H. P. Lovecraft − Leben und Werk 2. S. T. Joshi
Korrespondenz Lovecraft vorgeschlagen hat, ohne Sonia nach Providence zurückzukehren, woraufhin Lovecraft ausführt, dass eine »dauerhafte Trennung« von Sonia, angesichts ihrer geduldigen und verständnisvollen Haltung ihm gegenüber, moralisch nicht vertretbar wäre. Wenn diese Interpretation richtig ist, dann ist sie ein weiteres Indiz dafür, dass Lillian von Anfang an gegen Lovecrafts Ehe war.
Nach Dezember wurde eine mögliche Rückkehr nach Providence nicht mehr angesprochen, vielleicht, weil alle Beteiligten zunächst abwarten wollten, ob sich die Möglichkeit einer Anstellung in Mortons Museum in Paterson konkretisierte. Drei weitere Monate verstrichen, in denen sich für Lovecraft, abgesehen von seiner vorübergehenden Aushilfstätigkeit beim Adressieren von Briefen, keine Aussicht auf Arbeit ergab, bis er schließlich, am 27. März 1926, die Einladung erhielt, nach Providence zurückzukehren.
Was oder wer genau stand hinter dieser Einladung? Ging sie allein auf Lillians Entscheidung zurück? Hatte Annie ebenfalls mitzureden? Waren andere daran beteiligt? Winfield Townley Scott, der Frank Long dazu befragte, berichtet:
Mr. Long sagt: »Howard ging es immer schlechter, und ich begann zu befürchten, dass er irgendwann die Wände hochgehen würde … Also schrieb ich einen langen Brief an Mrs. Gamwell, in dem ich darauf drang, dass Maßnahmen ergriffen würden, um ihm die Rückkehr nach Providence zu ermöglichen … Er war so tiefunglücklich in New York, dass ich unaussprechlich erleichtert war, als er zwei Wochen später einen Zug nach Providence bestieg.«12
Fünfzehn Jahre später erzählte Long Arthur Koki dieselbe Geschichte.13 In seinen 1975 erschienenen Erinnerungen an Lovecraft stellt er die Angelegenheit jedoch etwas anders dar:
Meiner Mutter wurde schnell klar, dass seine Gesundheit tatsächlich in Gefahr war, wenn ein weiterer Monat ohne Aussicht auf Rettung verging. Also schrieb sie einen langen Brief an seine Tanten, in dem sie die Lage in allen Einzelheiten schilderte. Ich zweifle, ob Sonia je von diesem Brief erfahren hat. Zumindest hat sie ihn nie erwähnt, wenn sie über diese Zeit sprach. Zwei Tage später traf in der Pension in Brooklyn ein Brief von Mrs. Clark ein, dem eine Zugfahrkarte und ein kleiner Scheck beigefügt waren.14
Wer also schrieb den entscheidenden Brief, Long oder seine Mutter? Letzteres ist durchaus möglich: Während ihres etwa einmonatigen Besuchs in New York im Dezember 1924 und Januar 1925 hatte Lillian gemeinsam mit ihrem Neffen häufig die Longs besucht, und anscheinend freundeten sich auch die beiden älteren Damen an. Vielleicht sind jedoch Longs frühere Aussagen, dass er selbst den Brief schrieb, verlässlicher. Nicht zuletzt besteht die Möglichkeit, dass er und seine Mutter ihn gemeinsam verfassten.
In einer Hinsicht sind Longs spätere Erinnerungen jedoch ungenau: Lillians Brief an Lovecraft vom 27. März kann keine Eisenbahnfahrkarte enthalten haben, denn die endgültige Entscheidung, nach Providence zurückzukehren, fiel erst eine Woche später. Nach ihrer ersten Einladung hatte Lillian Lovecraft offenbar vorgeschlagen, sich in Boston oder Cambridge niederzulassen, da sie es für wahrscheinlicher hielt, dass er dort eine seinen Fähigkeiten gemäße Stellung fand. Lovecraft gestand widerwillig, dass dieser Gedanke manches für sich hatte: »Da Providence ein Handelshafen ist, während es sich bei Cambridge um ein kulturelles Zentrum handelt, würde man tatsächlich erwarten, dass letztere Stadt jemandem mit literarischen Neigungen mehr Möglichkeiten bietet.« Doch widerspricht er letztlich der Einschätzung seiner Tante: »Ich bin im Grunde meines Wesens ein Einsiedler, der wenig mit Leuten zu tun haben wird, wo auch immer er sich befindet.« Es folgt ein eindringliches und zugleich melancholisches Plädoyer für Providence:
In jeder Hinsicht bin ich von Natur aus stärker von der Menschheit isoliert als selbst Nathaniel Hawthorne, der allein inmitten der Menge lebte & von dem Salem erst erfuhr, nachdem er gestorben war. Daher können wir grundsätzlich davon ausgehen, dass die Menschen, die einen Ort bevölkern, für mich absolut keine Rolle spielen, außer als Elemente der Landschaft & Szenerie … Mein Leben spielt sich nicht unter Menschen, sondern an Orten ab. Meine Bindungen an einen Ort sind nicht persönlicher, sondern topographischer & architektonischer Natur … Ich bin immer ein Außenseiter – überall & gegenüber jedermann, aber gerade Außenseiter haben ausgeprägte visuelle Vorlieben, was ihre Umgebung betrifft. Unverhandelbar ist für mich allein, dass es Neuengland sein muss – in der einen oder anderen Form. Providence ist ein Teil von mir – Ich bin Providence … Providence ist meine Heimat & wenn ich mein Leben auch nur mit einem Anschein von Frieden, Würde und Schicklichkeit beenden kann, dann dort … Providence wäre immer in meinem Hinterkopf als Ziel, auf das es hinzuarbeiten gilt – ein Paradies, das endlich wiedergewonnen werden muss.15
