Kinderärztin Dr. Martens Staffel 3 – Arztroman. Britta Frey
– oder aber sie stellte den Antrag auf Heimerziehung, weil sie sich überfordert fühlte. Und das tat sie gründlich.
Vielleicht wäre alles anders gewesen, wenn Florian ihr eigenes Kind gewesen wäre – aber darüber dachte Grete nicht nach. Sie hatte damals, als Otto noch lebte, keine Kinder gewollt. Und heute, da sie Witwe war, wollte sie schon gar nicht mit einem Kind gesegnet oder belastet, je nachdem, sein. Sie hatte sich so sehr daran gewöhnt, allein zu bleiben, daß sie es beinahe als Beleidigung auffaßte, daß man von ihr erwartete, sich um Florian zu kümmern.
Aber das würde jetzt sehr bald ein Ende haben. Spätestens dann, wenn Florian aus der Klinik entlassen werden konnte. Und das würde ja nicht allzulange dauern. Wahrscheinlich wollte man ihn nur einige Tage zur Beobachtung behalten – und dann würde sie ihn in ein geeignetes Heim bringen. Es war besser für Florian und auch selbstverständlich für sie selbst.
Mit mißmutigem Gesicht stieg sie in den Wagen und fuhr langsam durch Ögela zur Kinderklinik Birkenhain.
Bisher hatte sie sich noch nicht für das wunderschöne Anwesen interessiert. Sie war ja auch noch niemals hiergewesen, weil sie nie einen Arzt benötigt hatte. Weder für sich selbst noch für Florian. Jetzt aber sah sie mit beinahe neugierigen Augen um sich. Und was sie sah, fand sie wunderschön. Das war ja ein großartiges Anwesen, stellte sie fest. Hier ließ es sich schon aushalten.
Sie parkte den Wagen und ging zum Eingang, meldete sich und gab sich als Florians Tante zu erkennen.
Hanna Martens, die gerade durch das große Foyer kam, hörte ihren Namen und wie sie nach Florian Beckhaus fragte. Sofort ging sie zu ihr und sah sie freundlich an.
»Sie sind Frau Vollmers, Florians Tante, nicht wahr?« begann sie die Unterhaltung und streckte Grete die schmale, aber doch erstaunlich kräftige Hand hin, die Grete stumm nahm. »Ich bin Dr. Hanna Martens. Meinem Bruder und mir gehört diese Kinderklinik.«
»Ein prachtvolles Anwesen«, gab Grete zu. Hanna beobachtete sie heimlich. Ihr Urteil über Grete stand von Anfang an fest. Sie wußte, daß sie einer Frau gegenüberstand, die mit nichts in ihrem Leben zufrieden war. Weder mit den Lebensumständen, mit Florian, mit dem schönen Haus, in dem sie kostenlos wohnen konnte – und wahrscheinlich mochte sie es auch nicht, daß man ihr die Betreuung ihres Neffen angelastet hatte, obwohl sie das eigentlich gar nicht wollte.
Hanna konnte nicht behaupten, daß Grete ihr von Anfang an unsympathisch war – aber sie spürte, daß sie einen Menschen vor sich hatte, der das Leben von einer anderen Seite sah als sie selbst. Grete Vollmers war keiner, der positiv zu denken vermochte. Sie war ein Mensch, der, wie man so treffend sagte, immer ein Haar in der Suppe finden würde, und wenn sie noch so lecker gekocht war.
Beinahe hätte sie über diesen Vergleich gelacht.
»Was also ist mit Florian?« ging Grete Vollmers gleich auf ihr Ziel los. »Hat er irgend etwas angestellt und versucht nun, sich hinter einer Krankheit zu verstecken, oder was ist mit ihm?«
Hanna ging mit ihr ins Sprechzimmer, bot ihr Platz an und ließ sich hinter dem Schreibtisch nieder.
»Ich weiß wirklich nicht, was ich Ihnen über Florian sagen soll. Es gibt noch keinen Befund. Wir haben keine organische Krankheit bei ihm feststellen können. Es müssen noch ein paar Untersuchungen gemacht werden, ehe wir mit Sicherheit sagen können, was ihm fehlt oder nicht.«
»Das kann ich Ihnen genau sagen. Irgend etwas ist da gewesen, wovor er sich nun fürchtet. Und weil er keine Schelte haben will, flüchtet er sich einfach in eine Krankheit hinein. Ziemlich raffiniertes Früchtchen, finden Sie nicht auch, Frau Doktor?«
»Nein, gar nicht. Kinder in Florians Alter können noch gar nicht raffiniert sein. Sie brauchen viel Liebe und Zeit und Zuwendung. Das ist entscheidend für ihre ganze Entwicklung, und auch für ihr späteres Leben.«
»Ich will Ihnen mal was sagen, Frau Doktor – wir sind auch nicht gerade in Watte gepackt worden von unseren Eltern. Und von uns kann niemand sagen, daß nichts aus uns geworden wäre. Nur schade, daß Hannes in Brasilien geblieben ist, und mir, als Erbe sozusagen, den Jungen hinterlassen hat.«
»Das ist natürlich sehr traurig für Sie und auch für den Buben, Frau Vollmers. Aber deshalb braucht er doch viel Liebe und Zuwendung.«
»Aber ich werde nicht mit ihm fertig. Ich schaffe das nicht. Er ist überdies auch nicht mein eigenes Kind. Und dann – ich spüre, daß er mich innerlich ablehnt. Das schafft auch nicht gerade Zufriedenheit und Gemütlichkeit, das kann ich Ihnen sagen.«
Hanna sah sie ernsthaft an.
