Kinderärztin Dr. Martens Staffel 3 – Arztroman. Britta Frey
daß er in der Schule so schreckliche Schmerzen gehabt hatte, daß man ihn in die Klinik hatte bringen müssen.
»Hallo«, sagte Jörg. Er war ein wenig verlegen, denn er wußte noch nicht so genau, was er Florian alles erzählen sollte. »Ich habe gesehen, wie du angekommen bist. Hast du große Schmerzen?«
Mit einem Ruck setzte sich Florian aufrecht und sah Jörg interessiert an.
»Ach wo. Überhaupt nicht. Es geht mir gut. Aber sie sagen, sie wollen mich zur Beobachtung hierbehalten. Und du? Was machen deine Finger? Sind sie wahrhaftig wieder richtig angenäht worden?«
»Klar doch. Und ich kann sie auch wieder bewegen, wenn die Verbände erst mal ab sind. Dann soll es so sein, sagen sie hier, als wenn nichts geschehen wäre.«
»Finde ich doll, einfach doll«, sagte Florian, und man sah ihm an, daß er es auch so meinte. Er schielte zu Hanna hin, die sich nicht einmischte, sondern nur lächelnd am Fußende des Bettes stand und die beiden Jungen still beobachtete.
»Ich liege auch allein, zwei Zimmer weiter. Dr. Hanna hat mir erlaubt, mir einen Zimmergenossen auszusuchen. Und ich dachte, es würde dir und mir vielleicht Spaß machen, zusammen auf einem Zimmer zu liegen.«
»Sag das noch mal. Meinst du das ernst?« wollte Florian wissen. Plötzlich war er lebhaft und wie elektrisiert. »Menschenskind, das wäre dufte.«
»Na, dann wäre das Problem ja zur allgemeinen Zufriedenheit gelöst, wie mir scheint.« Hanna atmete tief ein. »Ich werde Schwester Dorte gleich Bescheid geben, daß sie dein Bett in Jörgs Zimmer stellt. Ich finde es immer gut, wenn man ein bißchen Unterhaltung hat. Besonders dann, wenn man sich eigentlich gar nicht krank fühlt.«
Florian hatte schon die leichte Bettdecke zur Seite geworfen und stand neben dem Bett. Er sah Jörg lachend an.
»Ich habe nichts mitzunehmen, denn ich habe noch gar nichts da.«
»Ich kann mir denken, daß du dieses lächerliche Hemd gern ausziehen möchtest. Ich habe Schlafanzüge genug da. Kannst davon einen anziehen.«
»Finde ich echt nett von dir, Jörg.«
Florian schielte zu Hanna hinüber, die ihm zulachte. Dann sagte er aus tiefster Seele:
»Danke, daß Sie mir erlauben, daß ich zu Jörg umziehe, Frau Dr. Martens.« Hanna lachte noch einmal belustigt auf, fuhr ihm durch das Haar und sagte freundlich:
»Sag nur ruhig Dr. Hanna zu mir, das tun hier eigentlich alle Kinder. Und ich bin daran gewöhnt. Und nun ab mit euch, damit Florians Bett umgestellt werden kann.«
Einträchtig gingen Jörg und Florian über den Flur. Und kaum waren sie in Jörgs Zimmer angekommen, als er auch schon einen buntbedruckten Schlafanzug aus dem Schrank holte und ihn Florian reichte.
»Hier, zieh den erst mal an. Wirst sehen, daß du dich dann gleich anders fühlst.«
Hanna Martens war sehr nachdenklich, als sie das Zimmer verließ, ohne daß die beiden Buben von ihr Notiz nahmen.
Es war wahrscheinlich gar nicht einmal die schlechteste Idee, die beiden zusammenzulegen. Vielleicht konnte der aufgeweckte Jörg ihnen allen weiterhelfen, wenn er erfahren konnte, was eigentlich mit Florian passiert war, das die nicht kontrollierbaren Schmerzen bei ihm ausgelöst haben könnte.
*
Grete Vollmers glaubte, nicht recht gehört zu haben, als man ihr sagte, daß Florian sich in der Kinderklinik Birkenhain befand.
»Was soll das?« fragte sie unwirsch in die Muschel des Telefons. »Wollen Sie mich auf den Arm nehmen? Mein Neffe ist in der Schule. Und als er von daheim fortging, fühlte er sich ausgezeichnet.«
Aber dann begriff sie, daß man ihr keinen Streich spielen wollte. Sie begriff, daß der Anruf tatsächlich von der Kinderklinik Birkenhain kam und man sie davon unterrichten wollte, daß Florian mit dem Krankenwagen eingeliefert worden sei.
