Luftpiraten. Walter Julius Bloem
der Seeversicherung, ein Ungeheuer mit einem kahlen Polypenschädel und einer ganz unerschöpflichen Erwerbswut, wurde von allen gehasst, die Loie liebten, und von allen gefürchtet, die sich um Loie drängten. Mit Hilfe einer Rechenmaschine konnte man ohne weiteres prophezeien, dass er irgendwann Alleinbesitzer der Seeversicherung und der dazugehörigen jungen Dame zu werden wünschte, obwohl er die Fünfzig schon überschritten hatte. Loie hasste ihn nicht minder, aber er arbeitete für sie, indem er von jedem verdienten Gulden bilanzmässig sechsundsechzig Cents für Loie buchte, auf dem Papier, also war er ein unentbehrlicher Bestandteil ihres unternehmenden Lebenswandels.
Als sie wieder allein waren, nahm Reverend Mylong ihre Hand und suchte in den ein wenig müden Augen. „Also ins Nordland, meine liebe Loie? Wir sind immer unrastig und insgeheim unglücklich, wir sind nirgends zu Hause, wir haben den lieben Gott einen guten Mann sein lassen, und jetzt trudeln wir rechts und links um die Erde und suchen einen passenden Ersatz.“
Sie lachte. „So ist es, aber ich bin nicht unglücklich, weder offen noch heimlich. Hat Bob dich herübergeflogen?“
Man konnte es, wie immer, so machen — und anders. Hutton Price war ja nicht auf den Schnabel gefallen, dies bestimmt nicht. Oder vielleicht war er, jeden vierten Tag mit dem A 3606 flugplanmässig in Amsterdam, schon so gut wie einig mit Loie. Aber als Mylong, unter soviel Jugend ein alter Mann, sich vorsichtig heranpürschte, wie und warum und in welcher Weise sie Bob schätzte, da bekam er die arglosesten Antworten zu hören, wie man über ein ruppiges Brüderchen spricht, halb zärtlich, halb belustigt, zumal das Brüderchen zwei Zentner wog, den dauernden Besitz einer wahren Skalpsammlung von Freundinnen als lebenswichtig betrachtete und deshalb bis an den Hals in Schulden steckte. Das wusste sie also alles ...
Woher nahm, da sie so gänzlich ahnungslos war, woher nahm Hutton Price die — Kühnheit? Es ging Mylong zwar beinahe nichts an, aber er versetzte ihr schonend den Stoss, dass Bob sich aus der Reihe unbeteiligter Freunde zu entfernen wünschte.
Erst verstand sie nicht, was der Alte überhaupt wollte. Mylong sah, wie im spitzen Ausschnitt ihres Kleidchens eine Röte heraufstieg, immer weiter, in den schlanken Hals, in die Wangen, schliesslich in die glatte Stirn. O si tacuisses! sagte er zu sich: wenn du doch geschwiegen hättest, alter Esel!
Loie sass da, das Kinn in die Hand gestemmt, und dachte nach, allerneuster Gedanke, dass dieser Bob überhaupt etwas war, was man heiraten konnte. Mylong hinwiederum hockte in seinem Stuhl, blamiert, als ob er selbst einen durchaus verrückten Antrag gemacht habe. Ein Stimmchen redete lebhaft auf dem Flur, dann kam Madame Blanche Biard herein, ungeheuer lebhaft, frisch aus Paris importiert, gar nicht wie eine trauernde Strohwitwe: Erste der zwanzig Gäste an der Nordlandsfahrt, die anderen wurden morgen und übermorgen erwartet. Blanche war den Mittag auf der Insel Macken gewesen, einer von Loies Verehrern hatte sie führen müssen. Loie wusste: jetzt puffte Blanche sich aus, nach einer Viertelstunde war dann alles vorbei, aus, abgeschnurrt, eine kleine schwermütige Schönheit, hoffnungslos in einen einzigen verloren, der sich nicht sehr viel um sie kümmerte. So war Blanche.
Loie ging auf ihr Zimmer, weiss, zärtlich, modisch neu, stand am geöffneten Fenster und suchte, wo sie in ihrem eigenen Leben auch nur eine Spur solch toller Leidenschaft fände. Das war ein vergebliches Bemühen, es kam nicht vor, dazu mangelte es offenbar an den notwendigsten Eigenschaften. Dies Leben war und blieb eine lau gedichtete Komödie, vor der goldenen Kulisse bemühten sich Marionetten um erheuchelte Gefühle, und sie meinten die Kulisse. Von diesen Marionetten aber hatte ihr dicker Bob sich immer unterschieden, grundsätzlich und aus Opposition anderer Meinung als Loie und als jene Marionetten.
Er schien das ziemlich genau zu wissen, eigentlich eine Unverschämtheit, aber er kam tatsächlich in Betracht, er war kein alternder Sprinter mit sechs Weltrekorden, kein Prinz mit abgegoldetem Wappen, keine fusionslüsterne Konkurrenz. Konnte man ihm vielleicht diese geräuschvolle und aufdringliche Lustigkeit abgewöhnen, dieses grässliche „Tjä hahi“ und die knarrenden Doppelsohlen?
