Eigensinn und Bindung. Daniel Hoffmann G.
Spiegelungen der Fragmentierung der modernen Welt, als Dokument des geistigen Aufbruchs der Zwischenkriegszeit, von der man zu behaupten geneigt ist, sie sei überhaupt die einzig moderne Zeit des vergangenen Jahrhunderts gewesen.
Vieles spricht dafür, dass ein neugieriger Blick auf Scheler sich lohnt. Nicht nur, weil seine Werke nun komplett zugänglich sind – die Herausgabe der Gesammelten Werke inklusive der Nachlassschriften ist vollendet –, sondern weil auch seine Themen – Philosophische Anthropologie, Auseinandersetzung mit Wertfragen, Fragen nach dem Stellenwert des Fühlens für das menschliche Denken und Verhalten – an Aktualität gewonnen haben. Hier hat Scheler in vielen Punkten immer noch einen Denkvorsprung, der von der aktuellen Diskussion erst noch eingeholt werden muss.
„Ganz erfüllt von katholischen Ideen“
War Max Scheler ein katholischer Intellektueller? Er selbst hätte diese Etikettierung für sich vermutlich abgelehnt. In einem Brief an Ernst Troeltsch vom 6. Juli 1917, in dem es um die Frage eines möglichen „katholischen“ Lehrstuhls für ihn geht, distanziert er sich von diesem Gedanken: „Denn ich pflege, wie meine rein philosophischen Bücher klar zeigen, auf schärfste [!] den rein philosophischen und voraussetzungsfreien Standort der Vernunft von dem des Glaubens und Bekennens in meinen methodischen Intentionen und meist schon in der Form meiner Publikationen zu unterscheiden. Ich darf daher freundlich bitten, meine rein philosophischen und meine mehr oder weniger publizistisch gefärbten Veröffentlichungen auch in Lektüre und Aufnahme ebenso scharf zu scheiden, als ich es in der Produktion zu tun pflege.“4
Es ist jedoch unwahrscheinlich, dass diese strenge Trennung von den Rezipienten seiner Schriften nachvollzogen wurde. Fest steht, dass Scheler während der Kriegsjahre, spätestens ab 1915, nach der Veröffentlichung des Aufsatzes „Soziologische Neuorientierung und die Aufgabe der deutschen Katholiken nach dem Krieg“ in der Zeitschrift „Hochland“ als Exponent des Katholizismus galt. Nicht zuletzt aufgrund dieser Rolle wurde er von Kölns Bürgermeister Konrad Adenauer 1919 als Direktor an das Institut für Sozialwissenschaften geholt und erhielt endlich seine ersehnte Professur an der jungen Kölner Universität in Philosophie und Soziologie. Wenige Zeit später jedoch schon, um das Jahr 1923, erfolgte der Bruch Max Schelers mit der katholischen Kirche.
Von seinen Kritikern war Scheler immer wieder unterstellt worden, seine Identifikation mit der katholischen Kirche sei nur äußerlich und erfolge aus taktischen Gründen, um eine Professur zu erhalten. Tatsächlich war Max Scheler, obwohl getauft, nur kurze Zeit praktizierender Katholik. Doch schon vorher, so schreibt Edith Stein, die ihn um das Jahr 1910 im Phänomenologenkreis um Husserl in Göttingen kennenlernte, war er „ganz erfüllt (...) von katholischen Ideen“ und verstand es, „mit allem Glanz seines Geistes und seiner Sprachgewalt für sie zu werben (...) Die Schranken der rationalistischen Vorurteile fielen (...) und die Welt des Glaubens stand plötzlich vor mir“.5 Nicht nur Edith Stein, auch andere Personen seines Bekanntenkreises wie seine zweite Frau Märit Furtwängler, Dietrich von Hildebrand, Peter Wust und Otto Klemperer haben durch Scheler den Anstoß bekommen, zum katholischen Glauben zu konvertieren.
Wie ist dies nun vor dem Hintergrund zu verstehen, dass Scheler selbst 1923 behauptete, dass er sich nach den „strengen Maßen der Theologie der römischen Kirche (...) einen ,gläubigen Katholiken‘ zu keiner Zeit seines Lebens und seiner Entwicklung nennen durfte“?6 Sein engster Freund, Dietrich von Hildebrand, urteilte, Scheler sei selbst in seinen gläubigsten Phasen stets ein „Outsider“ geblieben, obwohl das „katholische Gedankengut, soweit es sich auf natürliche Fragen erstreckt“, stets der Angelpunkt seines Lebens und Denkens gewesen sei.7 Diese Befunde müssen vor dem Hintergrund von Schelers Biographie und seiner persönlichen und philosophischen Entwicklungen gelesen werden, stehen aber auch im Zusammenhang der politischen Ereignisse im ersten Drittel des letzten Jahrhunderts.
