Eigensinn und Bindung. Daniel Hoffmann G.
Disziplin, würden angestrebt. Dabei sei der Index gerade in diesen glaubensfeindlichen Zeiten unentbehrlich.32 Angesichts der Masse an wissenschaftlichen und literarischen Publikationen und der rasanten Verbreitung von Ideen sei es notwendig, Glauben und Moral zu schützen. Sämtliche Reformanregungen der Bittschrift wurden zurückgewiesen. In einem weiteren Beitrag bemühte man sich, den Autoren der Bittschrift Unkenntnis der Verfahrensordnung für Buchzensurprozesse33 nachzuweisen. Der in der Petition artikulierten Bitte, dem Autor die Möglichkeit zur Verteidigung einzuräumen, wurde entgegengehalten, dass die Verfahrensordnung angesehenen Autoren das Recht gewähre, angehört zu werden, freilich eine Bestimmung, die in der Praxis nur selten umgesetzt wurde; tatsächlich trat die Kongregation oft erst dann mit den Autoren in Kontakt, wenn das Urteil über ihre Schriften bereits gefällt war.34 In zwei weiteren Artikeln schließlich wurde die Münsteraner Initiative mit dem Modernismus in Verbindung gebracht:35 Der Geist des Individualismus, der Kult des „Ich“ werde der hierarchisch verfassten Autorität und dem Lehramt der Kirche entgegengestellt.
Von Hertling, der trotz seines Rückzuges von der Bewegung in den publizierten Entwürfen als zentrale Figur erschien, hatte Mühe, sich durch entsprechende Presseerklärungen glaubhaft von ten Hompels Initiative zu distanzieren. Die Münsteraner waren mittlerweile in die Offensive gegangen: Neben einer Presseaussendung, in der erklärt wurde, dass von Hertlings Name „irrtümlich“ verwendet worden sei,36 veröffentlichten sie die Entwürfe von Bittschrift und „Organisationsgrundlagen“ der Kulturgesellschaft im „Münsterischen Anzeiger“ vom 11. und 12. Juli 1907.37 Der Kritik, dass die Index-Liga bislang im Geheimen operiert hatte, begegnete man dadurch, dass Mitte August dem Bischof von Münster, Hermann Dingelstad (1889 – 1911), und dann den Kardinälen Anton Fischer (1840 – 1912) von Köln und Georg Kopp (1837 – 1914) von Breslau die Bittschrift zugestellt wurde, damit diese auf der Fuldaer Bischofskonferenz im August 1907 besprochen werden konnte.38 Während Dingelstad und sein Generalvikar von Hartmann den Unternehmungen ten Hompels äußerst kritisch gegenüberstanden, hatte Kopp in einem Schreiben vom 25. Juli an den Bittschriftunterzeichner Graf Praschma (1867 – 1935) bekundet, dass er die „treukirchliche Gesinnung der katholischen Männer“ anerkenne. In dem in der „Germania“ veröffentlichten Schreiben kritisierte Kopp allerdings, dass die Münsteraner den Episkopat nicht frühzeitig informiert hatten.39
Hinsichtlich der Anliegen der Münsteraner war die Bischofskonferenz eher ein Rückschritt: Eine bereits im November 1906 von Rom erteilte Erlaubnis, Beichtvätern die Vollmacht zum Dispens vom Verbot, indizierte Bücher zu lesen, erteilen zu dürfen,40 von der die deutschen Bischöfe bislang keinen Gebrauch gemacht hatten, wurde auch weiterhin nicht umgesetzt.41 Es ist anzunehmen, dass die öffentliche Aufregung um die „Index-Liga“ die Bischöfe zu dieser Vorsichtsmaßnahme bewogen hatte.
Auch nach der Bischofskonferenz im August 1907 blieb die Affäre um ten Hompels Bittschriftunternehmen im öffentlichen Bewusstsein. Im Dom zu Münster wurde im Dezember unter deutlicher Anspielung auf die Index-Liga gepredigt. Weihbischof Everhard Illigens (1851 – 1914)42 brachte die Bestrebungen, die Indexregelungen zu modifizieren, mit dem Modernismus in Zusammenhang, indem er die Beschreibung der Modernisten als Reformer aus der im September erlassenen Enzyklika Pascendi43 anwendete.44 Bischof Dingelstad verteidigte in seinem Fastenhirtenbrief im Februar 1908 die kirchliche Buchgesetzgebung, „die die Kirche in ihrer mütterlichen Liebe und Sorge (...) zur Abwehr der Pest schlechter Bücher“ erlassen habe. Offensichtlich auf die Index-Liga anspielend mahnte er: „Diese Schutzwehr in vermessenem Vertrauen auf die eigene Kraft und Tugend zu schwächen oder entfernen zu wollen, das würde heißen, Tausende ohne Not in die größte Gefahr ihrer Seelen zu bringen.“45
Aber nicht nur in Münster blieb die Index-Liga Thema. 1908 erschien die zweite Auflage von Commers Schmähschrift gegen Schell. Wie zuvor die „Corrispondenza Romana“ versuchte Commer, Schell eine zentrale Funktion im Bittschriftunternehmen zuzuschreiben46 und, wie auch der „Osservatore Romano“, die Index-Liga „einer Art Freimaurerei“ und des mittlerweile durch die Enzyklika Pascendi umfassend definierten und verurteilten Modernismus zu zeihen.
