Die Poesie des Biers. Jürgen Roth
der Nachtschaffner sodann zwei engagiert zerstörten Ausflüglern ohne Umstände und Aufpreis ein Kojencoupé zur Verfügung stellt und höflich verspricht, die braven Gesellen kurz vor Frankfurt zu wecken.
Freund M. haut mir auf den Kopf, als wir um 3.45 Uhr in den Mannheimer Bahnhof hineinrumpeln. Er meint, der Schaffner habe uns nicht wach gekriegt. Der reumütige, zufällig am Ende des Gangs stehende Missetäter läßt sich von mir ordnungsgemäß zur Minna machen, anschließend entern wir im Bauch des Bahnhofs den einzigen geöffneten Imbiß der Stadt, vertilgen die fettigsten Frikadellen zwischen Oder und Oeder Weg und lauschen begeistert derartigen Dialogen: »Gibt’s hier schon alkoholische Getränke?« – »Klar.«
Drei Wochen später sitze ich mit Freund K. im Bistro des IC von Mainz nach Frankfurt. Hinterm Flughafen dämmert mir was. »Verflucht, der fährt nach Mannheim, nicht übern Bahnhof«, sage ich. »Stand das auf dem Plan?« – »Nee!« Diesmal übernimmt Freund K. den Part der Schaffnerbeleidigung. Das hat man davon. Wir müssen nachlösen, nicht zu knapp. Also bloß eine Frikadelle für zwei.
»Sie haben recht, es ist die Summe vieler, oftmals kleiner Dinge, die den Service ausmachen«, lautet Pro Bahn zufolge eine der meistgebrauchten brieflichen Formentschuldigungen der Bahn. »Wird eine Facette negativ erlebt, so wirkt sich das auch negativ auf die Gesamtbeurteilung gegenüber allen Mitarbeitern der Deutschen Bahn AG aus.«
Wird eine Facette wiederholt positiv erlebt, das unwillentliche Erreichen des Mecker-Mekkas Mannheim nämlich, dann ist die Bahn en bloc zu loben: für die großzügig gewährten spirituellen Erfahrungen, die wertvollen zwischenmenschlichen Begegnungen und die außerordentlich vernünftige Zufuhr eiweißsatter Frikadellen aus der one and only Frikadellenkapitale Mannheim am Rhein.
Merci!
Beim Bistrobier belauscht
Drei Männer, um die Sechzig, Geschäftsleute vermutlich (oder Vertreter), im Bistrowagen.
DER EINE (nimmt sein Handy, wählt, beginnt zu sprechen): Du, servus, Helmut! Mir sann grod irgendwo in Fulda. – In Fulda, ja.
EINER DER BEIDEN ANDEREN (ohne Handy): In Würzburg.
DER EINE: Ja, Helmut, der Fischer Karl, der Kanngießer Willi und ich, mir sann grod in Fulda.
DER EINE DER BEIDEN ANDEREN (erst etwas lauter, dann eindringlich): In Würzburg. In Würzburg!
DER EINE: Halt, Helmut, in Würzburg sann ma. – In Würzburg, ja. Des sieht genauso aus. Ja, servus, Helmut.
Beckett guckt Beckenbauer
Den dümmlicherweise »Kein Roman« und nicht einfach »Erinnerungen« untertitelten, aber sonst recht lesenswerten Erinnerungen des ehemaligen pardon-Redakteurs und Werbemannes Rainer Baginski, Das drittletzte Kind (Frankfurt am Main 2002), ist eine Begebenheit zu entnehmen, auf die man hin und wieder in Interviews mit dem Frauenforscher Peter Handke gestoßen war, die jedoch erst bei Baginski in wahrer Überzeugungsstrahlkraftpracht auf uns wirkt. »Vor Jahren«, heißt es da, sei der Suhrkamp-Verleger Siegfried Unseld nach Paris gereist, um seinen Starautor Samuel Beckett in der Brasserie Lipp zu treffen. Nun ist auch Peter Handke an der Seine aufhältig, und aus Zufall (oder nicht) trifft Handke auf den Verleger Unseld, von dem er, Handke, erfährt, daß er, Unseld, am nächsten Tag den Beckett treffen werde zwecks bedeutsamer Konsultationen oder Cocktailkonversationen.
Handke stutzt wohl und erbittet, dabeisein zu dürfen, denn den Beckett wolle er schon lange einmal kennenlernen. Unseld willigt ein und ermahnt Handke zur Pünktlichkeit, in Fragen der Pünktlichkeit nämlich sei der Weiberfex Beckett kleinlich, ja penibel.