Frühe Erfahrungen
Max Scheler stammte nicht aus einem katholischen Elternhaus, sondern besaß eine gemischt konfessionelle Herkunft. Er wurde am 22. August 1874 in München geboren. Sein Vater Gottlieb (1831 – 1900) war evangelisch, seine Mutter Sofie (1844 – 1915) orthodox jüdisch. Sie stammte aus der in München alteingesessenen jüdischen Familie Fürther. Auf ihr Drängen gab der als charakterschwach geschilderte Vater seine Stelle als Gutsverwalter auf Gut Hörlasreuth bei Bayreuth auf, um in die bayerische Hauptstadt zu ziehen. Dort wurde Max streng orthodox erzogen, im Sinne seines reichen Onkels Hermann Fürther, dessen Erbe er nach dem Willen seiner Mutter antreten sollte. Sie soll eine sehr schöne, aber auch strenge und gefühlskalte Frau gewesen sein.
Claire Goll, die Cousine Schelers, schildert in ihren autobiographischen Texten „Der gestohlene Himmel“ und „Ich verzeihe keinem“ das Familienklima der Fürthers als dominiert von Angst. Die kleinste Kleinigkeit genügte, um übermäßigen Strafen ausgesetzt zu werden. Sie berichtet von einer krankhaften Versessenheit ihrer Mutter auf körperliche Misshandlungen, was von der Familie gebilligt wurde. Sie selbst entfloh dieser Familie so bald wie möglich durch eine frühe Heirat.
Von Max Scheler weiß man, dass er als verwöhnter Sohn und Erbe erzogen wurde. Seiner von ihm heiß geliebten jüngeren Schwester Hermine jedoch stand seine Mutter abweisend gegenüber: Aufgrund der Familiengeschichte ist es gut möglich, dass sie eine ähnliche Kindheit zu erdulden hatte wie Claire Goll. Mit sechzehn Jahren nahm sie sich 1903 zusammen mit ihrem Verlobten das Leben. Wenngleich Scheler selbst wohl keinen Misshandlungen ausgesetzt war, so gibt es doch eine Art Missbrauch, der in der Luft liegt, der ihm sicher nicht entgangen ist, dem er aber als Kind wohl hilflos gegenüber stand. Die Schuld- und Unwertgefühle, die Scheler sein Leben lang verfolgten, deuten darauf hin. Dies könnte jedenfalls eine Erklärung für Schelers frühe Abwendung von seiner Mutter und seiner Familie und der in ihr praktizierten Religion bilden.
Offiziell wurde Scheler erst 1899 katholisch getauft, stand dem katholischen Glauben, der in seiner barocken bayerischen Ausprägung im damaligen München allgegenwärtig war, jedoch schon seit seiner Schulzeit nahe. Angeblich waren es Erfahrungen mit Maiandachten, in die ihn Dienstmädchen als Junge mitgenommen hatten, und das dort empfundene warme Gemeinschaftsgefühl, das ihn am katholischen Glaubensleben faszinierte. Dies mochte ihn vor dem Hintergrund der kühlen Familienatmosphäre besonders angezogen haben.
Er galt als begabter, aber fauler Schüler und schaffte mit Mühe 1894 das Abitur am Münchener Ludwigsgymnasium. Kurz danach lernte er auf einer Reise nach Tirol seine spätere Frau kennen, Amélie von Dewitz-Krebs. Sie war sieben Jahre älter als er, hatte eine siebenjährige Tochter und lebte schon längere Zeit von ihrem Mann getrennt. So studierte Scheler zwei Semester Medizin in München, folgte dann aber Amélie 1895 nach Berlin. Dort belegte er hauptsächlich Kurse bei Wilhelm Dilthey und Georg Simmel. Die Idee, Medizin zu studieren, entstammte wohl einem echten Interesse: Er befasste sich sein ganzes Leben lang vor allem mit Fragen der Psychopathologie, kannte viele Mediziner und Naturwissenschaftler persönlich und war gut über den Stand der biologischen und physikalischen Forschung seiner Zeit informiert.
1896 verließ Scheler Berlin, um in Jena bei Rudolf Eucken Philosophie zu studieren.8 Hier erfolgte eine erste produktive Phase seines philosophischen Schaffens. 1899 erschien in der „Zeitschrift für Philosophie und philosophische Kritik“ (Bd. 11, 4/2) Schelers erste selbstständige Veröffentlichung, der Aufsatz „Arbeit und Ethik“. 1899 wurde seine Dissertation „Beiträge zur Feststellung der Beziehungen zwischen den logischen und ethischen Prinzipien“ veröffentlicht, 1900 seine Habilitationsschrift „Die transzendentale und psychologische Methode“. Zentrale Problemkreise der Philosophie Schelers, die dazu führten, dass seine in der frühen Jugend begonnene Annäherung an die katholische Kirche für etliche Jahre mit seiner philosophischen Entwicklung zusammenfloss, lassen sich bis in diese Phase der Frühschriften zurückverfolgen.
Die Bedeutung der Liebe
Seine Philosophie war von dem Motiv bestimmt, Denken und Leben zu versöhnen, sowie die Eigenart des menschlichen Geistes sowohl hinsichtlich formalistischer Engführungen als auch psychologistischen Reduktionismen gegenüber zu bewahren. Mit Nietzsche, den er intensiv studiert hatte, glaubte