Gesammelte Werke von Emile Zola: Die Rougon-Macquart Reihe, Romane & Erzählungen. Emile Zola

Gesammelte Werke von Emile Zola: Die Rougon-Macquart Reihe, Romane & Erzählungen - Emile Zola


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entstanden. Die überraschten Republikaner schrien Verrat und schossen auch ihrerseits. Ein Nationalgardist fiel unter der Torwölbung; die Republikaner hatten drei Tote. Über die Leichen stolpernd ergriffen sie in tollem Schreck die Flucht und schrien durch die stillen Gassen: »Man tötet unsere Brüder!« – mit einer verzweifelten Stimme, die keinen Widerhall fand. Die Verteidiger der Ordnung hatten Zeit gefunden, ihre Gewehre wieder zu laden, stürmten wütend auf den leeren Platz hinaus und sandten Kugeln nach allen Straßenecken, nach allen Punkten, wo das Dunkel einer Pforte, der Schatten einer Laterne, der Vorsprung eines Ecksteines sie Aufständische vermuten ließ. Das währte etwa zehn Minuten, bis sie ihre Flinten in das Leere abgeschossen hatten.

      Der Hinterhalt wirkte wie ein Donnerschlag in der schlafenden Stadt. Durch die höllische Schießerei aus dem Schlafe geweckt, hatten die Bewohner der benachbarten Straßen sich zähneklappernd in ihren Betten aufgesetzt. Um keinen Preis der Welt würden sie sich ans Fenster gewagt haben. Inmitten der Flintenschüsse, die durch die Nachtluft krachten, ertönte langsam das Sturmläuten einer Glocke der Kathedrale in einem so unregelmäßigen, seltsamen Rhythmus, daß es klang wie das Hämmern auf einen Amboß, oder wie ein riesiger Kessel, auf den ein zorniges Kind lospaukt. Diese heulende Glocke, welche die Bewohner nicht erkannten, entsetzte sie noch mehr als die Flintenschüsse; manche glaubten eine endlose Reihe von Kanonen über das Straßenpflaster rollen zu hören. Sie legten sich wieder nieder, streckten sich unter ihren Bettdecken aus, als sei es gefährlich gewesen, im Bett aufrecht zu sitzen; bis zum Kinn zugedeckt, den Atem zurückhaltend, machten sie sich ganz klein, während die Zipfel ihrer Kopftücher ihnen auf die Augen herabfielen und ihre Gattinnen an ihrer Seite angstvoll den Kopf in den Kissen vergruben.

      Die auf den Wällen verbliebenen Nationalgardisten hatten ebenfalls die Schüsse gehört. Sie eilten in regellosen Haufen herbei, in der Meinung, daß die Aufständischen durch irgendeinen unterirdischen Gang in die Stadt eingedrungen seien. Mit dem Getöse ihres wilden Laufes störten sie die nächtliche Stille der Straßen. Roudier kam als einer der ersten an. Allein Rougon sandte sie auf ihre Posten zurück, indem er streng bemerkte, man dürfe nicht in solcher Weise die Tore einer Stadt verlassen. Betroffen von diesem Vorwurfe – denn in ihrem Schrecken hatten sie tatsächlich die Tore ohne Verteidiger gelassen – kehrten sie in vollem Laufe mit noch größerem Getöse auf ihren Posten zurück. Eine Stunde lang mochte Plassans glauben, daß eine Armee in wütendem Kriegsgetümmel durch die Stadt rase. Das Schießen, das Sturmläuten, das Hinundherlaufen der Nationalgardisten, ihre Waffen, die sie schleppten wie die Knüttel, ihre Schreckensrufe im nächtlichen Dunkel: all dies verursachte ein betäubendes Getöse, daß man glauben mochte, in einer überrumpelten und geplünderten Stadt zu sein. Dies gab den unglücklichen Bewohnern, die da wähnten, die Aufständischen seien wieder da, den Gnadenstoß; sie hatten ja gesagt, dies werde die letzte Nacht sein und Plassans werde noch vor Tagesanbruch in der Erde versinken oder in Rauch aufgehen. Wahnsinnig vor Angst harrten sie in ihren Betten der Katastrophe und wähnten Jeden Augenblick, daß ihre Häuser wankten.

      Granoux bearbeitete noch immer die Sturmglocke. Als in der Stadt wieder Stille eingetreten war, klang dieses Läuten schauerlich. Rougon, der in fieberhafter Aufregung war, geriet durch dieses ferne Gebimmel außer sich. Er eilte zur Kathedrale, deren Türe er offen fand. Der Mesner stand auf der Schwelle.

      Genug! Genug! schrie er dem Manne zu. Es klingt, als ob ein Mensch heult; es geht einem an die Nerven.

       Es ist nicht meine Schuld, entgegnete der Küster mit verzweifelter Miene. Herr Granoux selbst ist in den Glockenturm hinaufgegangen. Ich hatte auf Befehl des Herrn Pfarrers den Klöppel entfernt, damit nicht Sturm geläutet werden könne, allein Herr Granoux wollte keine Vernunft annehmen und ist dennoch hinaufgestiegen; ich weiß wahrhaftig nicht, womit er den höllischen Lärm macht.

      Rougon eilte die Stiege hinauf, die zu den Glocken führte, und schrie:

      Genug! Genug! Um Gottes willen, hören Sie auf.

