Eigensinn und Bindung. Daniel Hoffmann G.

Eigensinn und Bindung - Daniel Hoffmann G.


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die schmerzhaft empfundene „Inferiorität“ des katholischen Bevölkerungsteils zu überwinden.

      Für die Unterzeichnung der Petition bemühte man sich, namhafte Repräsentanten des katholischen Deutschlands zu gewinnen, war darüber hinaus aber an einer internationalen Vernetzung interessiert. So wurde etwa über Karl Muth der Kontakt zum italienischen Autor Antonio Fogazzaro (1842 – 1911) hergestellt, dessen Roman „Il Santo“ (Der Heilige), ein internationaler Bestseller, der reformkatholische Ideen transportierte, im April 1906 auf den Index gesetzt wurde.4

      Ziele und Argumentation der Münsteraner Liga

      In der Bittschrift5 wurde keineswegs die völlige Abschaffung der kirchlichen Bücherzensur gefordert, sondern lediglich Milderungen und Modifikationen des geltenden Rechts erbeten.

      Eine zentrale Bitte war die Beseitigung der namentlichen Verbote. Ein Buch konnte auf zweierlei Weise verboten sein: Entweder, indem es namentlich per Dekret verboten und dann in den Index aufgenommen wurde, oder es war verboten, weil es von einer der allgemeinen Indexregeln betroffen war. So waren zum Beispiel alle Werke der „Häresiarchen“ Luther, Calvin und Zwingli für Katholiken per se nicht erlaubt. Gleiches galt für diejenigen Bücher, die vermeintlich gegen den Glauben und die guten Sitten verstoßen.6

      Die Index-Bittschrift schlug vor, statt einzelne Werke namentlich zu indizieren, sollten „im Vertrauen auch auf die aus eigener Kraft sich durchdringende, selbständig werbende Kraft der Wahrheit“7 nur noch die allgemeinen Indexregeln gelten und diese zeitgemäß umgestaltetet werden.

      Wenn der Papst die Abschaffung der namentlichen Verbote nicht für möglich hielte, sollte doch wenigstens alles beseitigt werden, was „dem germanischen Volksgewissen aufs allertiefste widerspricht“: nämlich die Verurteilung ohne vorherige Anhörung des Angeklagten, die Geheimhaltung der Indizierungsgründe und die Verpflichtung des Verurteilten zum Schweigen, ohne dass eine Schweigepflicht für die Gegner des Verurteilten bestünde. Dem Autor sollte die Möglichkeit eingeräumt werden, sich schriftlich und mündlich zu verteidigen und vor der Indizierung sein Werk zurückzuziehen und beanstandete Stellen zu ändern.8 Mit Blick auf die Leser wurde eine Abschaffung der Exkommunikation als Indexstrafe angeregt.9 Ferner sollte der Beichtvater die Möglichkeit bekommen, den Dispens zur Lektüre verbotener Bücher auszustellen.10 Nach den bisherigen Regelungen lag diese Vollmacht bei den Bischöfen und den römischen Zensurbehörden.

      An der bestehenden Zensurpraxis bemängelten die Autoren der Bittschrift, dass sie dem wissenschaftlichen Fortschritt im Weg stehe und die Kluft zwischen Wissenschaft und Glauben vergrößere.11 Die Werke „tiefgründiger Forscher und wahrhaft christlicher Vorkämpfer“ seien oft besonders gefährdet wegen der „Denunziationsbegier (...) kurzsichtiger Gemüter“.12 Dagegen würde „dem Mutternamen der Heiligen Kirche (...) eine liebevolle Beratung entsprechen, die geleitet wird von dem ruhigen Vertrauen, daß alle Wissenschaft notwendig schließlich doch im Brennpunkte der Wahrheit zusammenfließen muß“.13

      Durch namentliche Indizierungen könne vor zensurwürdigen Publikationen wegen ihrer großen Zahl nicht wirksam geschützt werden. Hier werde vielmehr „selbstverantwortliches Handeln jedes einzelnen zur heiligen Pflicht“.14 Die notwendige Schulung der gebildeten Katholiken, um alles in Christus zu erneuern, sei nicht möglich, „wenn selbst unentbehrliche Werke, wie Kants Kritik der reinen Vernunft namentlich verboten werden, wenn also selbst inmitten der Geisterschlacht das geistige Fastengebot des Index gilt“.15

      Dadurch, dass die Erlaubnis, verbotene Bücher lesen zu dürfen, bei der bischöflichen Behörde und nicht beim Beichtvater eingeholt werden müsse, habe der Index seine Funktion als Seelenführer eingebüßt. Er laufe Gefahr, zum Kampfmittel der Parteien und Strömungen zu werden und so der Wissenschaft zu schaden.16

      Die Zensurprozesse wurden als unzeitgemäß empfunden, da sie nicht den modernen rechtsstaatlichen Standards entsprachen. Die Verteidigungsmöglichkeiten des Autors waren gering, und durch die nicht gewährte Akteneinsicht blieb der Autor über die Begründungen des Verbots seines Buches im Einzelnen meist im Unklaren.

