlender Miene. Nicht ein Mitglied fehlte. Eine glückliche Nachricht hatte alle die Herren mit einem Male geheilt. Granoux warf sich seinem teuren Präsidenten in die Arme.

      Die Soldaten sind da! stammelte er; die Soldaten!

      In der Tat war ein Regiment eingetroffen, das den Befehlen des Obersten Masson und des Bezirkspräfekten, Herrn von Blériot gehorchte. Die von den Wällen in der fernen Ebene wahrgenommenen Gewehre hatten anfänglich den Glauben erweckt, daß die Aufständischen sich näherten. Die Erregung Rougons war so groß, daß zwei schwere Tränen ihm über die Wangen rannen. Der große Bürger weinte! Die Gemeindevertretung sah mit respektvoller Bewunderung diese Tränen. Doch Granoux warf sich von neuem seinem Freunde an den Hals und rief:

      Wie glücklich bin ich! Sie wissen, ich bin ein freier Mann. Nun denn: wir alle hatten Furcht; nicht wahr, meine Herren, wir alle? Sie allein waren groß, mutig, erhaben. Welche Energie mußten Sie besitzen! Ich sagte vorhin zu meiner Frau: Rougon ist ein großer Mann; er verdient eine Auszeichnung.

      Jetzt schlugen die Herren vor, dem Präfekten entgegen zu gehen. Betäubt, fassungslos, an einen so plötzlichen Triumph nicht glauben wollend, stammelte Rougon wie ein Kind. Jetzt erst kam er wieder zu Atem. Ruhig, und mit der Würde, welche die feierliche Gelegenheit erheischte, ging er hinab. Doch die Begeisterung, mit der die Gemeindevertretung und deren Obmann auf dem Rathausplatze empfangen wurden, brachte diesen Würdenträger abermals in Verwirrung. Sein Name machte die Runde in der Menge, diesmal von den wärmsten Lobsprüchen begleitet. Er hörte ein ganzes Volk den Wunsch Granoux' wiederholen, ihn wie einen Helden zu feiern, der inmitten des allgemeinen Schreckens


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