Folgenden Tags harrt das Duo Unseld & Handke des Weltfrauenfachmanns. Um zwölf Uhr mittags erscheint Beckett. Der Womanizer nimmt Platz. Das gewichtige Gespräch beginnt, nimmt seinen Lauf und endet um Gongschlag 15 Uhr. Handke bringt während dieser drei bedeutenden Stunden der Weltgeschichte kein Wort heraus. »Pünktlich um 15 Uhr«, so Baginskis Kolportage, »erhebt sich Beckett und teilt mit, er müsse leider dringend gehen. Er muß im Fernsehen Fußball gucken. ›Wie bitte?‹ Peter Handke hat wohl nicht richtig gehört. Mit einemmal kann auch er fließend sprechen. Entgeistert fragt er Beckett, ob der wirklich Fußball gucken gehe. Samuel Beckett macht Peter Handke mit Nachdruck deutlich, daß er jeden Tag mehrere Stunden Fußball guckt, daß es für ihn nahezu nichts gibt, das der Bedeutung von Fußball gleichkommt. Und sagt adieu und geht. Zurück bleibt Peter Handke, reif für ein Jahr in der Niemandsbucht.«
Was Baginski verschweigt, ist dies: Der Sinnvertilger und Niemandsfigurenerschaffer Beckett trollt sich flotten Schrittes, die Hand noch mal zum Abschiedsgruß erhebend, schlägt auf der Straße den Weg zum nächsten Supermarché ein, eilt durch dessen Gänge, reißt zwei Sixpacks Kronenbourg-Bier aus dem Regal, rennt zur Kasse, bezahlt hektisch, stopft die Flaschen in einen Plastikbeutel und hetzt nach Hause.
In den heimischen vier Wänden angekommen, drückt er außer Atem den Fernsehknopf, zerrt aus der Tüte fahrig eine Flasche Bier, blickt währenddessen auf das flackernd sich aufbauende Schwarzweißbild und sieht schemenhaft Gerd Müller aus der Drehung einen Kullerball knapp neben das italienische Tor setzen.
Ein Genie! Ein Künstler! Ein Jahrhundertmensch! entfährt es Beckett. Längst sitzt Beckett auf der Cordcouch, seine linke Hand führt die Flasche zum Mund, mit der rechten fingert er nach einer Filterlosen, er stellt die Pulle ab, und es ist ja schon wirklich piepenegal, ob Deutschland – Italien, damals, in Mexiko, 1970, vor vielen Jahren, gegen 15 Uhr lief, Hauptsache, Samuel Beckett hängt da rum und glotzt, glotzt gedankenverloren und ganz versessen auf Müllers Stiefelsticheleien, auf Müllers Hüftakrobatik und Balliebeleien, außer sich gerät der alte irische Haudegen bei Overaths Antritten, und in großes Entsetzen versetzen ihn Beckenbauers Tändeleien, Beckenbauer, der komische Tänzer und beinahe schwebende Balltätschler, nein, dieser Beckenbauer bringt diese Deutschen, diese wakkeren Rackerer, noch um den verdienten Lohn der sauren Arbeit, vor den Lohn, so nämlich denkt Beckett jetzt, haben die Götter laut Hesiod noch immer den Schweiß gesetzt, und dieser Beckenbauer, der schwitzt ja nicht einmal, der Anblick dieses Beckenbauer macht einen verzweifeln, Angst macht einem diese Leichtigkeit und Leichtfertigkeit, Beckenbauer, kein schlechter Mann, sicher, alles in allem gesehen, aber er sollte sich ein Vorbild an Overath nehmen oder an Seeler, an Seeler, dem Tapferen, der rennt sich die Lunge aus dem Leib wie ich vorhin auf der Jagd nach dem Bier, dieses Spiel macht Durst, es macht sehr durstig, viehische Temperaturen herrschen da ja in diesem fernen und seltsamen Mexiko, wie man da Fußball spielen, wirklich und allen Ernstes Fußball spielen kann, in dieser zerpfiffnen Schüssel, das entzieht sich mir. Das verstehe ich nicht.
Beckett öffnet eine neue Flasche Bier und sieht Held scheitern. Schulz ist auch ein Mann, der zum Scheitern geboren ist, denkt Beckett, oder Haller, der wird alles zunichte machen. Ein Pfiff des Schiedsrichters Yamasaki unterbricht das nervenaufreibende Match. Beckett hält inne.
Andké, diese Stutze’, diese sprachlose und in seine Bücher so sprachschaumige kleine Schummelpoet, diese Andké weiß nix von Leben, denkt der Dichter Samuel Beckett und wendet sich wieder dem Wesentlichen zu, wo »Riva dampft vor Kraft. / Facchetti knüppelt völlig ungestraft. / Der Boden bebt. Es geht um Kopf und Kragen.« (Ror Wolf)
»Beckett guckt Beckham« wäre auch ein schöner Titel für diese Geschichte gewesen. Setzen wir ihn einfach hier unten einmal hin.
Daseinsbewältigung 2008
Jeden Morgen um einundzwanzig vor elf die verquollenen Quanten aus dem Bett schlunzen und die unter dem Kopfkissen bereitliegende halbe Schachtel »Aspirin C plus Thymoleptikum« in den Schlund schütten?
Nein, es gehört sich nicht, Anno Dominostein 2008 so das Dasein zu bewältigen und zu schultern. Der Trend, das zeichnet sich schon jetzt allzu deutlich in den Medien und auch überall sonst »irgendwo irgendwie« (Holger Sudau) ab, geht gänzlich anderswohin.
Nämlich zunächst einmal führe, wird hie und