Eigensinn und Bindung. Daniel Hoffmann G.

Eigensinn und Bindung - Daniel Hoffmann G.


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Gedanken, die uns zu Beginn des großen Krieges beseelten“,12 gelten lassen. Die eigentliche Aufgabe bestand nun für ihn „in der Gewissenserforschung des deutschen Wesens über sich selbst und über die europäischen Geisteszustände, die zu diesem Kriege als dem moralisch furchtbarsten, blutigsten und schmerzensreichsten Ereignis aller uns bekannten europäischen Geschichte geführt haben“.13

      Dieser Aufgabe widmete sich die kurz darauf erschienene Aufsatzsammlung „Krieg und Aufbau“ (1916). Nunmehr ließ das massenmörderische Geschehen für ihn keinen politisch und wirtschaftlich tieferen Sinn mehr erkennen, sondern rief nach einer gesamteuropäischen Revolution und Neuaufbruch. Alle kriegführenden Staaten müssten sich aufgrund des Krieges den Aufgaben der Läuterung, der Reue und Umkehr, der geistigen Erneuerung stellen.

      Diese Aufgabe wies Scheler der katholischen Kirche zu. In ihr sah er die kulturellen Kräfte und Möglichkeiten, den Kapitalismus und seine Lebensformen, die letztendlich zum Krieg führten, zu bekämpfen, und er entwickelte die Idee eines christlichen Sozialismus als Antikapitalismus. Damit eröffnete er, als Außenstehender, den deutschen Katholiken Denkweisen und Handlungsoptionen, die sie selbst kaum zu formulieren gewagt hätten, und half damit dem deutschen Katholizismus aus der engen Position, in die ihn der Kulturkampf gebracht hatte, herauszuführen. In der unterdrückten, in die Enge getriebenen Kirche sah Scheler politisch oppositionelle Alternativen zum kapitalistischen Geist, womit er ihr eine wichtige Rolle für die zukünftige Entwicklung Europas zuwies.

      Schelers Kernthese war, dass der kapitalistische Geist die Ursache der kapitalistischen Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung sei und nicht umgekehrt das kapitalistische System der ökonomischen Besitzverteilung die Ursache des kapitalistischen Denkens. Kapitalismus verkörperte für ihn an erster Stelle ein Lebens- und Kultursystem und erst an zweiter Stelle eine Form der ökonomischen Besitzverhältnisse. Im christlichen Sozialismus, in dessen Zentrum der Gedanke der wechselseitigen Solidarität aller für alle zu stehen habe, sah Scheler einen dritten Weg zwischen Kommunismus und Kapitalismus. Da er den Protestantismus als zu sehr mit dem Geist des Kapitalismus verflochten verstand, war die katholische Kirche dazu berufen, diese Aufgabe zu leisten.

      Zu Beginn des Krieges ging Scheler selbstverständlich davon aus, dass die kulturelle Erneuerung und die Verwirklichung seiner Ideen politisch durch einen Sieg der Mittelmächte verwirklicht würden, weswegen er von der Berliner Propagandastrategie im Sinne einer psychologischen Kriegführung eingespannt wurde – und sich dafür auch einspannen ließ.

      Im Auftrag der Auswärtigen Amtes hielt er in neutralen Staaten, vor Kriegsgefangenen und vor allem in katholischen Kreisen, Vorträge, die der deutschen Seite Sympathiepunkte verschaffen sollten. Scheler war in diesen Jahren zum Sprecher katholischen Geistes innerhalb und außerhalb Deutschlands geworden.

      Die Kriegsjahre führten jedoch auch zu einer Neubelebung seines religiös-praktischen Interesses. Trotz seiner Taufe 1899 war Scheler bis dahin kein praktizierender Katholik gewesen. Seit 1915 hatte er intensiven Kontakt zu den Benediktinerklöstern Beuron und Maria Laach und nahm dort am mönchischen Leben teil. Franz von Assisi war für ihn zu dieser Zeit die Vorbildgestalt des Heiligen, dem gegenüber der Philosoph an die zweite Stelle rücken musste. In Schelers Philosophie, in der das Erkennen durch Liebe fundiert ist, wurden die Grenzen zur christlichen Religion, die das Wesen Gottes als Liebe und die höchste Form religiöser Praxis als Mit-Lieben versteht, fließend. Es war die Phase in Schelers Philosophie, in der er mit seinen Ideen der katholischen Kirche am nächsten stand.

