Kinderärztin Dr. Martens Staffel 3 – Arztroman. Britta Frey
Metzler, hatte man ihn getauft, nachdem man Heldensagen gelesen hatte und darin immer
wieder von Metzeleien die Rede war.
Kein Mensch mochte Jörg glauben, wenn er versicherte, daß die Angelegenheit nicht halb so blutig verlaufen war, wie man eigentlich annehmen sollte. Es war ihm auch gleich. Hauptsache, er mußte nicht länger alles erzählen. Es hing ihm einfach zum Hals heraus. Es gab doch wahrlich noch andere interessante Sachen, über die man reden konnte. Was waren da schon zwei abgeschnittene Finger?
Jörg stand auf und schlenderte hinüber, wo er einige andere Kinder sah, die zusammenstanden und sich lebhaft unterhielten. Er mußte Dr. Hanna noch einmal bitten, daran zu denken, daß er es allein mopsig fand und gern noch jemand hätte, der bei ihm lag.
Sie unterhielten sich wie Erwachsene, standen um die, die noch nicht lange stehen konnten, herum und bezogen sie in ihre Gespräche mit ein. Meistens ging es um neue Rock-Platten oder um eine neue Folge der Serie Kampfstern Galactica im Fernsehen, die man, wenn es eben möglich, nicht versäumte.
Jörg, der sich sonst eifrig an den Unterhaltungen beteiligte, verhielt sich heute ein wenig stiller als sonst. Er sah sie alle der Reihe nach an und fragte sich, wem von ihnen er den Vorzug geben sollte, wenn er sich aussuchen dürfte, wer zu ihm aufs Zimmer kam.
Fast hätte er geseufzt, denn es war schwierig zu wählen. Der eine war leise genug, aber zu weinerlich, der andere war zu langweilig, der nächste zu angeberisch und großspurig. Nein, Jörg hätte wirklich nicht gewußt, wen er gern bei sich gehabt hätte.
Er begriff, daß es wirklich stimmte, wenn man sagte, daß jeder Mensch seine guten und auch weniger guten Seiten hatte. Und dabei ahnte er noch nicht, wie schnell diese Frage, die schon so etwas wie ein Problem für ihn bedeutete, gelöst werden konnte. Und er ahnte nicht, was aus der Freundschaft mit seinem neuen Zimmergenossen entstehen würde. Sonst hätte er sich wohl kaum jetzt so viele Gedanken gemacht.
Er war ordentlich erleichtert, als seine Eltern erschienen. Jetzt würden sie mit ihm in die Cafeteria der Klinik gehen und Eis bestellen. Bananensplit, das er so gern mochte.
Thea war immer noch etwas ängstlich, wenn sie ihren Buben umarmen wollte. Sie mochte den linken Arm gar nicht berühren. Und sie hatte schreckliche Angst, gegen seine bandagierte Hand zu stoßen. Da nutzte es nichts, wenn Jörg ihr versicherte, daß er absolut keine Schmerzen mehr hatte und sich regelrecht danach sehnte, wieder nach Hause zu dürfen, damit man endlich die Unterkunft für die künftige Hasenzucht bauen konnte.
»Aber du wirst Vati auf gar keinen Fall helfen, mein Junge!« sagte Thea auch bald, als das wichtigste Gesprächsthema zwischen Vater und Sohn wieder erreicht war.
»Wieso denn nicht?« fragte Jörg, und seine Stimme klang ausgesprochen angriffslustig. »Du hast doch selbst gehört, daß Dr. Hanna gesagt hat, ich soll die linke Hand ganz normal benutzen, wie sonst auch. Ja, ich soll sogar üben, damit ich bald wieder richtig zugreifen kann.«
»Aber wenn du wieder mit Vatis Handwerkzeug hantierst, Jörg, werde ich meines Lebens nicht mehr froh.«
»Mach dir nur keine Sorgen, Thea. Der Bengel ist jetzt ein gebranntes Kind.« Achim nickte Jörg lachend und verschwörerisch zu. »Ich bin ganz sicher, daß er um die verdammte Kreissäge einen großen Bogen macht, wenn ich nicht dabei bin.«
»Darauf kannst du dich aber verlassen«, gab Jörg zurück, und man merkte ihm an, daß er die Wahrheit sagte. Da atmete Thea ein wenig auf, aber sie sagte noch abschließend:
»Wenn du mir wirklich dein großes Ehrenwort gibst, nichts mehr ohne Vati zu machen, kann ich endlich aufatmen und muß nicht mehr in dauernder Angst leben, es könnte dir etwas zustoßen.«
»Das große Ehrenwort gebe ich dir gern, Mami. Ich glaube, ich hätte auch vorerst gar nicht mehr den Mut, allein zu arbeiten. Außerdem könnte ich das gar nicht, denn wir wollen doch den Schweinestall umbauen für unsere Hasenzucht. Und da brauche ich doch Vati dabei. Freust du dich auch so auf die Arbeit wie ich, Vati?« wollte Jörg wissen und setzte noch hinzu: »Ich finde es prima, wenn wir beide zusammen überlegen und planen und arbeiten können.«
Achim Markmann nickte seinem Sohn zu, fuhr ihm durch das ein wenig borstige Blondhaar und sagte abschließend:
»Ich habe nur den Stall richtig saubergemacht und gelüftet, damit gute Luft da ist. Wenn du hier entlassen wirst, können wir sofort anfangen. Und zu zweit ist es natürlich viel schöner, als wenn einer allein arbeiten muß. Dann macht alles doch viel mehr Spaß.«
Das fand auch Jörg und war sehr zufrieden. Er hatte die besten Eltern, die ein Junge wie er sich nur wünschen konnte. Das stand allemal fest.
