Elvis - Mein bester Freund. George Klein
Ohren nicht gerade »besonders«, der neue Junge aber hob sofort seine Hand.
»Fräulein Marmann?«, rief er.
»Ja, Elvis?«
»Haben Sie etwas dagegen, wenn ich meine Gitarre mitbringe und etwas singe?«
Es gab ein wenig Gekicher und Gelächter. Damals, 1948, war es ganz und gar nicht »cool«, wenn ein 13-jähriger Junge ein »Country«-Instrument wie die Gitarre spielte. Cool wäre es gewesen, seinen Football oder seine Boxhandschuhe mit in die Schule zu nehmen. Dieser Junge jedoch wollte seine Gitarre mitbringen und singen. Er saß auf der linken Seite des Klassenzimmers und ich ganz rechts, aber auf einmal starrte ich über die Reihen zu diesem neuen Schüler hinüber. Sein Name war Elvis Presley.
Fräulein Marmann verbat sich das Gekicher im Klassenzimmer, wenngleich auch sie dieses Ansinnen ein bisschen zu erstaunen schien. »Ja, Elvis – das wäre schön«, sagte sie. »Bring ruhig deine Gitarre mit in den Unterricht.«
Am Montag darauf nahmen wir im Musikunterricht alle unsere Plätze ein, und da kam auch schon Elvis Presley mit seiner Gitarre. Als ihn Fräulein Marmann aufrief, nahm er die Gitarre, ging nach vorn und sang zwei Stücke für uns, die beide keine Weihnachtslieder waren. Das erste war »Old Shep«, ein herzergreifendes Lied über einen Jungen und seinen Hund, das zweite »Cold Icy Fingers«, eine Art lustiges Gespensterlied. Als der letzte Akkord verklang, herrschte einen Moment lang Grabesstille, dann brach die ganze Klasse in Applaus aus.
Unsere Klassenkameraden hatten vermutlich etwas furchtbar Schlechtes erwartet – etwas, über das sie lachen konnten. Dieser Junge konnte jedoch tatsächlich singen und spielen. Er hatte mich, ehrlich gesagt, vom Hocker gerissen. Zunächst war es natürlich beeindruckend, dass er über eine gewisse Begabung verfügte. Aber zu sehen, wie er nach vorn ging und vor der gesamten Klase und einer der strengsten Lehrerinnen der gesamten Schule so kraftvoll und leicht sang, war noch einmal etwas ganz anderes. So etwas hatte ich noch nie gesehen. Ich ging gern ins Kino und träumte ab und zu von einem Leben im Showgeschäft, wusste aber nicht, wie man das anstellen sollte. Hier in der Humes High jedoch war ein Junge, der sich nicht scheute, ins Rampenlicht zu treten. Das verblüffte und beeindruckte mich.
Zum ersten Mal in meinem Leben dachte ich: »Mensch, der Typ ist cool.« Ich sollte es noch oft denken.
Es wäre schön, wenn ich sagen könnte, dass Elvis Presley und ich von jenem Augenblick an unzertrennliche Kumpels waren, aber das war nicht ganz der Fall. Später stellte ich mich ihm vor, und wir unterhielten uns dann und wann. Wir waren zwei Jungs, die sich freuten, wenn sie einander auf dem Korridor begegneten. Ich erinnere mich, dass er einmal sagte, er habe sich ebenfalls für die Schulkapelle beworben, sei aber abgelehnt worden (ich weiß zwar immer noch nicht, warum ein Typ mit seinem Talent nicht aufgenommen wurde, aber ich bin dankbar dafür).
Elvis und seine Familie lebten damals noch in einer Pension in der Poplar Street, zogen aber kurz darauf in das von der Regierung geförderte Siedlungsprojekt in Lauderdale Courts um. Ich lebte mit meiner Mutter und meiner Schwester direkt gegenüber der Humes, und wenn wir Jugendlichen um Viertel nach drei aus der Schule kamen, gingen Elvis und ich getrennte Wege. Rückblickend weiß ich, dass er und seine Familie in Tupelo bettelarm gewesen waren und alles daran setzten, in ihrer neuen Heimatstadt ein besseres Leben zu beginnen.
Meine Familie kam von etwas weiter weg, musste aber für ihr Auskommen nicht weniger hart arbeiten. Meine Mutter und mein Vater waren orthodoxe Juden. Sie stammte aus Russland, er aus Polen. Beide hatten ihrer Heimat in den zwanziger Jahren den Rücken gekehrt, als in Osteuropa der Antisemitismus aufflammte. Meine Mutter hatte zwar Verwandtschaft in Chicago, ihre Überfahrt wurde jedoch von einem jüdischen Rechtsanwalt aus Memphis bezahlt, durch welchen sie auch meinen Vater kennenlernte. Sie ließen sich in einem kleinen Haus in der Leath Street im Norden von Memphis nieder, wo sie erst meine Schwester Dorothy und dann mich bekamen. Meine Eltern waren geflohen, noch bevor Hitler an die Macht kam, und wollten sich nun in Amerika ein neues, besseres Leben aufzubauen. Die Dinge nahmen jedoch eine unglückliche Wendung, weil mein Vater schwer krank wurde. Ich kann mich an ihn als Teil meiner Kindheit eigentlich kaum noch erinnern und weiß offen gestanden nicht einmal ganz genau, woran er litt. Ich habe nur ein paar undeutliche Erinnerungen daran, wie wir ihn in einer Spezialklinik in Hot Springs im Bundesstaat Arkansas besuchten, wo er die letzten Jahre seines Lebens ans Bett gefesselt war.