      Zu Ostern 1916 legte er in Beuron die Beichte ab und ging zur Kommunion, womit seine Aufnahme in die katholische Gemeinschaft als praktizierender Gläubiger versinnbildlicht werden sollte. Auch seine Frau Märit trat in diesem Jahr zum katholischen Glauben über. Franz Xaver Münch, ein katholischer Geistlicher, mit dem Scheler in Köln befreundet war, schilderte ergriffen die religiöse Hingabe, zu der Scheler fähig war: „Gestern war ich mit ihm in Kevelaer, das heißt, er nahm mich mit. Er hat fast eine volle Stunde in tiefster, ergreifendster, kindlicher Hingabe vor dem Gnadenbild gelegen (...). Ich war ganz ergriffen und gedemütigt von einer so starken religiösen Leidenschaft.“14

      Die Abwendung

      Nach dem Krieg war Scheler eine bekannte Figur geworden, so dass die Auswirkungen des alten Münchener Skandals verblassten. Mit seiner Berufung nach Köln 1919 war Scheler akademisch praktisch rehabilitiert. Man mochte meinen, als stünde der von ihm ersehnten wohlsituierten, ruhigen Existenz als Universitätsprofessor nichts mehr im Weg. Es scheint jedoch ein fatales Muster in Schelers Leben zu geben, dass in dem Moment, in dem sein Leben endlich in ruhigeren Bahnen zu verlaufen sich anschickt, eine Krise eintritt, die sowohl sein persönliches Leben als auch seine philosophischen Einstellungen umwälzt.

      Kurz nach dem Umzug der Familie nach Köln lernte Scheler bei einer Abendveranstaltung die 27-jährige Maria Scheu kennen, eine reizvolle junge Frau, und verliebte sich hoffnungslos in sie. Dennoch wollte er zunächst an seiner Ehe mit Märit festhalten. Er schlug ihr eine Ehe zu dritt vor, wobei Märit als Ehegenossin fungieren sollte und Maria als die Geliebte. Seine Zerrissenheit zwischen den beiden Frauen führte schließlich 1920 zu einem ersten Herzanfall. 1923 konnte Märit Schelers Entscheidungsunfähigkeit nicht mehr ertragen und verließ ihn. Die Ehe wurde noch im gleichen Jahr geschieden, und im Jahr darauf heiratete Max Scheler Maria Scheu. Zeitlebens blieb er jedoch mit Märit in engem brieflichen und persönlichen Kontakt.

      Mit dieser nunmehr dritten Ehe war Scheler als Repräsentant des Katholizismus untragbar geworden. Der Erzbischof von Köln hatte Bedenken gegen diesen Moralisten, den er nicht mehr für geeignet hielt, seine Seminaristen an der Universität zu unterrichten. Scheler, zur Unterredung mit dem Bischof gebeten, wies diese Kritik mit den berühmten Worten ab: „Der Wegweiser geht selbst nicht an den Ort, zu dem er führt.“15

      Es gärte in Scheler. Im Aufsatzband „Vom Ewigen im Menschen“ 1921 wurden zwar nochmals wesentliche Züge seiner Philosophie, die originär katholischem Gedankengut entsprachen, veröffentlicht: Die Philosophie steht in einem religiösen Rahmen, der personale Gott gilt als oberster Grund des Seins. Doch bald darauf entfernte sich Schelers Denken zunehmend von der katholischen Kirche. 1923, im Vorwort zur Neuherausgabe des Aufsatzes „Christentum und Gesellschaft in Schriften zur Soziologie und Weltanschauungslehre“ sagte er sich quasi öffentlich von ihr los. Dieser Akt machte Scheler im katholischen Milieu viele Feinde. Nicht wenige, die erst unter dem Eindruck seiner Schriften katholisch geworden waren, wie zum Beispiel sein treuer Freund Dietrich von Hildebrand, distanzierten sich von ihm und fühlten sich verraten. Aus dieser Enttäuschung ist die teils polemische Kritik verstehbar, die Scheler von nun an häufig von katholischer Seite entgegengebracht wurde.

      Doch Schelers Themen hatten sich verändert. In den Kölner Jahren gehörte sein Interesse zunehmend sozial- und naturwissenschaftlichen Studien, die er selbst letztlich als Vorarbeiten für eine groß angelegte Metaphysik und Anthropologie auffasste. Der Rahmen der katholischen Lehre wurde ihm dabei zwangsläufig zu eng. Bei aller Sympathie für katholisches Denken lag es nie in Schelers Natur, sich einer von ihm erwarteten Geisteshaltung zu unterwerfen, philosophisch ebenso wenig wie privat.

      Scheler wandte sich vom Konfessionalismus der Kirche ab und positionierte sich nunmehr eindeutig außerhalb ihrer. 1928 formulierte Scheler, er halte es für sehr unwahrscheinlich, dass die geistige Elite – und zu dieser zählte er sich zweifellos – „in strenger Übereinstimmung mit den Satzungen irgendeiner positiven Kirche stehen und gleichzeitig den Forderungen der Weltstunde gerecht werden kann“16, ohne diese Satzungen so zu verbiegen, dass der bloße Schein einer Übereinstimmung bestünde. Seine neue Überzeugung war, dass die Elite sich keiner positiven Kirche verschreiben dürfe. Dabei verstand Scheler sein eigenes Verhältnis zur Religion und seine eigene religiöse Position keineswegs als ungläubig, agnostizistisch oder atheistisch. Solche Einstellungen hielt er für pseudoreligiöse Surrogate.

      Im Hintergrund steht vielmehr, dass für Scheler nun die Metaphysik an die Stelle der Religion getreten war. „Daß die falschen Glaubenssicherungen fielen, daß ich meine ernste, mutige, realistische und doch gläubige und hoffende Metaphysik gefunden – viel ernster wurde, wirklichkeitsnäher und entschlossener in Allem –


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