Kinderärztin Dr. Martens Staffel 3 – Arztroman. Britta Frey
Zumindest war er nie wegen irgendeiner Krankheit aus der Schule fortgeblieben.
Nachdenklich schlich Jörg auf sein Zimmer zurück. Für ihn stand fest, daß er Dr. Hanna bitten würde, ihn mit Florian zusammenzulegen, damit sie sich miteinander unterhalten konnten.
*
Die Einlieferung des Florian Beckhaus in die Kinderklinik Birkenhain hatte eine Vorgeschichte, die alltäglich klingen mochte. Sie kam überall und zu jeder Zeit vor, ohne daß die Menschen sich viele Gedanken darüber machten.
Bei Florian, der nun acht Jahre alt war, konnte man die Vorgeschichte als besonders tragisch bezeichnen.
Florian hatte das Glück, in einer Familie zu leben, in der es so gut wie nie Streit gab. Seine Eltern waren glückliche Menschen. Einer konnte ohne den anderen nicht sein. Und es war auch ganz selbstverständlich, daß der Junge in diese innige Gemeinschaft sozusagen hineingebettet war. Er erlebte, wie zärtlich und einfühlsam seine Eltern miteinander umgingen – und wie sie ihre Gefühle auch auf ihn übertrugen, den sie immer als Pfand ihrer Liebe betrachteten. Florian war ein glückliches Kind, das seinen Eltern keine Sorgen bereitete, außer daß er die Windpocken bekam und sich in der Schule mit Masern ansteckte.
Aber dieses Glück der Familie Beckhaus war an einem Nachmittag, der nun auch schon etwas mehr als zwei Jahre zurücklag, ganz plötzlich zerbrochen. Es war, als habe es nie existiert. Und das, was nach dem Glück kam, war vielleicht auch deshalb so grausam, weil es die Menschen unvorbereitet traf, zu einem Zeitpunkt, da sie sicher waren, das Glück für ewige Zeiten gesichert zu haben.
Florians Mutter Melanie wollte nur eben zum Supermarkt, weil sie ein besonders leckeres Abendessen machen wollte, denn Florians Vater, der ein tüchtiger Schlosser für Schiffsgetriebe war, war von einer längeren Montagereise nach Hause gekommen und hatte erklärt, er werde keine längeren Montagereisen mehr unternehmen, weil er sich nicht mehr für Wochen von Frau und Kind trennen wollte.
Hannes Beckhaus hatte seiner Frau angeboten, sie mit dem Wagen zum Supermarkt zu fahren. Aber Melanie hatte lachend abgewehrt und erklärt:
»Ruh du dich nur ruhig aus, mein Lieber. Du hast gerade eine lange Autofahrt hinter dir. Ich werde nicht sterben, wenn ich schnell zu Fuß einkaufe.«
Genau das war eingetreten. Es war etwas, was niemand fassen, niemand begreifen konnte. Es war was, gegen das man sich mit aller Macht wehrte, obwohl man im Unterbewußtsein erkannt hatte, daß man diesem Schicksalsschlag nicht ausweichen konnte, daß man sich ihm stellen, ja, ihn annehmen mußte. Man hatte nicht die Wahl, zu entscheiden, ob man es wollte oder nicht.
Was eigentlich genau geschehen war, wußte später niemand mehr recht zu sagen. Die Polizei hatte auch versucht, alles zu rekonstruieren – wegen der Versicherung des Autofahrers, der einfach behauptete, Melanie Beckhaus sei ihm ganz plötzlich vor den Wagen gelaufen, so daß er nicht mehr rechtzeitig habe bremsen können.
Für Hannes Beckhaus war es auch unerheblich, wie sich alles abgespielt hatte. Er saß zwei Tage und Nächte schier unbeweglich an Melanies Bett. Man hatte sie mit dem Rettungshubschrauber nach Hannover gebracht, wo es eine Spezialabteilung für Hirnverletzte gab.
Und in Hannover hatte man auch festgestellt, daß Melanie einen dreifachen Schädelbasisbruch erlitten hatte. Das Auto hatte sie erfaßt und mit dem ungeschützten Kopf gegen eine Mauer geschleudert. Außerdem hatte sie noch eine schwere Gehirnquetschung erlitten. Melanie Beckhaus lag unbeweglich und starr im Koma.
Sie reagierte auf nichts. Auch nicht auf ihren Mann, der neben ihr saß und ihre Hand hielt und dann und wann leise ihren Namen rief. Melanie rührte sich nicht einmal. Hannes Beckhaus wartete auf einen Druck ihrer Hand, er wartete auf ein winziges Zeichen, daß sie ihn verstand, daß sie begriff, daß er bei ihr war und sie nie verlassen würde, was immer auch kommen mochte.
Wie gesagt – es dauerte zwei Tage und zwei Nächte. Und dann konnte Melanie ihm nie wieder ein Zeichen ihrer Liebe geben, denn sie würde nie wieder die schönen dunklen Augen öffnen und ihn zärtlich ansehen. Melanie war ganz übergangslos in den Tod hinübergeschlafen.