Wir waren niemals wohlhabend, kamen aber zurecht, konnten saubere Kleider tragen und hatten immer etwas zum Abendessen. Mein Vater hatte vor seiner Erkrankung ein Geschäft für landwirtschaftliche Erzeugnisse eröffnet. Er kaufte Obst und Gemüse von den Bauern und verkaufte sie dann an Gemüseläden weiter. Von dem Gewinn erwarb er zwei kleine Häuser im Norden von Memphis, eines für uns selbst und eines zur Vermietung. Nach seinem Tod lebten wir zum Teil von den Mieteinnahmen. Daneben arbeitete meine Mutter als Schneiderin und änderte in einem der feineren Konfektionsgeschäfte in der Innenstadt von Memphis Anzüge. Sobald ich alt genug war, ging auch ich einem Broterwerb nach: Ich trug Zeitungen aus und brachte zusätzlich etwas Geld nach Hause, indem ich bei Paraden Ballons und anderes verkaufte.
Im Norden von Memphis wohnten nicht sehr viele Juden. Ich weiß außerdem, dass es in der Südstadt Bezirke gab, wo sich meine Mutter und ich nicht gerade willkommen gefühlt hätten, insbesondere vor dem Hintergrund der Spannungen während des Zweiten Weltkriegs. Meine Familie wurde jedoch so problemlos akzeptiert und fügte sich so perfekt ein, dass das einzige Mal, als ich mit Vorurteilen konfrontiert wurde, gar nicht wusste, was gemeint war. Ich ging gerade in die siebte Klasse, mein erstes Jahr an der Humes, als eines Nachmittags ein älterer Junge zu mir herkam und mich ein »Judenbaby« nannte. Vielleicht hatte er erwartet, dass ich in Tränen ausbrechen oder nach ihm schlagen würde, aber ich stand einfach nur da und starrte ihn an, weil ich tatsächlich nicht wusste, ob »Judenbaby« nun etwas Gutes oder etwas Schlechtes sein sollte. Also fragte ich den Jungen: »Was ist denn ein Judenbaby?« Die Frage brachte ihn völlig aus der Fassung, und wie sich herausstellte, hatte er keine Antwort parat. Er zuckte nur mit den Schultern und ging davon. Ich hörte solche Worte nie wieder.
Als ich an die Humes kam, verlief mein Tag fast immer nach demselben Muster: Nach der Schule legte ich zuerst eine kleine Pause in einem Imbisslokal ein, wo ich ein kaltes Getränk oder etwas Süßes zu mir nahm, dann eilte ich nach Hause, um etwas Zeit mit dem einzigen Luxusgegenstand zu verbringen, den wir besaßen: einem großen, wuchtigen Standradio. Als kleines Kind verpasste ich nur selten eine Folge von Die grüne Hornisse, Lone Ranger oder Superman. Später hörte ich gern die Sendung von Diskjockey Bill Gordon, die nachmittags auf WHBQ lief, dem größten Sender der Stadt. Gordon spielte die aktuellen Hits – jenes Zeug also, mit dem Fräulein Marmann nichts anzufangen wusste. Doch er war ein lustiger Dampfplauderer und außerdem der erste Moderator, den ich je hörte, der etwas über die Platten erzählte und Witze über die Musik riss, die er spielte.
Noch aufregender war es, wenn ich ein wenig an dem Sendersuchknopf des Radios drehte und von 560 (WHBQ) auf 1070 (WDIA) ging. Im Jahre 1949 war WDIA die erste Radiostation im Süden, die schwarze Diskjockeys einstellte. Den Anfang machte Nat D. Williams. Williams und seine späteren Kollegen Rufus Thomas oder der noch sehr junge B.B. King spielten für die wachsende schwarze Hörerschaft der Stadt eine Musik, die ganz anders klang. Auf WDIA hörte ich zum ersten Mal Musik, die mit dem gängigen Hitparadengedudel rein gar nichts gemein hatte: Songs von Big Joe Turner, den Clovers, Fats Domino, Ruth Brown und Johnny Ace. Diese Musik klang wild und ein bisschen gefährlich, und ich konnte gar nicht genug davon bekommen – wenn ich auch nicht immer begriff, wovon da eigentlich gesungen wurde. Etlichen meiner Klassenkameraden ging es genauso, und wir machten uns eine Art Sport daraus: Wenn ein neuer Song auf WDIA gespielt wurde, versuchten wir, den Text schlecht und recht mitzuschreiben. Am nächsten Tag brachten wir ihn dann mit in die Schule und versuchten zu ergründen, worum es in dem jeweiligen Stück genau ging.
Ich weiß, dass es Familien gab, in denen die Jugendlichen verprügelt wurden oder Schlimmeres, wenn man sie beim Hören von »Rassenmusik« erwischte. Meine Mutter hingegen sah keine Notwendigkeit, sich über meinen Musikgeschmack aufzuregen. Sie hatte in Russland wirklich schlimme Dinge erlebt und war zufrieden mit dem, was sie in den Vereinigten Staaten hatte. Solange ich nicht in Schlägereien verwickelt war, nicht von der Polizei aufgegriffen wurde und ordentliche