Eigensinn und Bindung. Daniel Hoffmann G.
einer rationalistischen Ethik die Inadäquatheit des zugrunde liegenden Konzepts menschlicher Rationalität zeigen. Es ging ihm um einen Vernunftbegriff, der alle ethischen Phänomene integrieren kann, ohne seine Rationalität um scheinbar notwendig a-rationale Lücken herum aufzubauen. Dass sowohl der Psychologismus als auch der Rationalismus Grundprobleme der Ethik nicht befriedigend lösen können, lag in Schelers Perspektive daran, dass sie die emotional-werthaften Phänomene menschlichen Erlebens nicht richtig integrieren.
Indem Scheler in späteren Schriften den Kern des Geistes als Liebe qualifizierte, erschien das Problem der Integration emotional-werthafter Konstituentien konzeptionell lösbar: Liebe ist ein Anderes als Erkennen, aber sie ist gleichzeitig auf das Erkennen bezogen, ja sogar die Bedingung der Möglichkeit einer wahrhaft objektiv sachbezogenen Stellung zur Welt überhaupt. Die heimliche Quelle der Achtung der Vernunft ist für Scheler die Fundierung des Verstehens in einer ethischen Stellungnahme. Sie beruht für ihn auf der untergründigen, stillschweigenden Voraussetzung, dass der wahren Ansicht der Dinge die respektvolle Erfassung des ihnen von sich selbst her zukommenden, auf sie selbst verweisenden Wertes vorhergehen muss.
Auch anthropologisch schrieb Scheler der Liebe zentrale Bedeutung zu. An die Stelle der Selbstinterpretation des Menschen als animal rationale, als durch rationale Reflexion spezifiziertes Lebewesen, trat seine Deutung als ens amans, als Wesen, das durch die Fähigkeit zu einer ethisch-liebenden Einstellung gekennzeichnet ist.
Scheler sah den Geist in der affektiv-ethischen Befähigung des Menschen fundiert, das Seiende distanziert in seinem Selbstwert und nicht nur unter der Rücksicht eines bestimmten Interesses wahrzunehmen. Für ihn konstituierte sich dadurch eine innere Würde der Vernunft.
Von daher war er bestrebt, den Begriff der Person von einem rein rationalen Begründungszusammenhang abzukoppeln und auf der Ebene ethischer Vollzüge zu verankern. Dazu bedurfte es eines integrativen Konzepts geistiger Fähigkeiten des Menschen, in dem auch außervernünftige Faktoren, wie z. B. Gefühle, ihr kognitives Recht erhalten, das aber nicht in Psychologie oder Biologie aufgeht.
Ein solches Konzept zu entwerfen war ein Grundanliegen von Schelers Philosophie, und hier traf er sich auf organische Weise mit dem von Hildebrand beschriebenen echt katholischen Gedankengut. „Es geht in keiner Weise an, das alles als ,Katholisieren‘ zu bezeichnen, als bloß gelegentliches Kreuzen mit katholischen Gedankengängen.“9 Für ihn und viele andere stellte Schelers Philosophie eine Wiedereroberung und Neugewinnung katholischer Glaubensinhalte dar, indem er zentrale Punkte der klassischen christlichen Ethik zum ersten Mal ausdrücklich philosophisch fasste. „Dinge, die für die aszetisch-mystische Literatur unserer heiligen Kirche längst selbstverständlich sind, denen man aber doch nie philosophisch ganz gerecht wurde.“10
Private Turbulenzen
Zurück zu Schelers weiterem Werdegang: Nach den ersten Veröffentlichungen begann er sich in Jena zu etablieren, und die von ihm angestrebte akademische Karriere schien so gesichert, dass er 1899 die nunmehr geschiedene Amélie heiratete. Kurz danach begann die Krise. Mindestens ein Sohn, vielleicht aber auch zwei Kinder aus dieser Ehe starben sehr früh, bevor 1905 der Sohn Wolfgang Heinrich geboren wurde. 1922 schrieb Amélie Dewitz-Krebs an Schelers zweite Frau, Märit Furtwängler, die die Kinder, die sie sich mit Scheler gewünscht hatte, nicht bekommen konnte: „Wie gut, daß nicht meine zwei anderen Kinder, die ich mit meinem Manne hatte, leben, wie gut, daß Sie keine Kinder haben, da ihr Gatte Lärm und sonstige Störungen, wie sie auch die besten Kinder mit sich bringen, nicht ertragen kann.“11
Vermutlich nicht zuletzt durch den Verlust zweier Kinder war das Nervenkostüm Amélies in der Jenaer Zeit zerrüttet bis zur Hysterie. Schließlich rief sie aus Eifersucht einen Eklat hervor, als sie die Frau des Verlegers Diederichs, die sie verdächtigte, ein Verhältnis mit ihrem Mann zu haben, auf einem Gesellschaftsabend öffentlich ohrfeigte. Amélie kam in psychiatrische Behandlung, und Scheler ließ sich mitten im Wintersemester 1905/06 zur Regelung seiner persönlichen Angelegenheiten für ein Jahr beurlauben. Er knüpfte Kontakte nach München, und es gelang ihm, eine Umhabilitation zu erreichen. Amélie folgte Scheler mit dem Sohn nach München, doch eine Versöhnung scheiterte. 1907 reichte Scheler erstmals die Scheidung ein, zog sie aufgrund des angegriffenen Gesundheitszustandes seiner Frau aber wieder zurück. Ab 1908 lebte das Ehepaar getrennt.
