Wie ein Regenbogen. Simon Wells
war eine Grenze überschritten, als Schifano während eines heftigen Streits ein Lieblingskleid von ihr zerriss, eine Kreation von Rudi Gernreich.
Die Trennung fand dennoch in Freundschaft statt. Marios Freunde hatten bis dahin den Eindruck gehabt, dass Anita seine Ambitionen auf irgendeine Art erstickte. Schifano schrieb im April 1964 in einem Brief an einen Freund: „Nun, da Anita gegangen ist, folge ich dem Rhythmus eines normalen Lebens.“
Da die Aufträge für europäische Modemagazine nun regelmäßiger kamen, kehrte Pallenberg kurzfristig nach Rom zurück, was jedoch nicht von allen so positiv aufgenommen wurde, wie sie vielleicht erwartet hatte. Die gelegentliche Abwesenheit oder das Zurückkommen zu allen möglichen und unmöglichen Zeiten wurde von ihrer Familie mit Missbilligung quittiert. Später behauptete sie, dass ihre Mutter lediglich neidisch auf die Mobilität der Tochter gewesen sei, doch ihr Vater hatte ein deutlich negativeres Bild von ihrem Globetrotter-Leben. „Ich war immer unterwegs“, erzählte sie dem Musikjournalisten Stephen Davis 2001, „und mein armer Vater glaubte wohl, ich sei eine Prostituierte.“
Rom stand immer noch im Bann der kreativen Energie und Anita begegnete weiterhin verschiedenen Künstlerseelen, die von ihrer goldenen Aura und dem Regenbogen an Emotionen hingerissen waren.
„Sie wirkte wie eine unvergleichliche, einzigartige Sirene“, erinnert sich Tony Foutz, ein Filmemacher, der sich Mitte der Sechzigerjahre in Rom aufhielt. „Sie tanzte zu ihrer eigenen Musik und machte alles auf ihre Art. Sie verstand alle Witze, verfügte über ein Gespür für Ironie und Humor. Sie strahlte eine spontane Intensität aus, die sie zu einer Wegbereiterin machte. Die Begegnung mit ihr verschlug vielen Menschen den Atem.“
Durch ihre Arbeit kam sie in Europa viel herum und 1964 reiste sie für einen Auftrag nach Hamburg, der sich mit einem Familientreffen verbinden ließ. Sie hatte die Beatles schon 1962 bei einem Auftritt gesehen und war sich bewusst – wie die meisten Jugendlichen auf der ganzen Welt –, dass die Pilzköpfe zu einem globalen Phänomen geworden waren. In der Stadt erfuhr sie nun von einer Freundin, dass eine andere Band hohe Wellen schlug. „Während ich in Hamburg als Model arbeitete, hörte ich von den Stones“, erzählte sie dem Mojo 2006. „Dann gab es einen Trendwechsel, so in der Art: ‚Die Beatles muss man nicht mehr gesehen haben, jetzt sind es die Stones‘.“
Nach einer Verpflichtung auf Sizilien (und einem kurzen New-York-Abstecher wegen der Arbeit) zog es Anita aufgrund einer ganzen Reihe von Model-Jobs nach Frankreich. In Paris traf sie auf eine Szene, die ihre Sinne entfachte und sie für einen Großteil des Jahres an die Stadt fesselte. Trotz der verhältnismäßigen Nähe zu London war die Pariser Modewelt ein schillerndes und packendes Kuriosum, das alles in Großbritanniens Hauptstadt übertraf. Die Medien waren zwar in Scharen in London eingefallen, um die Objektive auf die neuen, sogenannten „Dolly Birds“ auszurichten, doch die Frauen, die man in Londons Straßen und Clubs sah, waren im Vergleich zu denen in Paris eher unscheinbar. In Frankreich stolzierten die jungen Mädchen geradezu über die Boulevards und großen Plätze. „Englische Rosen“ wie Twiggy, Jean Shrimpton, Pattie Boyd und Jane Asher waren zwar höchst fotogen und auch oft auf Bildern zu sehen, standen jedoch oftmals im Schatten ihrer prominenten Partner.
Anitas Entscheidung für einen Umzug nach Paris war teilweise durch die außergewöhnliche Anziehungskraft der Agentin Catherine Harlé motiviert gewesen. Ihre gleichnamige Agentur rangierte bereits weit höher als die anderen Pariser Vertretungen der Modebranche und stand für einen Talentkult, der eine starke und selbstbewusste feministische Basis hatte. In einer Stadt, in der nahezu alle künstlerischen Grenzen verschoben wurden, katapultierte Harlés Agentur das Modeln auf eine neue Stufe.
Ihr aufmerksames Auge war in den Welten der Fotografie und der Werbung geschult worden. Als alleinerziehende Mutter im Alter von 37 Jahren hatte sie im Sommer 1959 den Sprung ins kalte Wasser gewagt und von ihrem Wohnzimmer aus eine Agentur gegründet. Der bescheidene Anfang stellte für den schnellen Aufstieg kein Hindernis dar. Nur wenige Jahre darauf bezog sie das im Jugendstil eingerichtete, dreistöckige Gebäude 38-42 Passage Choiseul im zweiten Arrondissement der Stadt.
