Radieschen von unten. Marie Kastner
auf der Insel. Aber woher stammst du ursprünglich? Skandinavien?«
»Das glauben viele. Ich bin aber auf Teneriffa geboren, ergo ein waschechter Spanier. Meine Eltern sind in den Achtzigerjahren von Kiel auf die Kanaren ausgewandert und haben ein altes Haus hergerichtet. Dort durfte ich behütet, aber doch frei aufwachsen.
Vor einer Weile habe ich mir mein eigenes Apartment gekauft. Die Immobilienkrise machte es möglich. Bis vor kurzem waren die Objekte auf der Insel traumhaft günstig zu haben.«
»Ah so, deswegen hast du auf dem Surfbrett einiges drauf. Du bist damit großgeworden. Ähnlich wie deutsche Kinder, die allerdings bei der Wohnortwahl ihrer Eltern nicht dasselbe Glück hatten, mit dem Skateboard«, lachte Marit.
»Genaugenommen habe ich mit dem Surfen erst vor ein paar Jahren angefangen, bin wohl ein Naturtalent. Mangels zahlungskräftiger Kundschaft gibt es auf dieser wunderbaren Insel nämlich noch keine einzige Surfschule. Eigentlich ist sowas kaum zu glauben, oder? Ich gedenke das aber demnächst zu ändern, werde Klasse statt Masse anbieten. Verstehst du das Konzept? Wenige, jedoch wohlhabende Kunden, die eine exklusive Rundumbetreuung genießen sollen«, plauderte der Weißkopfspanier.
Der Rest dieses relaxten Strandnachmittags gestaltete sich wunderschön. Björn und seine Jungs entpuppten sich als intelligente, lebensfrohe Zeitgenossen, integrierten die fremde Urlauberin in ihre Gespräche, so als würde sie dazugehören. Einer von ihnen klimperte gekonnt Guantanamera auf seiner Gitarre, während die herabsinkende Sonne orangegoldene Lichtreflexe auf die Wellenkämme zauberte. Die Zeit war wie im Flug vergangen.
»Wenn wir Puntallana noch halbwegs bei Tageslicht erreichen wollen, müssten wir jetzt allmählich aufbrechen. Die Sonne geht hier, ganz in der Nähe des Äquators, erheblich schneller unter als in Deutschland. Ich begleite dich gerne noch bis zu deinem Auto – oder wohin immer du möchtest«, erbot sich Björn kavalierhaft.
Marit hatte längst registriert, dass er sich für sie interessierte und versuchte, den Abschied hinauszuzögern. Das schmeichelte ihr, und auch sie wollte seine Gesellschaft noch ein wenig länger genießen. So gönnten sie sich im Dorf noch einen Mojito, bevor Björn sie zum Abschied einfach fest in die Arme schloss.
»Ich würde dich gerne wiedersehen«, gestand er unumwunden.
»Dito. Wie wäre es gleich morgen?«, hörte sie sich sagen.
»Wow, mit dir kann man echt was anfangen. Du bist herrlich unkompliziert und direkt. Sowas schätze ich sehr. Solche Frauen sind rar, und das nicht nur hier auf der kleinen Insel. Dabei ist das Leben so kurz, jeder Tag könnte der letzte sein. Man muss jeden einzelnen genießen, so gut es geht.
Falls du auch mal aufs Brett steigen willst, empfiehlt sich der Strand Playa Nueva bei Porto Naos. Der ist besser für Anfänger geeignet, weil die Wellen an diesem Spot nicht gar so hoch werden. Die ersten Stunden entscheiden schließlich darüber, ob du diesem Sport jemals etwas abgewinnen kannst. Schluckst du nur Wasser, hat der Spaß schnell ein Loch.
Wenn du möchtest, hole ich dich morgen früh bei deiner Pension ab und wir fahren zusammen dahin. Man ist von Santa Cruz aus zwar gut eine Stunde unterwegs, aber du würdest auch viel von der wunderbaren Landschaft zu sehen bekommen.
Ich würde mich auf alle Fälle tierisch freuen, dir deine ersten Surfstunden geben zu dürfen. Völlig kostenlos, das versteht sich natürlich von selbst.«
Sie zögerte keine zwei Sekunden. Dann gab sie ihm bereitwillig die Adresse ihrer Ferienpension am Rande von Santa Cruz und umarmte ihn ein weiteres Mal.
Erst nach dem Zubettgehen kam ihr Bernd in den Sinn, aber ohne, dass der Gedanke an ihn großartig Emotionen weckte. Es fiel ihr schwer, dieses Phänomen einzuordnen, auch weil sie so lange um sein Herz gekämpft hatte.
Es war schon kurios. Zurzeit bestand erstmals die Chance, mit ihrem Chef die ersehnte Liebesbeziehung zu beginnen. Er hatte bis zu ihrer Rückkehr ins Revier zwei Wochen Zeit, seine Angelegenheiten einigermaßen zu ordnen, den Weg für die neue Liebe freizumachen. So hatten sie es nach ihrer allerersten gemeinsamen Nacht, unmittelbar vor ihrem Abflug, vereinbart.
