Gesammelte Werke von Emile Zola: Die Rougon-Macquart Reihe, Romane & Erzählungen. Emile Zola

Gesammelte Werke von Emile Zola: Die Rougon-Macquart Reihe, Romane & Erzählungen - Emile Zola


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war, um Mietten Lebewohl zu sagen. Wie lange war das schon! Ihm war, als habe er seit Monaten keinen Fuß auf den Werkplatz gesetzt. Aber als er den schmalen Weg betrat, ward er schwach. Er erkannte den Duft der Gräser wieder, den Schatten der Bretterstöße, die Löcher in der Mauer. Eine Klagestimme schien aus allen diesen Gegenständen aufzusteigen; traurig und leer dehnte der Weg sich dahin; er schien ihm jetzt länger als sonst, er fühlte einen leisen Wind hinstreichen. Der ganze Winkel hatte furchtbar gealtert. Er fand die Mauer vom Moose zerfressen, den Rasenteppich vom Froste verdorrt, die Bretter vom Wasser verfault. Es war ein trostloser Anblick. Die fahle Dämmerung fiel wie ein feiner Morast auf die Erinnerungen an diesen ihm so teuren Ort. Er mußte die Augen schließen, und jetzt sah er den Weg wieder grün und die glücklichen Tage wieder, die er hier verlebt. Es war wieder warm, und er lief mit Miette im Freien herum. Dann kamen die endlosen Dezemberregengüsse; sie kamen aber dennoch hierher, verbargen sich unter den Bretterstößen und hörten aus ihrem Versteck entzückt den Regen rauschen. Wie im flammenden Lichte eines Blitzes zog sein Leben, zogen alle seine Freuden an ihm vorüber. Miette sprang über die Mauer und eilte herbei, von hellem Lachen geschüttelt. Sie war da; er sah im Schatten ihr weißes Antlitz und ihr reiches, schwarzes Haar. Sie erzählte ihm von den Elsternestern, die so schwer auszuheben sind, und zog ihn fort. Er vernahm aus der Ferne das sanfte Murmeln der Viorne, das Zirpen der Heimchen, den Wind, der durch die Pappeln der Klarawiese rauschte. Wie hatten sie sich da getummelt! Er erinnerte sich sehr wohl; sie hatte in vierzehn Tagen schwimmen gelernt; sie war ein wackeres Mädchen und hatte nur einen großen Fehler: sie stahl Obst, wenn sie im Freien herumstrichen. Aber er würde sie davon geheilt haben. Die Erinnerung an ihre ersten Liebkosungen führte ihn wieder auf den schmalen Weg zurück. Sie waren immer wieder zu diesem Versteck zurückgekehrt. Er glaubte den leisen Gesang der Zigeunerin zu hören, das Zuklappen der letzten Fensterläden, die dumpfen Schläge der Turmuhren. Dann kam der Augenblick des Scheidens; Miette stieg wieder auf die Mauer und sandte ihm Kußhändchen zu. Dann sah er sie nicht mehr; eine schreckliche Angst schnürte ihm die Kehle zu: er wird sie nie, nie wiedersehen.

      Wie du willst, rief jetzt der Einäugige höhnisch; geh, suche dir dein Plätzchen aus.

      Silvère tat noch einige Schritte. Er näherte sich jetzt dem Ende des Weges; er sah nur mehr einen schmalen Streifen des Himmels, an dem das rostfarbige Tageslicht langsam erstarb. Hier waren zwei Jahre seines Lebens verflossen. Das langsame Herankommen des Todes erfüllte ihn mit unaussprechlicher Seligkeit auf diesem Pfade, der so lange Zeit der Schauplatz seines Herzensglücks gewesen. Er verlangsamte seine Schritte und freute sich des Abschiedes von allem, was er liebte, von den Gräsern, von den Hölzern, von den Steinen der alten Mauer, von all den Dingen, denen Miette Leben verliehen hatte. Abermals verirrten sich seine Gedanken. Sie warteten, bis sie das Alter erreichten, um Mann und Frau zu werden. Tante Dide würde bei ihnen geblieben sein. Ach, wären sie doch geflohen, weit, weit, in ein fremdes Dorf, wo die Gassenjungen der armen Chantegreil nicht das Verbrechen ihres Vaters nachgerufen hätten! Welch glücklicher Friede wäre das gewesen! Er würde an einer Heerstraße eine Stellmacherei eröffnet haben. Er war bescheiden in seinem Arbeiterehrgeiz; er wollte keine prunkvollen Kutschen mit breiten gefirnisten Feldern machen, die da glänzten wie ein Spiegel. In seiner dumpfen Verzweiflung konnte er sich nicht erinnern, weshalb sein Glückstraum sich nicht verwirklichen durfte. Warum war er nicht mit Miette und Tante Dide fortgezogen? Und als er sein Erinnerungsvermögen besser anspannte, hörte er das scharfe Prasseln eines Gewehrfeuers und sah eine Fahne sinken: der Schaft war gebrochen, der Stoff fiel herab wie der Flügel eines zu Tode getroffenen Vogels. Mit Miette schlief die Republik, eingehüllt in einen Zipfel des roten Banners. Oh, Jammer! Beide waren tot! Sie hatten ein blutendes Loch in der Brust und das verleidete ihm nunmehr das Leben: die Leichen der beiden, die er geliebt! Er besaß nichts mehr, er konnte nun sterben. Das erfüllte seit Sainte-Roure ihn mit einer stumpfen, kindlichen Freude. Man hätte ihn prügeln können; er würde es nicht gefühlt haben. Er befand sich nicht mehr in seinem Körper; er war neben seinen vielgeliebten Toten geblieben unter den Bäumen, im scharfen Pulverrauch.