»Haben Sie es denn mal mit Liebe versucht, Frau Vollmers? Bitte, nehmen Sie es mir nicht übel – aber Sie machen auf mich den Eindruck eines sehr kühlen Menschen.«
»Ist das denn ein Wunder in der heutigen Zeit? Ich bin schon früh Witwe geworden, Frau Doktor. Und dann, als ich mich von diesem schweren Schlag ein wenig erholt hatte, starb meine Schwägerin. Hannes, mein Bruder, flehte mich an, nach Ögela zu kommen und für ihn und Florian zu sorgen. Ich bin gekommen, weil das meine Pflicht war. Schließlich bin ich seine einige Schwester, nicht wahr? Aber wer konnte denn auch damit rechnen, daß Hannes auf einer Montagereise nach Brasilien eine Frau kennen- und liebenlernte? Wir haben von allem erst erfahren, als er schon geheiratet hatte. Wissen Sie, was ich glaube? Ich bin ganz sicher, daß Hannes nie wieder nach Deutschland zurückkommen wird, weil er sich fürchtet. Hier erinnert ihn alles an seine Frau. Drüben aber, in Brasilien, sind die Erinnerungen verwischt worden. Er ist sozusagen in ein ganz neues Leben gesprungen. Darin fühlt er sich wohl, das ist wie ein Schutzschild für ihn, den er niemals sprengen wird. Aber ich habe den Jungen nun am Hals.«
»Aber Florian ist wirklich ein ganz besonders lieber kleiner Kerl, finde ich.« Hanna fand die Art, wie Grete über ihren Neffen sprach, nicht besonders taktvoll.
»Ein ganz besonders lieber kleiner Kerl, sagen Sie? Da kennen Sie Florian aber schlecht. Er ist bockig und trotzig und hört einfach nicht auf mich, wenn er nicht will. Er kapselt sich regelrecht vor mir ab. Es ist mir unmöglich, ihm näherzukommen. Und am allerschlimmsten ist, daß ich dann auch noch Gewissensbisse bekomme. Ganz unnötige, wie ich ausdrücklich betonen möchte, denn schließlich habe ich alles Menschenmögliche versucht bei ihm. Deshalb bin ich auch fest entschlossen, Florian in ein Heim zu geben. Niemand kann von mir erwarten, daß ich mich ein Leben lang mit einem Kind belaste, mit dem ich trotz aller Bemühungen nicht fertig werden kann.«
»Haben Sie schon einmal darüber nachgedacht, daß Florian auch darunter leiden könnte, weil er mit Ihnen ebensowenig zurechtkommt wie Sie mit ihm?« fragte Hanna sanft. Aber damit kam sie bei Grete gerade recht. Sie fuhr hoch und warf Hanna einen geradezu mitleidigen Blick zu.
»Ich bin Florian doch völlig egal. Ich bin nur da, weil jemand für ihn kochen muß, weil jemand seine Sachen in Ordnung halten muß, weil er ganz einfach ein Zuhause haben muß wie alle anderen Kinder auch. Aber er ist außergewöhnlich schwierig und bockig. Nein, nein, sagen Sie nur nicht, daß er leidet. Das kann ich mir nicht vorstellen und auch nicht glauben. Florian ist verstockt und eigensinnig. Das ist alles. Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie oft es mir schon in den Händen gejuckt hat. Eine ordentliche Tracht Prügel würde meiner Ansicht nach wahre Wunder bewirken. Aber mir glaubt man ja nicht.«
»Ich bin sehr froh und erleichtert, daß Sie Florian noch nicht geschlagen haben. Daß einem mal im ersten Zorn die Hand ausrutscht, dafür habe ich Verständnis, obwohl ich der Ansicht bin, daß man sich immer unter Kontrolle haben sollte, besonders Kindern gegenüber. Mit einer Tracht Prügel aber könnten Sie eine ganze Menge Schaden anrichten.«
»Das sind auch so moderne Ansichten, denen ich mich nicht anschließen kann, Frau Dr. Martens. Mein Bruder und ich haben früher von unserem Vater auch Prügel bezogen, und nicht zu wenig. Es heißt nicht von ungefähr, daß es Schade ist um jeden Schlag, der vorbeigeht.«
Wahrscheinlich bist du durch die Prügel, die du in deiner Kindheit bezogen hast, eine so unzufriedene Frau geworden. Und vielleicht ist dein Bruder fortgeblieben, weil er früher zuviel Prügel von eurem Vater bezogen hat, dachte Hanna, aber das sprach sie nicht aus. Das waren Dinge,