Hannes Beckhaus erkannte es, aber er wehrte sich noch dagegen. Er weigerte sich, daran zu glauben, daß Melanie, seine geliebte, zärtliche und stets fröhliche Frau, nun nie wieder mit ihm sprechen würde.
Als der Arzt, der Melanie noch einmal untersuchen wollte, sich aufrichtete, wußte Hannes, daß er das Schreckliche aussprechen würde. Er wußte aber auch, daß er es nicht ertragen konnte. Er wollte sich wehren, er wollte dem Arzt ins mitleidige Gesicht hineinlachen und ihm erklären, daß er es besser wisse und Melanie gar nicht tot sei. Melanie konnte nicht tot sein, weil sie für ihn einfach unsterblich war.
Aber Hannes war wie gelähmt. Er brachte keinen Ton hervor. Nur der Blick seiner grauen Augen war flehend, bettelnd, beschwörend.
Obwohl Hannes Beckhaus wußte, daß das Endgültige und Unbegreifliche tatsächlich geschehen war, lächelte er und sagte leise:
»Sie schläft, Doktor. Nicht wahr, Schlaf ist ein gutes Heilmittel? Jetzt wird sie wieder gesund.«
Der Arzt legte ihm voller Mitgefühl die Hand auf die Schulter und sagte leise und behutsam:
»Sie ist eingeschlafen, Herr Beckhaus. Aber aus diesem Schlaf wird sie nicht mehr aufwachen.«
Hannes starrte den Arzt an, wandte sich dann seiner stillen Frau zu, die mit geschlossenen Augen dalag.
»Das ist nicht wahr!« stieß Hannes hervor und packte den Arzt bei den Schultern, schüttelte ihn in irrer Wut hin und her. »Das ist nicht wahr!« brüllte er. »Wie können Sie mir so Ungeheuerliches sagen?«
Und dann, ehe noch jemand wußte, was und wie es geschah, brach er ohnmächtig zusammen. Es war zuviel gewesen für diesen Mann, der aussah, als könnte er Bäume ausreißen.
Man brachte ihn in ein anderes Zimmer, legte ihn aufs Bett und gab ihm eine kreislauffördernde Injektion.
Als der Arzt nach einer halben Stunde nach Hannes Beckhaus sehen wollte, war er nicht mehr in dem Zimmer, in das man ihn gebracht hatte. Er war aufgewacht, aufgestanden und wieder in das Zimmer zurückgekehrt, in dem seine Melanie noch lag, weil noch einige Formalitäten erledigt werden mußten, ehe man sie hinunterbrachte.
Hannes Beckhaus saß am Bett Melanies, hielt ihre Hand und wußte, daß sie tot war. Aber er weigerte sich, das anzunehmen. Er war ein Kämpfer und wollte bis zuletzt kämpfen. Er wollte nicht daran denken, daß jemand kam, um ihn von Melanie zu trennen, weil sie in einen Sarg gelegt werden mußte. Der Gedanke, daß man seine schöne, lebenslustige Melanie in die Erde legen könnte, hätte Hannes aufschreien lassen können.
Man ließ ihn volle zwei Stunden bei Melanie allein. Dann bat ihn der Oberarzt zu sich und sprach lange und ernst auf ihn ein. Hannes saß ganz stumm da, starrte vor sich hin und antwortete nicht. Es war, als sei er ein lebender Toter. Und ihm selbst wollte es so vorkommen, als wäre er mit Melanie gestorben, als könnte nichts auf der Welt ihn wieder ins Leben zurückrufen.
Er war auch ganz starr gewesen, als er die große Klinik und Hannover verlassen hatte und in seinen Wagen stieg, um heimzufahren nach Ögela. Er war auch ganz starr, als er heimkam und seine Schwester, die bei Florian geblieben war, ansah. Er schwieg, aber es war auch nicht erforderlich, daß er etwas von sich gab. An seinen wie erloschen wirkenden Augen konnte man deutlich sehen, daß das Unbegreifliche, an das man nicht hatte denken wollen, eingetreten war. Melanie Beckhaus war tot. Es war nicht zu fassen, aber man mußte versuchen, die Tatsache als solche anzunehmen, weil einem einfach nichts anderes übrigblieb.
Die Beerdigung kam. Hannes Beckhaus hielt seinen kleinen Sohn Florian an der Hand und starrte auf den schweren Eichensarg, der da langsam in das grün ausgeschlagene Grab gesenkt wurde. Hannes Beckhaus sprach kein Wort. Er hielt nur Florian an der Hand. Und alle, die es sahen, waren gerührt und sagten noch Wochen später, daß sie dieses rührende Bild wohl kaum jemals wieder vergessen würden.
Grete Vollmers, Hannes’ ältere Schwester, verwitwet und ohne Kinder, blieb in Ögela. Sie zog in das hübsche Haus ein, in dem immer Lachen und Frohsinn geherrscht hatte,