Die Verteidiger der Indexkongregation sahen sich mittlerweile durch die Kurienreformen Pius’ X. bestätigt.47 In einer „Romkorrespondenz aus hochgestellten kirchlichen Kreisen“, die in der „Schweizerischen Kirchenzeitung“ publiziert wurde, deutete der Autor die gestärkte Stellung der Kongregation durch die Neuorganisation der Kurie als Antwort auf die Reformvorschläge der Index-Bittschrift: Die Indexkongregation war weder aufgehoben noch umgestaltet worden, wie andere Kongregationen, ihre Vollmachten wurden erweitert, da sie jetzt auch, ohne dass zuvor eine Anzeige erfolgen musste, Bücher untersuchen sollte.48 Tatsächlich hatte Pius X. zunächst vorgesehen, die Indexkongregation als eigenständige Behörde aufzulösen und die römische Buchzensur ganz dem Heiligen Offizium zuzuweisen, nahm davon nach den römischen Publikationen zur Index-Liga aber wieder Abstand.49 Im Zuge seiner antimodernistischen Kampagne versuchte der Papst in der Folgezeit die Buchzensur als Instrument zu stärken: Die Enzyklika Pascendi schärfte die Pflicht der Bischöfe zur präventiven und repressiven Zensur ein und rief die geltenden Bestimmungen in Erinnerung.50 Das Motu proprio Sacrorum antistitum wiederholte nicht nur die Maßnahmen, sondern verhängte gar ein generelles Verbot für Seminaristen, Zeitungen und Zeitschriften zu lesen.51 Als eine Lehre der „Modernisten“ führte Pascendi die Forderung an: „Die römischen Kongregationen (...) besonders die des heiligen Offiziums und des Index, müssen gleichfalls geändert werden“52 und schuf damit die Basis, um die Münsteraner Index-Liga als modernistisch zu verurteilen.
Die Stellungnahmen in der Presse nahmen nicht ab; oft wurde die Auseinandersetzung um die Index-Liga verknüpft mit der Debatte um das Andenken Schells. Der Münsteraner Pastoraltheologe Peter Hüls (1850 – 1918) etwa verteidigte die zweite Auflage von Commers Schell-Buch im Januar 1908 im „Westfälischen Merkur“ und nutzte seinen Artikel, um die Index-Liga als modernistisch zu verdächtigen.53
Ostern 1908 veröffentlichte ten Hompel zusammen mit Justizrat Hermann Hellraeth und Astronom Josef Plassmann (1859 – 1940)54 die Schrift „Indexbewegung und Kulturgesellschaft“ mit dem Ziel, die vielfach verzerrenden Darstellungen der Vorgänge aus dem Jahr 1907 durch eine kleinschrittige Dokumentation mit einer ermüdenden Fülle an Belegen und Zitaten zu korrigieren und im zweiten Teil das nach wie vor geplante Vorhaben einer Kulturgesellschaft zu umreißen. Kurz nach Erscheinen der Schrift versuchte der neue Nuntius in München, Andreas Frühwirth OP (1845 – 1933),55 im Staatssekretariat zu beruhigen: Eine solche Gesellschaft verlange immense finanzielle Mittel und eine besondere Eintracht der Seelen, beides Dinge, die schwer zu erlangen seien. Grundsätzlich sei das Anliegen richtig, Wissenschaftler und Gläubige einander anzunähern; allerdings bringe eine Gesellschaft, die völlig unabhängig von der kirchlichen Autorität sei, Gefahren mit sich.56
Während Frühwirth offenbar hoffte, die Angelegenheit würde sich verlaufen, trug das Verhalten eines Deutschen an der römischen Kurie dazu bei, dass ten Hompel weiter für Schlagzeilen sorgte: Bis ins Jahr 1911 erstreckte sich die Auseinandersetzung um das Verhältnis des Rota-Auditors Franz Heiner (1849 – 1919)57 zur Index-Liga. Über das Bittschriftunternehmen hatte Heiner auf einer Konferenz mit ihren führenden Köpfen im September 1907 in Münster gesprochen.58 Heiner stimmte grundsätzlich zu, dass „die Handhabung des Bücherverbots (...) tatsächlich einer Reform“ bedürfe, war aber mit der von ihm gründlich mit Anmerkungen versehenen Petition59 nicht einverstanden: Er wollte die namentlichen Verbote beibehalten wissen und sprach sich dagegen aus, den Fall Schell zur Basis der Eingabe zu machen.
Vermutlich aus seinen kritischen Äußerungen bei dieser Besprechung leitete Heiner später ab, er habe „die Antiindexbewegung mit ihrer Index-Bittschrift totgemacht“.60 Heiner hatte sich entgegen früherer Aussagen mittlerweile dem Urteil angeschlossen, die Index-Adressliga sei ein „Symptom des Modernismus“,61 und außerdem die kirchliche Buchzensurpraxis verschiedentlich verteidigt.62 Der ehrgeizige Heiner versuchte offenbar, sich als einflussreicher Wahrer kurialer Interessen in Deutschland