      Oben angelangt sah er im Lichte eines Mondstrahles, der durch das Zackenwerk eines Fensterbogens hereinfiel, Granoux, wie er ohne Hut, wütend mit einem großen Hammer losschlug. Mit allen Kräften widmete er sich diesem Geschäfte. Er warf sich zurück, nahm einen Anlauf und stürzte sich auf die Bronze, als wollte er sie spalten. Seine ganze dicke Gestalt zog sich zusammen; wenn er sich auf die große, unbewegliche Glocke gestürzt hatte, ließen die Tonschwingungen ihn zurückweichen, und er warf sich mit erneuerter Wut auf die Glocke. Man glaubte einen Schmied zu sehen, der auf ein glühendes Eisen loshämmert, aber einen Schmied im Leibrock, kurz und kahl, in ungeschickter, drohender Haltung.

      Vor Überraschung stand Rougon einen Augenblick vor diesem verteufelten Spießbürger, der im Mondenschein mit einer Glocke kämpfte. Jetzt verstand er das Kesselgetöse, mit welchem dieser seltsame Glöckner die Stadt erfüllte. Er mußte ihn bei den Rockschößen fassen, und als Granoux ihn erkannte, rief er in triumphierendem Tone:

      Habt ihr gehört? Anfänglich versuchte ich mit den Fäusten auf die Glocke einzuhauen, aber das tat mir weh. Glücklicherweise fand ich diesen Hammer. Noch einige Schläge, nicht wahr?

       Doch Rougon schleppte ihn fort. Granoux strahlte von Stolz. Er trocknete sich den Schweiß von der Stirne und nahm seinem Genossen das Versprechen ab, in der Stadt zu verlautbaren, daß er mit einem bloßen Hammer den Höllenlärm hervorgebracht habe. Welche Bedeutung mußte dieses wütende Geläute ihm künftig verleihen!

      Gegen Tagesanbruch dachte Rougon daran, Felicité zu beruhigen. Auf seinen Befehl hatten die Nationalgardisten sich im Rathause eingeschlossen; er hatte verboten, die Toten vom Straßenpflaster aufzulesen, unter dem Vorwande, daß der Bevölkerung des alten Stadtviertels ein Beispiel geliefert werden müsse. Als er, um nach der Banne-Straße zu eilen, wo er wohnte, über den Rathausplatz schritt, trat er auf die Hand einer Leiche, die zusammengeballt am Rande des Bürgersteiges lag. Er wäre dabei schier hingefallen. Diese weiche Hand, die sein Stiefelabsatz zerquetschte, verursachte ihm ein unerklärliches Gefühl des Ekels und Abscheues. Mit großen Schritten eilte er durch die öden Straßen und er glaubte hinter seinem Rücken eine blutige Faust zu fühlen, die ihn verfolgte.

      Vier liegen am Boden, sagte er zu Hause angekommen.

      Sie betrachteten einander, gleichsam erstaunt über ihr Verbrechen. Das Lampenlicht verlieh ihrer Blässe die Farbe des Wachses.

      Hast du sie liegen lassen? fragte Felicité. Man muß sie da liegen lassen, wo sie gefallen sind.

      Ich habe sie nicht aufgelesen, sie liegen auf dem Rücken, erwiderte er. Ich bin auf etwas Weiches getreten ...

      Er betrachtete seinen Stiefel. Der Absatz war voll Blut. Während er die Schuhe wechselte, sagte Felicité:

      Ganz recht so; nun wird man doch nicht sagen, daß du in die Spiegel schießest.

      Die Schießerei, welche die Rougon ersonnen hatten, um endgültig als die Retter von Plassans anerkannt zu werden, legte ihnen die entsetzte und dankbare Stadt zu Füßen. Düster und trübselig wie die Wintertage sind, brach der Morgen an. Die Bürger, die nichts mehr hörten und es müde geworden waren, in ihren Betten zu zittern, wagten sich heraus. Es kamen ihrer zehn, fünfzehn zum Vorschein; hernach, als ruchbar wurde, daß die Aufständischen die Flucht ergriffen und in allen Gassen Tote zurückgelassen hatten, erhob sich ganz Plassans und strömte auf dem Marktplatz zusammen. Den ganzen Vormittag machten die Neugierigen die Runde um die vier Toten. Sie waren furchtbar verstümmelt, besonders einer, der drei Kugeln im Kopfe hatte; hob man den Schädel auf, so konnte man das Gehirn bloßliegen sehen. Am furchtbarsten war der Nationalgardist anzuschauen, der unter der Torwölbung gefallen war. Er hatte eine ganze Ladung Schrot ins Gesicht bekommen; dieses Gesicht war voll mit Löchern und triefte von Blut. Die Menge weidete sich lange an diesen Scheußlichkeiten mit der Neugierde der Feiglinge für widrige Schauspiele dieser Art. Man erkannte den Nationalgardisten; es war der Wurstmacher Dubruel, den Roudier am Montag morgen beschuldigt hatte, besonders heftig geschossen zu haben. Von den drei anderen Toten waren zwei Hutmacher, der dritte blieb unbekannt. Vor den roten Pfützen, die das Pflaster beschmutzten, standen Gruppen, gaffend und zitternd, von Zeit zu Zeit argwöhnisch hinter sich blickend, als ob diese summarische Justiz, die im Finstern mit Gewehrschüssen die Ordnung hergestellt hatte, sie beobachtete, ihre Worte und Gebärden


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