„Meine Mutter war ein toller Talentscout“, berichtet Harlés Sohn Nicolas der New York Times 2013. „Sie sah ein Mädchen und sagte direkt: ‚Die ist perfekt für die Fotos‘.“
Vor Anitas Engagement Ende 1964 verfügte Catherine Harlé bereits über eine ansehnliche Kartei. Dennoch zeigte sie sich von Anitas Präsenz so sehr beeindruckt, dass sie ihr den Flug von New York nach Paris bezahlte. Supermodels wie Veruschka, Zouzou und Anna Karina hatte sie bereits unter Vertrag, und mit ihrem ausgeprägten Talent und vor allem ihrer Einstellung erarbeitete sie sich einen exzellenten Ruf. Kurz darauf engagierte Harlé Nico, Amanda Lear, Talitha Getty und die Sängerin Marianne Faithfull, womit sie zur wohl eigenwilligsten Agentur weltweit wurde. Anita zählte eindeutig zu den führenden Damen in der Kartei. Angesichts der umfangreichen Kundenliste ihrer Chefin gab es zahlreiche Möglichkeiten, Kontakte zu den höheren Schichten der Pariser Gesellschaft zu knüpfen.
„Anita und ich waren eng befreundet, zumal wir uns auch äußerlich ähnelten“, berichtet ihre Kollegin, Popsängerin und Model Amanda Lear. „Damals sah ich sie häufig. Wir gingen jeden Abend aus. Da waren Zouzou, Anita und ich und noch einige andere Mädels. Natürlich kifften wir – das war eine wirklich wilde Zeit – und hatten eine Menge Spaß zusammen. Damals – und das traf besonders auf London zu – waren die meisten Mädchen so wischiwaschi, einfach uneindeutig, und wir stellten das exakte Gegenteil dar. Heute verlieben sich die Mädels in Fußballspieler, damals verliebten wir uns in Musiker. Wir repräsentierten ein befreites Frauenbild, verdienten unser eigenes Geld, waren total frei, weigerten uns, von Männern finanziell abhängig zu sein – wir standen für eine neue Generation von Frauen.“
Harlés mütterliches und enges Verhältnis zu den Models überschritt die reine Arbeitsbeziehung, in der sie die jungen Frauen an Fotografen vermittelte. Sie nahm einige von ihnen unter ihre Fittiche, und da die zahlreichen Zimmer in der Passage Choiseul auch Übernachtungsmöglichkeiten boten, erlaubte sie den Models, da zu schlafen. Ohne einen festen Wohnsitz nahm Anita bei Harlé ein Zimmer und richtete sich auf unbestimmte Zeit dort ein.
Wie die anderen Models tummelte auch sie sich im Pariser Nachtleben und war häufig auf der Tanzfläche von Clubs wie dem Maxim’s, Chez Regine und Chez Castel zu sehen. Den letztgenannten Club besuchte sie so häufig, dass man ihr dort kostenlosen Zugang gewährte.
Genau wie schon in Rom zu Beginn der Sechziger wurde sie nun in Paris von der dortigen Clique der Filmemacher angezogen. Während dieser Zeit traf man die Protagonisten der Nouvelle Vague überall in der Stadt an und Anita erinnerte sich später an gemeinsame Abende mit Luis Buñuel und François Truffaut.
Anita und ihre Kolleginnen schmiedeten bei der Agentur von Catherine Harlé einen engen Bund. Ihre enorme Präsenz in Paris reichte an die der Männer heran oder übertraf sie sogar. Die Popularität von Harlés Agentur war so groß, dass sie von dem Sänger Jacques Dutronc in einem Song verewigt wurde. Der Text zu dem die Charts stürmenden Stück „Les Play Boys“ enthielt eine Zeile, in der die „Models von Catherine Harlé“ erwähnt wurden, inmitten einer Liste glamouröser männlicher Akteure.
„Aus Catherine Harlés entwickelte sich eine wahre Rock’n’Roll-Agentur“, schreibt Farbrice Gaignault, Autor von Les Égéries Sixties. „In Paris gab es eine Menge starker Frauen, beinahe Outlaws. Die verhielten sich wie Männer und waren für die damalige Kultur sehr wichtig. Sie verängstigten den Pariser Mann ein bisschen, denn Pariser Männer entstammten oft der Bourgeoisie und diese Frauen entsprachen nicht dem gewohnten Bild. Sie waren frei, brachten Kultur und Stil mit sich und den Lebenswandel von Künstlern. Anita war wunderschön, doch auch eine sehr gefährliche Gesellschaft. Hielt man sich in ihrer Nähe auf, wusste man nie, was passieren würde. Sie war so schön und liebte es, mit den Männern abzuhängen, sie stand einfach auf männliche Gesellschaft. Alle Männer waren verrückt nach ihr, doch hatten Angst vor dem, was sie anrichten konnte.“
Die Auftraggeber wollten zwar oftmals ein durch Airbrush verändertes Bild auf der gedruckten Seite haben, aber ansonsten war die Technik, die eingesetzt wurde, um den richtigen Look zu gewährleisten, eher banal. „Als ich als Model arbeitete“, erinnerte Anita