Kinderärztin Dr. Martens Staffel 3 – Arztroman. Britta Frey
nicht. Er kannte alles in- und auswendig. Es war wie ein unbewußter Selbstschutz, daß er sich abkapselte.
Aber es war nur noch eine Frage der Zeit, bis Florians erstaunliche seelische Kräfte aufgebraucht waren. In dem Alter, in dem andere Jungen noch weinen und Schutz bei ihrer Mutter suchen, war Florian Beckhaus auf sich allein angewiesen. Er ging nie hinaus zum Spielen, sondern saß viel lieber in seinem Zimmer, hörte Radio oder Schallplatten und las oder lernte.
»Das ist nicht mehr normal!« entschied Tante Grete immer öfter. »Du gehst nie mit anderen Kindern zum Spielen, hockst lieber allein zu Hause. Nein, das ist nicht mehr normal. Und wenn das so weitergeht, gehe ich mit dir zum Arzt.«
In ihrer Selbstgerechtigkeit kam sie gar nicht auf den Gedanken, daß es an ihr lag, daß sie den Jungen systematisch in eine Isolation hineintrieb, aus der er am Ende vielleicht gar nicht mehr herausfinden konnte. Nein, an so etwas verschwendete Grete Vollmers keine Gedanken. Immer öfter mußte Florian hören, daß es für sie und ihn selbst am besten sei, wenn sie ihn in ein Heim geben würde.
»Da bist du dann mit anderen Kindern zusammen und lernst, dich in die Gemeinschaft einzufügen. Da kannst du dann nicht mehr stundenlang in deinem Zimmer hocken und die blöde Musik hören. Da hast du kein eigenes Zimmer für dich ganz allein. Da schläfst du mit vielen anderen Jungen in einem Saal. Du hast ein hartes, schmales Bett. Und man macht mit so eigensinnigen Kindern kurzen Prozeß. Ich weiß ja nicht genau, welche Methoden man da anwendet, aber gewirkt haben sie bisher alle.«
Florian, der sich einbildete, kein Mensch könne ihn liebhaben, wenn schon der eigene Vater ihn vergessen hatte und die Tante ihm immer wieder zeigte, wie lästig er ihr war, wurde immer stiller. Er mußte sich oft regelrecht zum Essen zwingen und litt sehr darunter, daß er das Essen manchmal schon kurz darauf wieder erbrechen mußte. Aber das sagte er natürlich nicht, weil er fürchtete, die Tante könnte dann wieder mit ihm schelten und ihn undankbar nennen.
Florians Krankheit war sozusagen schon vorprogrammiert, als seine geliebte Mutter gestorben war. Seit zwei Jahren hatte er schon kein liebevolles Wort gehört. Und danach sehnte er sich immer mehr, bis er glaubte, es nicht mehr ertragen zu können.
Wenn ich tot wäre, brauchte sich niemand mehr mit mir abzuplagen.
Dieser Gedanke sprang ihn an wie ein wildes Tier. Florian fürchtete sich vor diesen Gedanken, aber er sah auch keine Möglichkeit, ihnen auszuweichen. Schließlich gewöhnte er sich an sie. Er stellte sich vor, wie er in den Wald hineinlief und sich an einem großen Baum aufhängte. Einmal hatte er es versucht, aber der Strick hatte schrecklich weh getan und war auch gerissen.
Dann hatte er überlegt, ob er nicht einfach auf das Dach des Hauses klettern sollte, um sich hinabzustürzen. Aber was wäre, wenn er nicht tot war, sondern sich nur viele Knochen gebrochen hätte. Vielleicht müßte er dann ein Leben lang im Rollstuhl sitzen und wäre noch mehr auf Tante Grete angewiesen gewesen.
Schließlich rang sich der Junge zu einem einsamen Entschluß durch. Er würde lernen, damit er bald Geld verdienen konnte. Er würde warten, bis er groß war und Tante Grete dann hinauswerfen. Er würde kein Erbarmen kennen, denn dazu war sie ihm gegenüber viel zu lieblos gewesen.
Der Gedanke daran, Tante Grete hinauszuwerfen, wenn er erst alt und selbständig genug war, beflügelte ihn und gab ihm Kraft zum Durchhalten. Aber ewig hielt diese Kraft auch nicht.
Ganz plötzlich und ohne jeden ersichtlichen Grund war Florian heute morgen in der Schule zusammengebrochen. Er hatte sich gekrümmt und geglaubt, vor wahnsinnigen Bauchschmerzen keine Luft mehr bekommen zu können.
Die Lehrerin war ganz entsetzt gewesen und hatte sich neben ihn gehockt, hatte ihn in die Arme genommen und hilflos an sich gedrückt. Da war Florian ganz still geworden und hatte nur den einen Wunsch gehabt, sie möge ihn noch lange Zeit so im Arm halten.