Dennoch … ihr Fast-Freund aus Elend schien gerade mindestens so weit entfernt zu sein wie der Mond. Sein in ihrem Gehirn abgespeichertes Bild wurde bereits nach einem Nachmittag von Björns strahlendem Lächeln überlagert. Das gab ihr zu denken. Wie mochte das erst morgen aussehen, wenn sie einen kompletten Tag mit ihm verbrachte?
Um das zu erahnen, brauchte es wenig Fantasie. Sie ertappte sich dabei, wie sie sich ihre ersten Surfversuche in den schönsten Farben ausmalte. Wie er sie an den Hüften hielt und sie die deutlich hervortretenden Adern auf seinen Muskeln betrachtete.
Habe ich ein schlechtes Gewissen? Seltsamerweise nein. Erstens ist heute absolut nichts passiert, wofür ich mich schämen müsste. Zweitens ist Bernd ja selber schuld, dass er nicht mitgeflogen ist. Drittens habe ich es bitter nötig, ein bisschen Abstand von Wernigerode und meinem aufreibenden Job zu bekommen. Was wäre dazu besser geeignet als ein so harmloser wie wohltuender Urlaubsflirt? So attraktiv dieser Kerl ist, es wird nichts geschehen, was ich nicht selber haben will.
Marit lag noch lange wach, ließ den supertollen Nachmittag Revue passieren. Für sie fing der Urlaub jetzt erst so richtig an. Sie schlief wegen der ungewohnt hohen Nachttemperaturen bei weit geöffnetem Fenster. Plötzlich nahm sie La Palma mit allen Sinnen wahr. Sie schmeckte einen Hauch von Meersalz auf ihren Lippen, spürte den lauen Wind auf der nackten Haut, der die zarten Gardinen bauschte.
Ein seltsames Wohlgefühl überrollte sie wie eine Welle.
Marit Schmidbauer aus Wernigerode fühlte sich so lebendig wie selten zuvor.
*
Drei Tage später …
Die hoffnungslos verliebte Kriminalbeamtin war todsicher, auf La Palma die schönsten Tage ihres bisherigen Lebens genossen zu haben. Sehr intensive, unbeschwerte Tage.
Björn König hatte sich als belesener, weltoffener Zeitgenosse entpuppt, der zwar um seinen hohen Attraktivitätsfaktor wusste, diesen aber keineswegs in oberflächlicher Weise einsetzte.
Vielmehr hatte er seiner neuen Freundin Marit das angenehme Gefühl vermittelt, die einzige Frau auf Erden zu sein, für welche er überhaupt Augen hatte.
Letzteres beruhte allerdings auf Gegenseitigkeit.
Gleich würde er sie wieder abholen, zum letzten Mal. Ihr Koffer stand gepackt neben dem Bett. Sie gedachte ihren Aufenthalt in der Ferienpension vorzeitig zu beenden, und das obwohl sie per Vorkasse bezahlt hatte und mit keiner Rückerstattung rechnen durfte. Es war ihr egal, so wie alles andere, sofern es nichts mit dem Surfer, mit ihrer neuen Liebe zu tun hatte. Björn würde sie und ihre Siebensachen noch heute zu seiner kleinen Wohnung in Barlovento befördern. Aus ihrem einsamen Erholungstrip war unversehens ein Liebesurlaub geworden.
Die Schmetterlingsschar in ihrem Bauch lief Gefahr, sich beim wilden Flattern total zu verausgaben. Kein Wunder, diese armen Dinger waren viel zu lange in einem undurchdringlichen Kokon weggesperrt gewesen. Abgesehen von der ersten zarten Liebe als Teenie, die eine Ewigkeit zurücklag, hatten sie ihre Gefühle niemals mehr derart gnadenlos überrollt.
Normalerweise hatte Marit bei ihrer Partnersuche immer nach ›Matches‹ bei Gewohnheiten und Vorlieben gesucht, ähnlich wie es komplizierte Algorithmen in den Systemen der Partnerschafts-portale machten. Die berechneten nur die Wahrscheinlichkeit, ob eine Beziehung funktionieren könnte – oder nicht. Auch sie hatte, sachlich wie ein Computer, ihren scharfen Verstand und nicht das Herz entscheiden lassen. Oder höchstens in zweiter Linie.
Diesmal war alles völlig anders gekommen. Nach Liebe konnte man offenbar in Wahrheit gar nicht gezielt suchen. Das Verlieben passierte einfach, beinahe wie ein Unfall, und dies völlig unabhängig davon, ob die Umstände gerade passten. Amor kannte da gar nichts, der schoss seine Pfeile ungefragt aus dem Hinterhalt ab. Oft war der Zeitpunkt alles andere als ideal.
Sie drehte sich eitel vor dem bodenlangen Spiegel, der auf der Innenseite der Zimmertür