»Geht es ihm sehr schlecht?« wollte sie sofort wissen, während sie spürte, daß alles in ihr sich dagegen wehrte, daß Florian nun krank und in der Kinderklinik war. Das war etwas, was sie sich absolut nicht vorstellen konnte. Sie wollte es sich auch nicht vorstellen, weil es ihren gewohnten Rhythmus völlig durcheinanderbrachte.
»Bis jetzt konnte leider noch nicht festgestellt werden, was er hat«, war denn auch die ehrliche Antwort, die Grete Vollmers, ohne daß sie es überhaupt wollte, in unerklärliche Angst versetzte.
»Sie können es mir ruhig sagen, wenn der Bengel etwas angestellt hat!« forderte sie kühl. Aber da bekam sie eine Antwort, die ihr ganz und gar nicht gefiel:
»Es sieht nicht so aus, als habe Florian etwas angestellt. Es ging ihm sehr schlecht, als man ihn herbrachte. Die genauen Untersuchungen stehen noch aus. Ich hatte nur den Auftrag, Sie zu benachrichtigen, Frau Vollmers, damit Sie nicht unnötig auf Florian warten und wissen, wo er sich befindet.«
»Ich danke Ihnen und komme selbstverständlich sofort zur Klinik Birkenhain hinaus. Florian braucht doch auch seine Sachen, falls er länger dortbleiben muß.«
Als sie den Hörer zurücklegte, schaute Grete Vollmers bewegungslos vor sich hin. Sie lauschte unwillkürlich in sich hinein. Aber alles, was sie empfand, war Ungeduld, ja, Ärger.
Jedermann, der sie ein wenig näher kannte, wußte, wie wenig sie es mochte, aus ihrem eingefahrenen Einerlei herausgerissen zu werden. Und das war noch sehr gelinde ausgedrückt. Sie mochte es nicht nur nicht – sie haßte es geradezu, wenn etwas Unvorhergesehenes eintrat und ihren Tagesablauf veränderte!
Sie hatte es sich wahrhaftig einfacher vorgestellt, mit einem mutterlosen Buben auszukommen und ihn zu erziehen und so zu formen, wie sie glaubte, daß er sein müßte.
Aber wenn sie es heute recht bedachte, mußte sie sich eingestehen, daß sie sich erheblich überfordert fühlte. Wahrscheinlich kam das auch daher, daß sie nicht an Florian herankam. Er ließ sie nur bis zu einer gewissen Grenze an sich herankommen – dann versperrte er sich gleichsam. Sie nannte es bockig und trotzig und hatte schon alles mögliche versucht, diese Sperre zu durchdringen, sie einfach gewaltsam niederzureißen. Aber das war ihr nicht gelungen. Florian hatte da so einen gewissen Blick, der einen zurückhielt, noch weiter zu gehen.
Ja, Grete Vollmers gab in dieser Minute vor sich selbst zu, daß sie versagt hatte. Ganz kläglich versagt bei der Erziehung eines kleinen Jungen, von dem sie nichts weiter erwartete, als daß er ihr stets dankbar war, weil sie ihr Leben auf ihn umgestellt hatte.
Daß sie in einem wunderschönen Häuschen wohnte, mietfrei natürlich, daß sie eine Menge Annehmlichkeiten genoß, nur weil sie eben da war für Florian, das bedachte sie nicht. So weit reichte ihre Einsicht bei ihr nicht. Und wer weiß – vielleicht hätte sich ihr Mann auch von ihr getrennt, wenn er nicht leider so früh verstorben wäre.
Grete hatte ihren verstorbenen Mann gegängelt und versucht, zu erzwingen, daß er so wurde, wie sie ihn haben wollte. Sie bedachte auch nicht, daß sie durch ihre beherrschende und keinen Widerspruch duldende Art dem armen Otto das Leben nicht gerade zu einem Paradies gemacht hatte. Wenn man ihr diese Vorhaltungen gemacht hätte – wer weiß – vielleicht hätte sie nur ablehnend erwidert, daß man auf Erden kein Paradies erwarten dürfe, wenn man nicht ganz erheblich enttäuscht werden wollte.
Grete atmete tief durch, ging nach oben in Florians Zimmer, in dem wie immer peinliche Ordnung herrschte, damit sie nichts auszusetzen fand, und packte einige Dinge für Florian zusammen.
Sie war fest davon überzeugt, daß er nicht lange in der Klinik bleiben mußte. Aber dann würde sie sich von ihm trennen müssen. Nein, sie wollte nicht länger die Verantwortung für den Jungen tragen. Jedermann mußte einsehen, daß das zuviel für sie war. Sie mochte und konnte nicht mehr mit Florian fertig werden und die Verantwortung tragen, daß einmal ein rechter und aufrechter Mensch aus ihm würde.
Und dann – wer würde ihr das denn danken? Hannes bestimmt nicht. Er überwies monatlich einen ansehnlichen Scheck, das mußte sie ihm zugestehen. Aber das war auch schon alles. Der Junge