      Doch der Einäugige ward ungeduldig; er stieß Mourgue vorwärts, der sich ziehen ließ, und schalt:

      So geht doch, ich will nicht hier übernachten.

      Silvère strauchelte. Er schaute zu seinen Füßen. Das Bruchstück eines Schädels bleichte im Grase. Er glaubte den engen Weg sich mit Stimmen füllen zu hören. Die Toten riefen ihn, die alten Toten, deren heißer Atem an den Juliabenden ihn so seltsam verwirrt hatte, ihn und seine Liebste. Er erkannte ihr leises Geflüster. Sie freuten sich und sagten ihm, er möge kommen; sie versprachen, ihm Miette wiederzugeben unter der Erde in einem noch besser verborgenen Winkel, als der am Ende des Weges gewesen. Der Leichenacker, der mit seinen scharfen Düften und seinem üppigen Wachstum dem Herzen der Kinder heiße Begierden zugeflüstert und das weiche Bett seiner wild wuchernden Gräser angeboten hatte, ohne sie einander in die Arme treiben zu können, träumte jetzt davon, Silvères Blut zu trinken. Seit zwei Sommern schon harrte er der jungen Gatten.

      Soll's da sein? fragte der Einäugige.

      Der junge Mensch blickte vor sich hin. Er war am Ende des Weges angekommen. Er bemerkte den Grabstein und fuhr zusammen. Miette hatte recht; dieser Stein war für sie. »Hier ruht ... Marie ... gestorben ...« Sie war in der Tat gestorben; der Stein war über sie gewälzt. Er wankte und mußte sich auf den eisigen Stein stützen. Wie warm war doch der Stein ehemals, als sie an einer Ecke beisammen sitzend, ganze lange Abende da verplauderten. Sie kam von der Mauer herab und hatte ein Stück des Steines damit abgewetzt, daß sie da den Fuß aufsetzte, um herabzusteigen. In diesem Eindruck ihres Fußes war etwas von ihr, von ihrem geschmeidigen Leibe zurückgeblieben. Und er dachte, daß alle diese Dinge vom Schicksal bestimmt seien, daß dieser Stein an diesem Orte liege, damit er hierher sterben komme, nachdem er hier geliebt.

      Der Einäugige lud seine Pistolen.

      Sterben, sterben: der Gedanke entzückte Silvère. Hierher also führte man ihn auf der langen, weißen Straße, die von Sainte-Roure bis Plassans herabsteigt. Hätte er dies gewußt, so hätte er sich mehr beeilt. Sterben auf diesem Steine, sterben am Ende dieses schmalen Weges, sterben in dieser Luft, wo er noch den Atem Miettens zu spüren glaubte: niemals würde er einen solchen Trost in seinem Leide erhofft haben. Der Himmel war gütig. Er harrte mit einem Lächeln auf den Lippen.

      Inzwischen hatte der Bauer Mourgue die Pistolen gesehen. Bis hierher hatte er in blöder Weise sich schleppen lassen, doch jetzt erfaßte ihn die Furcht und er wiederholte immerfort in jammerndem Tone:

      Ich bin von Poujols, ich bin von Poujols!

      Er warf sich zur Erde und wälzte sich flehend zu den Füßen des Gendarmen ohne Zweifel in der Meinung, daß er für einen andern gehalten werde.

      Was kümmert es mich, daß du von Poujols bist, brummte der Gendarm.

      Da der Erbarmungswürdige, zitternd und weinend vor Entsetzen, nicht begreifend, weshalb er sterben solle, seine bebenden Hände vorstreckte, diese armseligen, unförmigen und rauhen Arbeiterhände, wobei er in seiner Bauernsprache sagte, daß er nichts getan habe und daß man ihm vergeben müsse, ward der Einäugige ungeduldig, weil er dem sich heftig Bewegenden die Mündung der Pistole nicht an die Schläfe setzen konnte.

      Wirst du schweigen! rief er.

      Wahnsinnig vor Angst und nicht sterben wollend begann Mourgue jetzt ein tierisches Geheul auszustoßen, wie ein Schwein, das geschlachtet wird.

      Schweig, Halunke! wiederholte der Gendarm.

      Und er zerschmetterte ihm den Schädel. Der Bauer stürzte als tote Masse hin; sein Leichnam fiel bei einem Bretterhaufen nieder und lag da zusammengesunken. Durch die Gewalt des Sturzes riß die Leine, die ihn an seinen Genossen gefesselt hatte. Silvère sank vor dem Grabstein in die Knie.

      Rengades Verlangen nach Rache steigerte sich nach dem Tode Mourgues. Er spielte mit seiner zweiten Pistole, hob sie langsam, um sich an der Todesangst Silvères zu weiden. Doch dieser sah ihn ruhig an. Der Anblick des Einäugigen, dessen wild funkelndes Auge ihn verbrennen zu wollen schien, verursachte ihm ein Unbehagen. Er wandte den Kopf ab, weil er fürchtete, feige zu sterben, wenn er noch länger diesen vom Fieber geschüttelten Mann sehen würde mit seiner besudelten Binde und seinem blutstarrenden


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