Aber es hatte eben nicht mehr lange gedauert. Und im gleichen Augenblick, da sie ihn losgelassen hatte, waren die fürchterlichen Schmerzen zurückgekommen. Er hatte aufgeschrien und nicht mehr gewußt, was er tun sollte, um die Schmerzen ertragen zu können. Man hatte ihn liegen gelassen, aus Furcht, man könne ihm schaden, wenn man ihm aufhalf. Und dann war alles ganz, ganz schnell gegangen. Ehe Florian noch recht wußte, wie und was ihm geschah, war er schon im Krankenwagen und auf der Fahrt in die Kinderklinik Birkenhain.
Im Krankenwagen waren die Schmerzen ebenso schnell, wie sie gekommen waren, auch wieder verschwunden. Und Florian hatte Dr. Frerichs bittend angeschaut und leise gesagt:
»Ich glaube, es genügt, wenn ich nach Hause fahre. Die Schmerzen sind fort, und ich fühle mich wieder völlig gesund.«
Hartmut Frerichs hatte ihm kameradschaftlich auf die Schulter geklopft und überredend, aber auch entschlossen erwidert:
»Na, jetzt sind wir einmal auf dem Weg, da fahren wir auch gleich weiter. In der Klinik wird man dich genau untersuchen. Und wenn man dann feststellt, daß dir wirklich nichts fehlt, dann kannst du morgen oder übermorgen schon nach Hause.«
»Na schön«, war Florians Antwort gewesen, die Dr. Frerichs sofort ein bißchen nachdenklich machte, die er aber dann auch schnell vergaß, als man die Klinik erreicht hatte. »Ist mir auch recht. Wahrscheinlich gefällt es mir in der Klinik sogar besser als daheim.«
So kam Florian in die Kinderklinik Birkenhain, ohne auch nur eine blasse Ahnung davon zu haben, daß sich sein ganzes Leben nun schlagartig und vollständig verändern würde.
*
Jörg war immer noch ganz aufgeregt, als Hanna Martens ihn am Nachmittag besuchte und ihm sagte, daß man voraussichtlich morgen schon wieder ein paar Fäden ziehen könne.
»Warum zieht man sie nicht alle auf einmal?« wollte der Junge wissen. Er hatte zwar keine Angst mehr vorm Fädenziehen – aber angenehm fand er diese Prozedur eigentlich auch nicht.
»Weil wir viel haben vernähen müssen. Die Nähte, die tiefer liegen, haben wir mit Fäden vernäht, die sich mit der Zeit selbst auflösen, die man also nicht ziehen muß. Aber die oberen Nähte, die haben wir besonders fest anziehen müssen. Und die müssen ja irgendwann mal gezogen werden. Solange aber noch irgendwo eine winzige Stelle ist, die nicht ganz dicht ist, werden die Fäden belassen und erst später gezogen. Deshalb lassen wir dich ja auch noch nicht nach Hause, obwohl du dich pudelwohl fühlst. Aber wir wollen doch vermeiden, daß du übermütig wirst, die linke Hand zu sehr beanspruchst und die frischen Nähte wieder aufbrechen, nicht wahr?«
Jörg nickte. Dr. Hanna konnte einem alles so wunderbar erklären, daß man es auch begriff. Das war nicht bei allen Ärzten so. Aber Dr. Hanna und ihr Bruder, der Dr. Kay, die waren eben ausnehmen und wußten ganz besonders gut mit Kindern umzugehen. Schließlich waren sie doch auch Kinderärzte!
»Gilt es noch, daß ich mir aussuchen kann, wer auf mein Zimmer kommt?« fragte Jörg und sah Hanna gespannt an. Sie nickte und fragte freundlich:
»Klar. Versprochen ist versprochen, Jörg. Hast du dich entschieden?«
»Ja, ich möchte gern mit Florian auf einem Zimmer liegen. Wir gehen zusammen in eine Klasse, schon seit dem ersten Schuljahr.«
»Ja, natürlich, das habe ich gar nicht recht bedacht. Ihr seid ja gleich alt. Florian ist heute eingeliefert worden.«
»Ich weiß.« Jörg nickte und sah Hanna mit ernsthaftem Gesicht an. »Ich habe es gesehen, ich war gerade draußen, als der Krankenwagen mit ihm kam. Was hat er denn eigentlich?«
»Tja, mir wäre wohler, wenn ich das wüßte. Er muß zur Beobachtung hierbleiben, weißt du? Wir wollen erst noch herausfinden, was ihm fehlt.«
»Kann ich ihn besuchen? Ich möchte ihn fragen, ob es ihm nicht lieber ist, wenn er mit mir zusammen auf einem Zimmer liegt.«
»Ist vielleicht nicht mal die schlechteste Idee.« Hanna legte den Arm um Jörg, als sie mit ihm hinausging. Zwei Zimmer weiter war Jörg untergebracht.
Still und ein wenig blaß und apathisch lag Florian in seinem Bett. Er drehte kaum den Kopf, als er hörte, daß die Tür geöffnet wurde und jemand eintrat. Noch