Eigensinn und Bindung. Daniel Hoffmann G.

Eigensinn und Bindung - Daniel Hoffmann G.


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Gegensätze von Geist und Leben und Idee und Macht durch den Lauf der Weltgeschichte geeint werden können, war für Scheler eine Versöhnung der politisch-sozialen Gegensätze vorstellbar. Sein neuer Entwurf eines werdenden, leidenden Gottes, der in Abhängigkeit vom Menschen durch zunehmende gegenseitige Durchdringung von Drang und Geist zu sich selbst kommt, ergab ein eher düsteres Weltbild, dem die Gefahr des Scheiterns inhärent ist.

      Dieser ernüchterte Blick entsprach den tiefgehenden Veränderungen im privaten Bereich, die Schelers Scheidung ausgelöst hatten. Er fand in seiner dritten Ehe nicht zur Ruhe und litt an starken Schuldgefühlen gegenüber Märit, was ihn psychisch stark belastete. Er ließ sich nun des Öfteren von seinen Lehrveranstaltungen beurlauben, war trotz seiner angegriffenen Gesundheit viel auf Reisen und versuchte, von Köln, dessen geistiges Klima ihm zu provinziell erschien, wegzukommen. Getrieben von dem Gedanken, sein Werk nicht vollenden zu können, arbeitete er an seiner Anthropologie und Metaphysik und veröffentlichte Schriften zur Wissenssoziologie und Erkenntnistheorie. 1928 erschien die „Stellung des Menschen im Kosmos“, eine dichte Zusammenfassung seiner anthropologischen und metaphysischen Gedanken. Im selben Jahr erhielt er einen Ruf nach Frankfurt als Professor für Soziologie und Philosophie. Scheler freute sich auf die Aufgabe, schöpfte neuen Mut. Er hoffte auf Kontakte mit Cassirer, Mannheim, Adorno und Rudolf Otto.

      Doch bevor er seine Lehrveranstaltungen aufnehmen konnte, erlitt Scheler in Frankfurt einen Herzanfall. Zwei Tage vor seinem Tod erfuhr Scheler, dass seine Frau schwanger war. Er, der sich immer sehnlichst Kinder gewünscht hatte, sich seinem ersten Sohn Wolf entfremdet hatte, erlebte die Geburt des Sohnes Max Georg nicht mehr. Er starb am 19. Mai 1928 mit 54 Jahren.

      Märit setzte es zusammen mit seinem ehemaligen Beichtvater Robert Grosche durch, dass er in Köln ein katholisches Begräbnis erhielt (an dem Maria Scheler, die gegenüber der katholischen Kirche verbittert war, nicht teilnahm). War dies in Schelers Sinne? Vermutlich schon. Der harte Bruch mit der Kirche als Institution wurde von Seiten katholischer Kreise hauptsächlich auf Schelers Verhältnis mit Maria Scheu und die nachfolgende Scheidung und Wiederverheiratung zurückgeführt. Die Veränderung seiner philosophischen Ansichten wurde von daher als „Rechtfertigungen seiner Fehler“ abgetan.

      Scheler selbst sah dies so: „Meine ideelle Entwicklung vom Katholizismus weg – die ich so sehr bejahe – wäre auch ohne diese Verwirrungen möglich gewesen. Es ist ein Irrtum, anzunehmen, daß diese neue Entwicklung mit dem Mariaereignis verbunden sei. Glaube mir, es ist ein Irrtum. Der Grundvorgang war rein religiös und sehr tief – und ich gehe immer weiter in dieser Wandlung.“18

      Schelers Leben war geprägt von Konflikten und Krisen. Dabei sehnte er sich lebenslang nach Harmonie und Ausgleich. Er selbst beklagte seine Triebhaftigkeit, „meine innere Gebrochenheit, die dunkle und häßliche Wildheit meiner Natur, (...) meine erotische Verquertheit“,19 gegen die er sich nicht wehren konnte. Er erlebte sie als schuldhafte und demütigende Exzesse seines Charakters. Diese bezogen sich jedoch nicht allein auf den sexuellen Bereich. Scheler rauchte weit über 40 Zigaretten täglich und trank gut drei Liter Bier am Tag. Obwohl er wusste, dass er damit seine Gesundheit ruinierte, schaffte er es trotz intensiver Bemühungen nicht, sich einzuschränken. Mit der gleichen Unmäßigkeit warf Scheler sich auf Menschen und Ideen und ließ sie hinter sich, wenn Neues ihn fesselte.

      Die katholische Kirche bot ihm für eine gewisse Zeit Halt und die Hoffnung auf Versöhnung seiner innerlichen Zerrissenheit. Er hat sie im Gegenzug reich beschenkt, auch wenn sie ihm auf Dauer nicht zur Heimat werden konnte. Das Ringen um einen Ausgleich aber gab er nie auf, nicht nur in seinem persönlichen Leben, sondern auch in seinem Werk, das die Umbruchstimmung und Zerrissenheit einer Gesellschaft in der Krise der Moderne in einer ungewöhnlichen Offenheit dokumentiert. Seine private Tragik besteht darin, dass er stets kurz vor dem Ziel scheiterte.

      Schriften von Max Scheler: Gesammelte Werke. Hg. v. Maria Scheler (†) u. Manfred S. Frings. 15 Bde. Bern/München/Bonn 1954 – 1997.