In München vollzog sich Schelers Wandlung zum Phänomenologen. Scheler selbst nennt zwar als ausschlaggebend für seinen Weg in die Phänomenolgie seine erste Begegnung mit Husserl 1902 in Halle. Einflussreicher war aber wohl eher der Kontakt zu einem Schülerkreis von Theodor Lipps, der eine relativ eigenständige, eher gegenstandsorientierte Form der Phänomenologie entwickelte, später als „Münchener Phänomenologie“ bezeichnet.
Kaum hatte Scheler sich in München eingelebt, folgte die nächste Krise: 1908 wurde er Opfer einer Pressekampagne, die von Amélie und ihrer Mutter ausgelöst wurde. Amélie behauptete, er habe eine Frau in seiner Begleitung bei einem Kuraufenthalt als seine Ehefrau ausgegeben und er habe sich von einem Studenten Geld geliehen. Diese Vorwürfe wurden in der Presse aufgebauscht und als unvereinbar mit der Würde eines Professors dargestellt. Sie entbehrten zwar größtenteils der Grundlage, führten aber dennoch zum gesellschaftlichen Ruin. Mit der Absicht, sich in einem Prozess zu rehabilitieren, bat Scheler den Senat der Münchener Universität um Enthebung von seiner Stelle, um die Universität nicht mit hineinzuziehen. Er bekam diese Enthebung mit der Zusage, dass sie nach dem Prozess zurückgenommen werde.
In der Zwischenzeit hatte er aber seine neue Liebe Märit Furtwängler kennengelernt, deren Mutter das Verhältnis zu dem 17 Jahre älteren Mann sehr missbilligte. Um die in München sehr bekannte Familie Furtwängler nicht zu kompromittieren, verzichtete Scheler auf den Prozess. Die diffamierenden Behauptungen blieben in der Welt, und die Aufhebung der Venia legendi wurde nicht zurückgenommen. Nach seiner Heirat mit Märit 1912, die ihre hohe Mitgift Schelers erster Frau als Preis für die Einwilligung in die Scheidung überlassen musste, stand Scheler völlig mittellos da. Doch obwohl ihm nun der Weg einer akademischen Karriere verbaut schien, folgte eine sehr produktive Zeit. Er begann 1913 die Veröffentlichung seines Hauptwerks, der Ethik, wurde Mitherausgeber des von Husserl gegründeten „Jahrbuchs für Philosophie und Phänomenologische Forschung“, veröffentlichte Studien zum Sympathiegefühl, zum Ressentiment und andere Aufsätze.
Die antikapitalistische Mission der Kirche
Der Beginn des Ersten Weltkriegs läutete eine neue Phase der Beziehung Schelers zur katholischen Kirche ein. Zunächst entfachte dieses Ereignis in ihm, wie in vielen anderen deutschen Intellektuellen, ein unvermutetes patriotisches Feuer. Er veröffentlichte die Schrift „Der Genius des Krieges und der Deutsche Krieg“ (1914), in der er im Krieg einen revolutionär kulturkritischen Wert freizulegen suchte. Die moralische Dekadenz Europas, bewirkt durch den kapitalistischen Geist und die ihm verfallenen Denk- und Gesellschaftsformen, sah er durch die Macht des Krieges entlarvt, den er als schrecklich genialische Möglichkeit verstand, erneuernde Kräfte zu entbinden.
Diese Schrift wurde von vielen seiner Berliner Bekannten wie Max Brod, Franz Werfel, Martin Buber und Arnold Zweig mit Entsetzen und scharfer Kritik aufgenommen. Gleichzeitig begründete sie schlagartig Schelers Ruhm als Publizist. Hatte er zwar vorher in der akademischen Welt mit seinen Arbeiten gewisse Spuren hinterlassen, so existierte Scheler jedoch für die meisten Deutschen vor der Veröffentlichung seiner Eulogie des Krieges nicht. Für viele Menschen der Kriegsgeneration war nunmehr diese Schrift Schelers der treffende Ausdruck des Geistes von 1914, des Taumels eines unverhofften Gemeinschaftsgefühls, dem sich die Deutschen größtenteils willenlos ergaben.
Neue Aufsätze Schelers wurden von der Öffentlichkeit von da an begierig erwartet, und sie wurde nicht enttäuscht. Es entstand eine Reihe national-pädagogischer Schriften wie „Die Ursachen des Deutschenhasses“, „Reue und Wiedergeburt“, „Die christliche Liebesidee und die gegenwärtige Welt“, „Vom kulturellen Wiederaufbau Europas“ usw. Nicht zuletzt war Scheler auch auf die Einnahmen seiner Kriegsschriften angewiesen, um sich finanziell über Wasser zu halten.
Tatsächlich hielt der Enthusiasmus der ersten Kriegsmonate