Gesammelte Werke von Emile Zola: Die Rougon-Macquart Reihe, Romane & Erzählungen. Emile Zola

Gesammelte Werke von Emile Zola: Die Rougon-Macquart Reihe, Romane & Erzählungen - Emile Zola


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begann von neuem zu zählen. Die letzten Louisdors klangen, als ein grelles Gelächter ihn zwang, den Kopf zu wenden. Tante Dide stand aufrecht vor ihrem Bette, mit offenem Kleide, die weißen Haare lose herabfällend, das bleiche Gesicht rote Flecke zeigend. Pascal hatte vergebens versucht, sie zurückzuhalten. Die Arme ausstreckend, von einem gewaltigen Fieberfrost geschüttelt bewegte sie im Fieberwahn den Kopf.

      Das Blutgeld! Das Blutgeld! rief sie wiederholt. Ich habe das Gold gehört ... Und sie sind es, die ihn verkauft haben! ... Ha, die Mörder, die Wölfe! ...

      Sie warf die Haare zurück und strich mit der Hand über die Stirne, wie um darin zu lesen. Dann fuhr sie fort:

      Ich sah ihn seit langer Zeit, die Stirne von einer Kugel durchlöchert. In meinem Kopfe gab es immer Leute, die mit Flinten in der Hand ihm auflauerten. Und sie winkten mir, daß sie schießen wollen ... Es ist abscheulich! ... Ich fühle, wie sie mir die Glieder brechen und den Schädel aushöhlen. Oh, Gnade, Gnade! Ich bitte euch! Er soll sie nicht mehr sehen, nicht mehr lieben! Ich will ihn einsperren ... ich will ihn verhindern, an ihren Röcken zu hängen ... Gnade, Gnade! ... Schießet nicht! ... Es ist nicht meine Schuld ... wenn ihr wüßtet ...

      Sie war fast in die Knie gesunken, weinte und flehte und streckte die zitternden Hände gegen irgendein schauerliches Bild aus, das ihr im Schatten auftauchte. Plötzlich richtete sie sich auf, ihre Augen erweiterten sich noch mehr, ihrer zusammengepreßten Brust entfuhr ein fürchterlicher Schrei, wie wenn ein ihr allein sichtbares Schauspiel sie mit wahnsinniger Furcht erfüllt hätte.

      Oh, der Gendarm! rief sie erstickend, zurückweichend, auf ihr Lager sinkend, wo sie sich in langen, wilden Lachkrämpfen wälzte.

      Pascal folgte der Krise mit aufmerksamen Blicken. Die beiden entsetzten Brüder, die nur unzusammenhängende Sätze erfaßten, hatten sich in einen Winkel der Stube geflüchtet. Als Rougon das Wort Gendarm hörte, glaubte er zu verstehen; seit der Ermordung ihres Liebhabers an der Grenze, nährte Tante Dide einen tiefen Haß gegen die Gendarmen und die Zollwächter, die sie in ihren Rachegedanken miteinander verwechselte.

      Sie erzählt uns da die Geschichte des Wilderers, brummte er.

      Pascal winkte ihm zu schweigen. Die Sterbende richtete sich mühsam wieder auf. Verstört und blöde schaute sie um sich. Einen Augenblick blieb sie stumm, suchte dann die Gegenstände zu erkennen, als befinde sie sich an einem unbekannten Orte. Dann fragte sie plötzlich in unruhigem Tone:

      Wo ist die Flinte?

      Der Arzt legte den Karabiner in ihre Hände. Sie stieß einen schwachen Freudenschrei aus, betrachtete lange die Waffe und sagte leise, mit der singenden Stimme eines jungen Mädchens:

      Das ist sie ... ich erkenne sie ... Sie ist voll mit Blut ... Heute sind es frische Flecke ... Seine blutigen Hände haben an dem Kolben rote Spuren zurückgelassen ... Ach arme, arme Tante Dide! ...

      Von neuem begann sie den wirren Kopf hin und her zu wenden und verharrte eine Weile in stillem Brüten.

      Der Gendarm ist tot, brummte sie dann, und ich habe ihn gesehen, er ist wiedergekommen ... Diese Halunken sterben nie!

      Von einer unheilkündenden Wut ergriffen, die Waffe schwingend, näherte sie sich ihren beiden Söhnen, die schreckensbleich an der Wand lehnten. Sie schleifte ihre losen Röcke hinter sich einher, ihr verkrümmter Leib richtete sich auf, halbnackt, durch das Alter schauerlich ausgedörrt.

      Ihr habt geschossen! schrie sie. Ich habe das Gold gehört ... Oh, ich Unglückliche habe nur Wölfe zur Welt gebracht. Eine ganze Familie, eine ganze Brut von Wölfen ... Ein armes Kind war da, das haben sie gefressen; jeder hat darauf eingehauen, noch trieft das Blut von ihnen ... Ha, die Verfluchten! Sie haben gestohlen, sie haben getötet und sie leben wie feine Herren. Verflucht! Verflucht! Verflucht!

      Sie sang und lachte und schrie und wiederholte: Verflucht! in einem seltsamen Tönfall, der dem Prasseln einer Gewehrsalve glich. Mit Tränen in den Augen nahm Pascal sie in seine Arme und brachte sie wieder zu Bette. Sie setzte ihren Gesang fort, den Rhythmus beschleunigend und mit ihren dürren Händen auf der Bettdecke den Takt schlagend.