*
»Wen soll ich denn nun zu dir aufs Zimmer legen?« fragte Hanna einen Tag später, als sie sich im Garten zu Jörg auf die Bank setzte, auf der er so gern seine Karl-May-Bücher las. Spielerisch nahm sie den Band, den Jörg zur Seite gelegt hatte, auf. »Winnetou«, murmelte sie und sah auf. »Hast du auch die Filme gesehen?«
»Klar doch, die kommen ab und zu im Fernsehen. Und dann sehe ich sie mir immer wieder an. Ich finde sie einfach großartig.«
»Soll ich dir ein Geheimnis anvertrauen?« Lachend beugte Hanna sich zu ihm und sagte mit gedämpfter Stimme: »Ich mag Karl May auch. Und ab und zu gehe ich in die Klinik-Bücherei und hole mir ein Buch, das ich dann im Bett lese. Finde ich großartig. Mein Bruder tut das auch, aber er bildet sich ein, ich wüßte es nicht.«
»Man müßte ein Held sein wie Winnetou oder Old Shatterhand. Menschenskind, wenn der seine Rechte benutzt, dann fallen die Verbrecher um wie die Fliegen, was?«
»Schon, aber ich meine, man sollte sich das Recht nicht immer mit der Faust erkämpfen. Manchmal hat man mehr Glück, wenn man es ganz ruhig und sachlich tut. Wie ist das also? Wen soll ich dir aufs Zimmer legen, damit du nicht so allein bist?«
»Kann ich mir das noch bis morgen überlegen?« wollte der Junge mit schiefgelegtem Kopf wissen. Hanna nickte lachend und erhob sich.
»Na gut, warten wir bis morgen. Du sollst dich ganz frei entscheiden können, denn wir können die Kinder nicht dauernd umlegen, das wirst du verstehen. Wenn du dich einmal entschieden hast, dann muß es auch dabei bleiben.«
»Ist gut. Ich weiß schon Bescheid.« Jörg nickte ernsthaft vor sich hin und setzte bedächtig hinzu: »Aber es erfährt doch niemand, daß ich mir meinen Zimmerfreund aussuchen durfte, nein? Ich möchte nicht, daß es Ärger gibt.«
»Darauf gebe ich dir mein Wort, Jörg. Morgen, wenn ich Visite mache, wirst du mir also sagen, wen du gern bei dir haben möchtest, hm?«
»Ganz bestimmt«, sagte Jörg und sah Hanna nachdenklich nach, als sie aufstand und zu einer Gruppe Kinder ging, um sich mit ihnen zu unterhalten und zu lachen. Hanna tat das gern und oft, denn sie wußte, daß Freude ein gutes Heilmittel war, und das nicht nur für die Erwachsenen, sondern in noch größerem Maße für Kinder.
Jörg war sehr nachdenklich und wußte wirklich nicht, wen er bei sich haben wollte. Und dann endlich, als er allein zurückschlenderte, entschied er, daß es doch wohl besser sei, wenn er allein in seinem Zimmer blieb. Dann gab es auch keine Meinungsverschiedenheiten, sagte er sich und nahm sich vor, das morgen bei der Visite ganz offen und ehrlich auch einzugestehen. Er wußte, daß Dr. Hanna dafür großes Verständnis haben würde.
Neugierig blieb er stehen, als er den Krankenwagen kommen sah. Er hatte kein Blaulicht eingeschaltet und auch nicht das heulende Martinshorn.
Niemand achtete auf den Jungen, der ein wenig abseits stand. Und dann weiteten sich Jörgs Augen, als er seinen Schulkameraden Florian Beckhaus erkannte.
Florian ging mit Jörg in eine Klasse. Sie wären zwar nicht eng miteinander befreundet, weil sie zu weit auseinanderwohnten in Ögela – aber wenn sie in der Schule zusammen waren, möchten sie einander sehr und waren auch recht oft zusammen. Jörg wußte zum Beispiel, daß Florian nicht glücklich war.
Nie und nimmer hätte er damit gerechnet, daß Florian krank wurde und in die Klinik gehen