Tattoos & Tequila. Vince Neil
Talent. Wie ich schon sagte, ich bin sehr stolz – ich habe ihm seine erste Gitarre gekauft.
Als ich in der dritten oder vierten Klasse war, veränderte sich Compton allmählich, und es war abzusehen, wohin die Entwicklung führen würde. Es zogen immer mehr Schwarze und Leute aus der Unterschicht dorthin. Überall hingen die Gangs herum. In meinem Viertel herrschten die Crips und die AC Deuceys. Der Bruder meines besten Freundes, Paul, zählte zu den Anführern der Crips, deswegen bekam ich nicht so viel Prügel, wie ich sonst vielleicht hätte einstecken müssen. Ein paar Crips hausten direkt auf der anderen Straßenseite in einer Wohnung, die sie auch als Clubraum nutzten. Und um die Ecke wohnten noch ein paar von den Jungs. Ich steckte also mittendrin. Zwischen den Crips und den AC Deuceys war immer Krieg. Es gab Schießereien, es wurde aus fahrenden Autos gefeuert, aber das war lange bevor die Crack-Epidemie die ganze Gang-Problematik so in die Schlagzeilen brachte. Es waren ganz normale Bandenkriege, Sharks gegen Jets sozusagen, es ging um Gebietsansprüche und Ehre, um Dinge, um die Männer seit Jahrhunderten kämpfen.
Eines Tages kam ich von der Schule und sah vier Kids, die einen ziemlich gut angezogenen, geschniegelt wirkenden Typen überfielen. Sie schossen auf ihn, klauten ihm die Turnschuhe und ließen ihn auf der Straße liegen. Ihm lief das Blut aus dem Mund. Irgendjemand rief den Notarzt und die Polizei. Es war ein schrecklicher Anblick, wie der Typ da Blut spuckte. Er konnte nicht mal mehr sprechen. Ich war damals noch ziemlich klein.
Danach war es, als hätte sich ein Hebel umgelegt. Ein paar Tage später wartete ich vor unserem Haus auf den Eiswagen, so wie immer. Die vier Gang-Mitglieder, die den Typen wegen seiner Turnschuhe erschossen hatten, kamen aus der Wohnung der Crips. Zwar wusste ich, dass meine Schuhe keinem von diesen Riesentypen passen würden, aber ich war trotzdem ziemlich nervös, als sie über die Straße auf mich zukamen. Ich hatte nur einen Gedanken: Jesus, ich hoffe, die wollen sich auch nur für ein Eis anstellen.
Der größte von ihnen ging ganz links und trug ein schwarzes T-Shirt. Über seine Arme zogen sich rote Linien, wie rituelle Narben. Er starrte mich die ganze Zeit über an. Mein Mund wurde trocken, und mir zitterten die Knie. Ich war vielleicht zehn oder elf Jahre alt.
Bevor ich wusste, was lief, trennte sich der große Typ von den anderen. Er packte mich und wirbelte mich herum, wie man es in den Filmen immer mit den Geiseln macht, und hielt mir die Arme fest. Dann schob er die Hände in meine Taschen und wühlte darin herum. Ich hatte nur 15 Cent für das Eis, mehr nicht. Dann spürte ich ganz kurz so etwas wie Druck auf der Kehle. Es ging ganz schnell und fühlte sich auch nicht so an, als ob er viel Kraft angewendet hätte. Zunächst war da auch noch gar kein Schmerz. Aber dann fingen meine Neuronen an zu schreien; ich fühlte, wie etwas meinen Hals herunterrann. Man hatte mich mit einem Messer oder einer Rasierklinge verletzt. Es heißt, dass man bei einem scharfen Messer den Schnitt an sich gar nicht mitbekommt, und erst später den Schmerz fühlt. Gewissermaßen eine Reaktionsverzögerung, als ob dein Körper einen Augenblick lang gar nicht merkt, dass er verletzt worden ist.
Zwar fand der Angriff bei helllichtem Tage statt, aber keiner der Nachbarn hob auch nur einen Finger, um mir zu helfen. In einem von Gangs beherrschten Gebiet ist das total krass, weil alle so viel Angst haben. Die Leute wollen gute Nachbarn sein, sicher, aber wenn es dann darum geht, das eigene Leben aufs Spiel zu setzen, um jemand anderen zu retten, dann hört die Freundschaft auf. Irgendwie rappelte ich mich wieder auf und bin wohl auch wieder ins Haus gelaufen. Was dann passierte, weiß ich nicht mehr. Irgendjemand – meine Mom? Meine Nachbarin? – hat mich ins Krankenhaus gebracht. Ich wurde genäht. Ich weiß nicht mehr, mit wie vielen Stichen, aber der Schnitt lief seitlich über mein Gesicht und übers Kinn. Die Ärzte erklärten, das Messer hätte meine Schlagader nur um zwei Zentimeter verfehlt. Das ist Schicksal, was? Ich hätte an diesem Tag sterben können. Im Krankenhaus betuttelten mich alle Schwestern. Ich bekam schließlich so viel Eis, wie ich nur essen konnte.