Loie hatte einen jämmerlichen Tag. Beim Aufräumen und bei Reisevorbereitungen machte man gern Bilanz: ein Leben ohne jeden Inhalt, nichtsnutzig, pompös wie eine falsche Tausend-Gulden-Note. In drei Tagen Abmarsch zum Nordkap, mit der weissen Jacht in einem Schwarm nahezu fremder Menschen, immer andere, immer anderswohin. Aber der eigene Schatten ging mit auf die Fahrt ... Da stand zu wenig im Mittelpunkt, es stand zuviel herum in diesem Leben. In Wirklichkeit bettelte das Herz nur um ein ganz kleines bisschen ehrlicher Liebe. Und natürlich musste man ihm die kleinen Mädchen abgewöhnen — meinetwegen pfundweise, aber bitte unter Ausschluss der Öffentlichkeit, und für das Essen ist meine Köchin da, ich will einen Mann haben und keinen Hampelmann ...
Wir fragen uns betroffen, was unter diesen Voraussetzungen von Hutton Price eigentlich übrigbleiben sollte, zumal Loie sich schon jetzt vornahm, ihn unter Diät zu stellen, ihm sozusagen das Fett pfundweise vom Leibe zu stehlen. Aber jedenfalls: gerade weil sie nie an diese Möglichkeit gedacht hatte, war sie überrumpelt. Sie war entzückt, dass es etwas gab, das man hätscheln und erziehen konnte, und einen ärgeren Hieb konnte sie ihrem Onkel Edward nicht verpassen! Loie war in ihren berühmten blitzschnellen Entschlüssen also wieder einmal bereit, blindlings „ja“ zu sagen.
Als Bob mit einer Stunde Verspätung in Bloemendaal erschien, brachte er einen riesengrossen Busch schneeweisser Nelken mit. Er verfügte über eine dermassen geringe Blumenphantasie, dass er ohne Ansehen der Person stets und ausnahmslos weisse Nelken präsentierte. Schon seit geraumer Zeit waren die jungen Mädchen Amsterdams oder New Yorks, sofern sie auf ihren Ruf Wert legten, zu einer schleunigen Beseitigung weisser Nelkensträusse gezwungen, von welchem unglücklichen Verehrer sie solche Spende auch empfangen haben mochten. Dies wusste Bob ganz genau.
Also was ihm fernerhin mit sofortiger Wirkung abzugewöhnen war: das Zuspätkommen — die weissen Nelken ...
Sofort herrschte Leben und Betrieb, Gelächter, ein spitzes Hin- und Herreden. Aber da er nun vorhanden, sehr leibhaftig — wo war die kleine, süsse Erwartung geblieben, die ihn vor einer Stunde noch herbeirief?
„Jawohl, ich habe deinen Mann in New York gesehen, Blanche, gestern beim Oberst, dein Gaston machte den kummervollen und verlassenen Eindruck echter Sehnsucht, wir haben versucht, ihn mit einer — äh, mit einer kleinen Tänzerin aufzutauen, Pasquali hat derlei immer auf Lager, oder sagen wir besser: auf Vorrat, aber Monsieur liess sich nicht trösten, hahi, was sagst du, Monsieur schickt ein Paket zärtlicher Grüsse durch mich Unwürdigen.“
Die junge Frau, bisher still und erloschen, strahlte auf. Na also. Wir sind eine edle Seele! Aber Bob hatte eine ekelhafte Regung dabei.
Loie spürte den falschen Ton hinter der wohlgemeinten Schwindelei. Bob war echt. Aber jetzt, auf Armeslänge von ihr, mit vollen Backen kauend — jetzt wehrte sich in Loie alles gegen ihn und gegen seine faustdicke Lebendigkeit. In den frühen Erinnerungen erschien Hutton Price, Pappi und Mammi hatten sie in der Kinderstube gespielt, er hatte seine Schularbeiten von ihr abgeschrieben, tatsächlich gab sie ihm ihren und seinen ersten Kuss, er war ein notwendiger und nicht wegzudenkender Bestandteil ihres Lebens. Das Dasein mit ihm würde eine garantiert fidele Angelegenheit, aber es hiess auch eine Absage an alles Wilde und betäubend Mächtige.
So kam es, dass Loie sich bis an die Grenze der Unhöflichkeit wehrte, als Hutton Price sie nach Tisch, man war kaum aufgestanden, in ein Nebenzimmer führen wollte. Aber wehr dich mal gegen solche selbstzufriedene Sicherheit, die schlimmstenfalls hier, vor drei Zeugen, einen Antrag von Stapel lässt.
Das Nebenzimmer, in das sie ihm erzürnt und belustigt folgte, war ein ziemlich grosser Musikraum, auch zum Tanzen geeignet, mit Flügel und Grammophon, gelbseidene Tapeten, in allen vier Ecken bronzene Leuchter. Bob musterte, die Hand auf Loies Arm, in seiner beliebten, erflunkerten Sachlichkeit den Ort und erklärte ihn als Schlachtfeld einer zärtlichen Unterredung wenig geeignet. Ja, wenn seine Stimme nur ein wenig gezittert hätte, vor solcher Entscheidung — Loie suchte in seinem Benehmen ein Bangen, die Angst eines Verliebten. Aber er machte schlechte Witze und zog es vor, sich selbst zu fälschen: dies blaue Tee-zimmerchen hier, seidig, kosig, es fände seinen Beifall als stimmungsvoller Hintergrund, ehem, fangen wir an! „Kleopatra würde in diesem Fall — —“
„Ich weiss schon,