      Während Indexapologeten argumentierten, durch den Index schütze die Kirche ihre Kinder vor Irrtümern, stand in der Bittschrift: „Der Vater wird wohl dem unmündigen Kinde, nicht aber dem erwachsenen die Namen der Bücher vorschreiben, die gefahrbringend und bei Strafe zu meiden sind.“17 Formulierungen wie diese zeugen von einem neuen Selbstbewusstsein der Laien:18 Mit Hilfe der allgemeinen Indexregeln sollte der mündige Katholik selbst die Gewissensentscheidung fällen, welche Bücher er zu meiden habe.

      Rückschläge und „Modernismus“-Vorwürfe

      Bevor die zweite und letzte Korrekturphase der Petition im Juli 1907 abgeschlossen werden konnte,19 erlitt das Vorhaben drei schwere Rückschläge.

      Zunächst begann die Front der Unterstützer zu bröckeln. Bei einem Gespräch im Frühling 1907 hatte der Gründungspräsident der Görres-Gesellschaft, Georg von Hertling,20 in Berlin seine Unterschrift für die Bittschrift zugesagt und offenbar auch eine Kooperation zwischen Görres-Gesellschaft und Bittschriftunternehmen nicht kategorisch abgelehnt.21 Als von Hertling dann im Juni seine Unterschrift aus Furcht um das Image der Görres-Gesellschaft zurückzog, war die Enttäuschung bei den Münsteranern groß. Neben von Hertling distanzierten sich mit Hermann Cardauns (1847 – 1925) und Julius Bachem weitere führende Mitglieder der Görres-Gesellschaft. Auch der Theologe Joseph Mausbach (1861 – 1939) zog sich von der Bewegung zurück.22 Der Professor für Apologetik und Moraltheologie erfreute sich im deutschen Katholizismus großer Beliebtheit, zumal er in den heftigen Kontroversen der Zeit oft um Vermittlung bemüht war. Er wäre daher ein prominentes Aushängeschild der Bewegung gewesen.23

      Ein zweiter Dämpfer für die Münsteraner war das Belobigungsschreiben des Papstes an den Neuthomisten Ernst Commer (1847 – 1928).24 In der Auseinandersetzung um den 1906 verstorbenen Schell trat dessen vormaliger Freund Commer als sein schärfster Gegner hervor.25 Für sein Werk „Herman Schell und der fortschrittliche Katholizismus“26 erhielt er auf Anregung des Indexsekretärs Thomas Esser OP per Breve vom 14. Juni 1907 eine päpstliche Belobigung,27 die die ohnehin stark emotionalisierte Kontroverse weiter anheizte. Da die Indizierung Schells der Auslöser für das Bittschriftunternehmen war, traf die Belobigung des Schell-Gegners Commer zumindest indirekt auch den Kreis um ten Hompel.28

      Ein weiterer Rückschlag aus Rom sollte folgen. Ein Exemplar des vertraulichen Bittschriftentwurfs und der Organisationsgrundlagen für die Kulturgesellschaft gelangte in die falschen Hände: Am 7. Juli 1907 druckte die „Corrispondenza Romana“ unter der Überschrift „Una lega segreta internazionale contro l’Indice e per la Cultura“ die bis dahin geheim gehaltenen Unterlagen in italienischer Übersetzung ab. Hinter der integralen „Corrispondenza Romana“ stand mit Umberto Benigni (1862 – 1934), Untersekretär im vatikanischen Staatssekretariat, „der prominenteste und vielleicht einflussreichste Antimodernist unter Pius X.“29 Im einleitenden Absatz der ungewöhnlich umfangreichen „Corrispondenza“-Ausgabe wurde zur „Indexbewegung und Kulturgesellschaft“ bemerkt, seit Bismarck bezeichne der Terminus „Kultur“ den Kampf gegen den traditionellen, integralen, römischen Katholizismus und werde vor allem von den Modernisten verwendet. Aus den geheimen Dokumenten spreche der Geist des indizierten Romans „Il Santo“ von Fogazzaro, der auf Deutsch im „Hochland“ erschienen und dessen Herausgeber Muth Teil der Index-Liga sei.

      Die Veröffentlichung der im Entwurfsstadium befindlichen Dokumente löste ein breites Echo aus. Nachdem zunächst Zweifel an der Authentizität des Materials laut wurden,30 versuchte vor allem die Zentrumspresse die von der „Corrispondenza Romana“ aufgebauschte Angelegenheit herunterzuspielen.

      Der Enthüllungsjournalismus der „Corrsipondenza Romana“ bekam Schützenhilfe durch den „Osservatore Romano“: Ab dem 9. Juli wurde dort in anonymen Artikeln gegen


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