Ob es dieser Brief war, der den Ausschlag gab, oder nicht, kurz darauf entschied Lillian, dass ihr Neffe nach Providence zurückkehren sollte und nicht nach Boston oder Cambridge. Als seine Tante das Angebot Ende März zum ersten Mal machte, war Lovecraft davon ausgegangen, dass er vielleicht ein Zimmer in der Pension in der Waterman Street 115 beziehen könnte, in der Lillian wohnte. Doch nun schrieb seine Tante, dass sie eine Wohnung für sich und ihren Neffen in der Barnes Street 10 nördlich vom Campus der Brown University gefunden hatte, und fragte Lovecraft, ob sie diese mieten solle. Lovecraft antwortete mit beinahe hysterischer Begeisterung:
Juhu! Peng!! Hurra!!! Um Gottes willen, schnapp dir die Wohnung, ohne eine Sekunde zu zögern!! Ich kann es nicht glauben – das ist zu schön, um wahr zu sein! … Jemand muss mich aufwecken, bevor der Traum so überzeugend wird, dass ich es nicht mehr ertrage aufzuwachen!!!
Ob du die Wohnung nehmen sollst? Was für eine Frage!! Ich kann zwar keine zusammenhängenden Sätze zu Papier bringen, aber ich werde mich gleich ans Packen machen. Barnes Street bei der Brown University! Endlich wieder tief durchatmen nach dem höllischen Dreck hier!!16
Ich habe Briefe wie diesen – in denen sich derartige Ausbrüche oft über Seiten hinweg aneinanderreihen – so ausführlich zitiert, um deutlich zu machen, wie nahe am Rande der Verzweiflung Lovecraft zu dieser Zeit gewesen sein muss. Zwei Jahre lang hatte er sich bemüht, die Dinge in einem positiven Licht zu sehen, und versucht, seine Tante Lillian und vielleicht auch sich selbst davon zu überzeugen, dass seine Übersiedlung nach New York kein Fehler gewesen war. Doch als sich die Möglichkeit bot, nach Hause zurückzukehren, ergriff er sie mit einer Entschiedenheit, die seine Verzweiflung verrät.
Die große Frage war natürlich, wie und ob Sonia in Lovecrafts Rückkehrpläne passte. In seinem Brief vom 1. April bemerkt er beiläufig, »S. H. unterstützt den Entschluss vorbehaltlos – erhielt gestern einen wunderbar großherzigen Brief von ihr«. Fünf Tage später schreibt er: »Ich hoffe, sie betrachtet den Umzug nicht in einem zu schwermütigen Licht oder als etwas, das vom Standpunkt der Loyalität und des guten Geschmacks her kritikwürdig ist.«17 Etwa eine Woche später berichtet Lovecraft seiner Tante, dass »S. H. den kurzfristigen Bostoner Plan aufgegeben hat, mich aber höchstwahrscheinlich nach Providence begleiten wird«.18 Damit ist allerdings nur gemeint, dass Sonia vorhatte, nach Brooklyn zu kommen, um Lovecraft beim Packen zu helfen, und ihn dann nach Providence begleiten wollte, um ihn dabei zu unterstützen, sich dort häuslich einzurichten. Zu diesem Zeitpunkt ging es sicherlich nicht darum, dass sie in Providence leben oder arbeiten sollte.
Und doch stand diese Möglichkeit natürlich im Raum – zumindest für sie, vielleicht auch für ihn. Sonia führt in ihren Erinnerungen jene Zeile aus »He« an, die auch Cook zitiert hatte: »Mir schien es unmöglich, zu meinen Leuten nach Hause zurückzukehren, denn wäre ich nicht unwürdig, wie ein Besiegter heimwärts gekrochen.« Allerdings fügt sie spitz hinzu: »Dies ist jedoch nur die halbe Wahrheit. Mehr als alles andere wollte er nach Providence zurückkehren, aber er wollte auch, dass ich ihn begleite. Das konnte ich jedoch nicht, da es dort keine beruflichen Möglichkeiten für mich gab, das heißt, keine solchen, die meinen Fähigkeiten und Bedürfnissen entsprachen.«19 Der vielleicht dramatischste Abschnitt ihrer gesamten Erinnerungen bezieht sich auf diese kritische Periode:
Als er Brooklyn nicht mehr ertragen konnte, war ich selbst es, die ihm vorschlug, nach Providence zurückzukehren. Darauf erwiderte er: »Wenn wir doch nur beide nach Providence gehen könnten, in die gesegnete Stadt, in der ich geboren und aufgewachsen bin. Ich bin mir sicher, dort könnte ich glücklich sein.« Ich stimmte zu: »Nichts