Als ich wieder zur Schule musste, kümmerte sich meine Lehrerin, Mrs. Anderson, fürsorglich um mich. Sie war ein ehemaliges Playmate, mit langem, glattem, braunem Haar und einer Figur wie Jessica Rabbit – tataa! Irgendwo in einer meiner Garagen liegt noch eine Playboy-Anthologie herum, in der sie als Pin-up zu sehen ist. Man kann wohl mit Fug und Recht behaupten, dass sie bei mir das Licht angeknipst hat. Sie öffnete mir die Augen für eine der wichtigsten Erkenntnisse meines ganzen Lebens: Ich liebe Frauen. Wenn ich eine schöne Frau sehe, dann bin ich wie ein Kind. Dann folge ich nur einem Instinkt: Habenwollen.
In den Stunden, die Mrs. Anderson unterrichtete, in ihrer Nähe, hatte ich dieses warme, angenehme Gefühl. Noch hatte ich keine Ahnung von Sex, obwohl ich die dazugehörigen Wörter kannte. Aber irgendwie bekam ich mit, dass ich für Mrs. Anderson das empfand, was ein Mann eben für eine Frau fühlt. Es war wie der erste Zug an der Crack-Pfeife: Ein wilder Rausch, dem ich seither hinterherjage.
Wenn man sich bei Mrs. Anderson im Unterricht gut benahm, mit gefalteten Händen am Tisch saß, gut vorlas oder die Fragen beantwortete, die sie stellte, dann gewährte sie einem die Ehre, als Erster nach dem Aufstellen zum Mittagessen und in die Pause gehen zu dürfen – an ihrer Hand! Ich kann mich nicht erinnern, dass ich je dafür auserwählt wurde, weil ich mich in der Klasse hervorgetan hätte … aber mehr davon später. Aber natürlich wollte ich das auch, vor den anderen hergehen und ihre Hand halten. Als ich nach dem Überfall mit Pflaster und Verband wieder in die Schule kam, da wählte sie mich aus. Ich durfte als Erster in die Pause gehen. Sie hatte garantiert keine Ahnung, was mir für Sachen durch den Kopf gingen. Sie dachte vermutlich, dass sie für den kleinen, traumatisierten Jungen nur eine Art Krankenschwester spielte. Aber wenn ich in ihrer Nähe war, dann fühlte ich nicht das, was man als kleiner Junge fühlt. Ich war mir nicht sicher, ob ich ihr Geliebter oder ihr Sohn sein wollte – Hauptsache, ich war überhaupt irgendwas. Am Elternabend, als ich sie meiner Mutter und meinem Vater vorstellte, sagte ich: „Das ist meine Mutter, Mrs. Anderson.“ Ein echter Freud’scher Versprecher. Ich wäre am liebsten im Boden versunken.
Danach waren alle Schleusen offen. Es dauerte kein Jahr, und ich machte meine ersten Erfahrungen mit Tina, einem Mädchen aus der Nachbarschaft; ich schob ihr die Hände unter den Rock und tastete dort zum ersten Mal ein wenig herum, um mir sozusagen einen ersten Eindruck zu verschaffen, wie das Gelände beschaffen war. Ich wusste nicht, was ich da tat oder was das alles nach sich ziehen würde. Ich wusste nur, dass es mich so faszinierte, dass ich weiter herumfingern wollte. Was ist nur dran an den Frauen, dass man sie ständig begehrt?
Shirley Ortiz Wharton
Vince Neils Mutter
Meine Mutter wuchs in Albuquerque, New Mexico, als eines von fünf Kindern auf. Sie zog mit meinem Vater nach Inglewood, als wir noch klein waren. Mein Vater arbeitete dort als Maschinist. Mit 42 starb er an Krebs, und wir zogen in ein kleineres Haus. Ich glaube, er hatte eine Lebensversicherung, denn ich kann mich nicht daran erinnern, dass meine Mutter je arbeitete. Wir waren zu sechst. Ich machte 1955 meinen Highschool-Abschluss. Meine Mutter wohnte größtenteils für den Rest ihres Lebens in diesem kleinen Haus. Wir haben sie oft besucht – auch während der schweren Unruhen in Watts. Vince war damals ungefähr vier. Der Himmel war orange. Er war ganz fasziniert von den Soldaten der Nationalgarde.
Nach der Schule wurde ich Friseurin. Ich ging zur Kosmetikerschule in Hollywood und zum Junior-College in Del Amo. Dort machten immer die großen Zeppeline, die Goodyear-Blimps, fest. Odie traf ich zum ersten Mal an einem Abend, als ich mit meinen Freundinnen unterwegs war. Er gehörte zu einem Autoclub, den Shifters – er hatte die damals topmoderne Entenschwanzfrisur, trug eine grün-weiße Shifters-Jacke und hatte auch einen grünweißen Chevy. Natürlich hatte ich mich auch sehr nett zurechtgemacht, ich war blond, wenn auch nicht von Natur aus. Die Farbe kam aus der Flasche. Schließlich war ich auf der Kosmetikschule, ich habe gern experimentiert. Wir sind uns in einem Autokino begegnet. Da gingen abends alle hin, das war mitten im Viertel, hier bei uns in Manchester. Odies Vater war Anstreicher, aber als ich zur Familie stieß, war er schon in Rente. Es hieß immer, er sei Halbindianer.
Wir zogen später nach Carson in das Haus am Dimondale Drive. Odie und ich hatten die beiden Kinder schon. Sie waren nur 16 Monate auseinander. Um das noch einmal klarzustellen, Carson war kein Ghetto. Es war ein