      Sie ist wahnsinnig, sagte der Arzt; das befürchtete ich. Der Schlag war zu hart für ein armes Wesen, das wie sie heftigen nervösen Anfällen ausgesetzt war. Sie wird in einem Irrenhause sterben, wie ihr Vater.

      Aber, was hat sie denn sehen können? fragte Rougon, aus dem Winkel hervortretend, in den er sich, geflüchtet hatte.

      Ich habe eine furchtbare Ahnung, entgegnete Pascal. Ich wollte dir von Silvère sprechen, als du kamst. Er ist gefangen. Man muß bei dem Präfekten einen Schritt für ihn tun, um ihn zu retten. Noch ist es Zeit.

      Der ehemalige Ölhändler sah erbleichend seinen Sohn an. Dann erwiderte er rasch:

      Wache über sie; ich bin heute zu viel beschäftigt. Morgen wollen wir sie nach dem Irrenhause in Tulettes schaffen lassen. Ihr, Macquart, müßt noch heute nacht fort, Ihr schwört es mir. Ich werde Herrn von Blériot aufsuchen.

      Er stammelte; es drängte ihn hinauszukommen in die nächtliche Kühle. Pascal heftete einen durchdringenden Blick auf die Irre, auf seinen Vater, auf seinen Oheim; der Egoismus des Gelehrten behielt die Oberhand; er studierte diese Mutter und diese Söhne mit der Aufmerksamkeit eines Naturforschers, der die Verwandlungen eines Insektes entdeckt. Er dachte an die Triebe einer Familie, einer Schichte, die verschiedene Zweige ansetzt und deren scharfer Saft die nämlichen Keime forttreibt in die entferntesten, je nach der Umgebung von Schatten und Sonne verschiedenartig gewundenen Äste. Er glaubte einen Augenblick, wie inmitten eines Blitzes die Zukunft der Rougon-Macquart zu sehen, eine Meute von zügellosen Begierden, die in einem Flammenschein von Blut und Gold Befriedigung, finden.

      Indes hatte Tante Dide, als sie den Namen Silvère hörte, zu singen aufgehört. Sie lauschte beklommen einen Augenblick, dann begann sie ein schauerliches Geheul auszustoßen. Die Nacht war jetzt völlig hereingebrochen, und die Stube lag finster und unheimlich da. Die Schreie der Wahnsinnigen, die man nicht mehr sah, drangen aus der Finsternis hervor, wie aus einer geschlossenen Grube. Rougon hatte den Kopf verloren und eilte davon, verfolgt von diesem Lachgeheul, das in der Finsternis noch fürchterlicher klang.

      Als er aus dem Saint-Mittre-Gäßchen trat, zögernd und sich fragend, ob es nicht gefährlich sei, bei dem Präfekten um Gnade für Silvère zu bitten, sah er Aristide, der um das Saint-Mittre-Feld herumstrich. Als dieser seinen Vater erkannte, lief er herbei und sagte ihm einige Worte ins Ohr. Peter erbleichte; er warf einen erschreckten Blick nach dem Hintergrunde des Feldes, nach jenem Dunkel, das nur durch das Lagerfeuer fahrender Zigeuner erhellt wurde. Dann verschwanden alle beide in der Rom-Straße, beschleunigten ihre Schritte, als ob sie gemordet hätten und stülpten den Rockkragen auf, um nicht gesehen zu werden.

      Dies erspart mir einen Weg, murmelte Peter. Gehen wir essen. Man erwartet uns.

      Als sie ankamen, strahlte der gelbe Salon im Lichterglanze. Felicité hatte sich vervielfacht. Alle Welt war da: Sicardot, Granoux, Roudier, Vuillet, die Ölhändler, die Mandelhändler, kurz, die ganze Gesellschaft. Der Marquis allein war unter dem Vorwande eines Anfalles von Rheumatismus weggeblieben; er verreiste übrigens für eine kurze Zeit. Diese blutbefleckten Spießbürger verletzten sein Zartgefühl, und es schien, daß sein Verwandter, der Graf von Valqueyras, ihn gebeten hatte, sich einige Zeit auf sein Gut Corbière zurückzuziehen, um sich in Vergessenheit zu bringen. Die Absage des Herrn von Carnavant verdroß die Rougon; allein Felicité tröstete sich und gedachte einen um so größeren Prunk zu entfalten; sie entlieh zwei Armleuchter, bestellte zwei Vorspeisen und zwei Mittelgerichte mehr, um so das Gedeck des Marquis zu ersetzen. Um das Mahl feierlicher zu gestalten, wurde die Tafel im Salon gedeckt. Das Hotel de Provence hatte das Silberzeug, das Porzellan, die Trinkgläser geliefert. Um fünf Uhr wurde gedeckt, damit die Gäste gleich bei ihrer Ankunft sich an dem Anblick weiden konnten. An beiden Enden des weißen Tafeltuches standen Sträuße von künstlichen Rosen in Vasen von vergoldetem Porzellan.

      Als die gewöhnliche Gesellschaft des gelben Salons versammelt war, vermochte sie ihre Bewunderung für ein solches Schauspiel nicht zu unterdrücken. Die Herren lächelten mit verlegener Miene und warfen einander heimliche Blicke zu, die


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