      Sekundärliteratur: Ralf Becker/Christian Bermes/Heinz Leonardy (Hg.): Die Bildung der Gesellschaft. Schelers Sozialphilosophie im Kontext. Würzburg 2007 – Christian Bermes/Wolfhart Henckmann/Heinz Leonardy (Hg.): Denken des Ursprungs. Ursprung des Denkens. Schelers Philosophie und ihre Anfänge in Jena. Würzburg 1998 – Dies. (Hg.): Person und Wert. Schelers „Formalismus“ – Perspektiven und Wirkungen. Freiburg i. Br. 2000 – Dies. (Hg.): Vernunft und Gefühl. Schelers Phänomenologie des emotionalen Lebens. Würzburg 2003 – Dies. (Hg.): Solidarität. Person und Soziale Welt. Würzburg 2006 – Manfred S. Frings: The Mind of Max Scheler. Milwaukee 1997 – Paul Good (Hg.): Max Scheler im Gegenwartsgeschehen der Philosophie. Bern 1975 – Hans-Hermann Groothoff: Max Scheler. Philosophische Anthropologie und Pädagogik zwischen den Weltkriegen. Hamburg 2003 – Wolfhart Henckmann: Max Scheler. München 1998 – Wilhelm Mader: Max Scheler in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. Reinbek b. Hamburg 1980 – Jan H. Nota: Max Scheler. Der Mensch und seine Philosophie. Fridingen a. D. 1995 – Ernst Wolfgang Orth/Gerhard Pfafferott (Hg.): Der Mensch im Weltalter des Ausgleichs. Freiburg i. Br./München 1994 – Gerhard Pfafferott (Hg.): Vom Umsturz der Werte in der modernen Gesellschaft. Bonn 1997 – Angelika Sander: Mensch – Subjekt – Person. Die Dezentrierung des Subjekts in der Philosophie Max Schelers. Bonn 1996 – Dies.: Max Scheler zur Einführung. Hamburg 2001 – John R Staude: Max Scheler. An intellectual Portrait. New York/London 1967.

      Adolf ten Hompel

       Vom „Modernisten“ zum Nationalsozialisten

       Jan Dirk Busemann

      Adolf ten Hompel wurde im Jahr 1874 in wohlhabende Verhältnisse hinein geboren: Sein Vater August (1849 – 1919) war der alleinige Vorstand der Wicking’schen Portland-Cement- und Wasserkalkwerke, seine Mutter Henriette (1849 – 1922) die Tochter des Unternehmensgründers Adolf Wicking.1 Nach seiner Schulzeit in Recklinghausen führte ihn das Studium nach Freiburg i. Br., Würzburg, Berlin und Göttingen, er schloss es 1897 mit einer juristischen Promotion ab. Aus der Ehe mit seiner Frau Maria, geborene Strunck, gingen fünf Kinder hervor. Dass sein Name weit über die Grenzen seiner westfälischen Heimat bekannt wurde, verdankte ten Hompel einer Initiative, die er mit Anfang 30 ins Leben gerufen hatte.

      Das Münsteraner Bittschriftunternehmen

      Im Jahr 1906 hatte sich in Münster um ten Hompel, mittlerweile Assessor am Landgericht, ein Kreis von Laien zusammengefunden, mit dem Ziel, eine Bittschrift an den Papst zu verfassen und diesen zur Modifikation der kirchlichen Büchergesetzgebung zu bewegen. Zum einen sollte eine von ten Hompel entworfene Petition an Pius X. (1903 – 1914) gerichtet werden, zum anderen strebte er an, die organisierten Unterzeichner mit der Görres-Gesellschaft zu fusionieren, beziehungsweise eine „Christliche Kulturgesellschaft für die Organisation des Laienapostolats im Dienste der christlichen Weltanschauung“ zu gründen, falls die gewünschte Fusion scheitern sollte.2 Hintergrund für das Bittschriftunternehmen war die Indizierung der Hauptwerke Herman Schells (1850 – 1906)3 im Dezember 1898. Der Dogmatiker wurde durch seine beiden Reformschriften „Der Katholicismus als Princip des Fortschritts“ (1897) und „Die neue Zeit und der alte Glaube“ (1898) zur Symbolfigur eines Katholizismus, der darauf drängte, kulturtragende Kraft zu sein, statt sich in ein konfessionelles Ghetto zurückzuziehen. Ähnliche Bestrebungen wurden in verschiedenen Feldern des gesellschaftlichen Lebens artikuliert: Julius Bachem (1845 – 1914) strebte eine Öffnung der Zentrumspartei an, Karl Muth (1867 – 1944) forderte und förderte eine stärkere Beteiligung der Katholiken am nationalen Kulturschaffen, Georg von Hertling (1843 – 1919) wollte das Defizit der Katholiken in den Wissenschaften überwinden. Besonders gebildete katholische Laien sehnten sich nach „Parität“ und wollten die protestantisch dominierte Gesellschaft mitgestalten. Mit diesen Integrationsbestrebungen ging eine Emanzipation vom unmittelbaren Einfluss der kirchlichen Hierarchie einher, allerdings ohne dass dem Katholizismus an sich sein gestalterisches Potenzial für die Gegenwart abgesprochen wurde.

      Mit der Forderung, die katholische Buchzensur zu reformieren, und mit der Gründung einer


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