H. P. Lovecraft − Leben und Werk 2. S. T. Joshi

H. P. Lovecraft − Leben und Werk 2 - S. T. Joshi


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zurückbrachte«. Sonia hält dem entgegen, dass sie »extra in die Stadt zurückkam, um ihm dabei zu helfen, seine Sachen zu packen, und dafür zu sorgen, dass alles in Ordnung war, bevor ich wieder abreiste. Und ich war es, die für den Umzug – einschließlich seiner Zugfahrkarte – bezahlte.«37 Sonia kam am Sonntag, dem 11. April, morgens in New York an. Am Sonntagabend kehrten Lovecraft und sie noch einmal nach Flatbush, in ihre alte Gegend, zurück, aßen Eis, sahen einen Film in Kino an und kamen spät nach Hause zurück. Den nächsten Tag verbrachten sie auf ähnliche Art: Sie sahen sich eine Verfilmung von Cyrano de Bergerac an und aßen im Elysée in der 56. Straße zu Abend. Lovecraft bemerkt, dass Sonia damit versuchen wollte, »mir in gewissem Maße meine extreme Abneigung gegen New York zu nehmen & mir zum Abschied einige günstigere Eindrücke einzuprägen«.38 Obwohl dies offenbar nicht gelang, sprang für Lovecraft zumindest noch ein üppiges Abendessen heraus, das aus Obstsalat, Suppe, Lammkoteletts, Pommes Frites, Erbsen, Kaffee und Kirschkuchen bestand.

      Am Dienstag, dem 13. April, waren Lovecrafts Sachen vollständig verpackt, sodass ihm noch Zeit blieb, einem letzten Treffen des Kalem Club bei Frank Long beizuwohnen, zu dem sich auch Morton, Loveman, Kirk, Kleiner, Orton und Leeds einfanden. Longs Mutter hatte ein Abendessen vorbereitet, und wie immer verging der Abend unter geistvollen Gesprächen. Um halb zwölf trennten sich die Freunde, und Lovecraft und Kirk entschlossen sich, zu einer letzten gemeinsamen nächtlichen Wanderung durch New York aufzubrechen. Sie gingen von der Wohnung der Longs an der Ecke West End Avenue und 100. Straße bis zur Battery an der Südspitze Manhattans. Lovecraft kam erst um sechs Uhr morgens nach Hause, stand jedoch bereits um zehn wieder auf, um die Arbeiter der Umzugsfirma in Empfang zu nehmen.

      Lovecrafts Brief an seine Tante Lillian vom 15. April ist der letzte Brief vor dem eigentlichen Umzug, den wir kennen, sodass wir nicht wissen, wie genau er die letzten zwei Tage verbrachte. Am Samstag, dem 17. April, nahm er morgens einen Zug – wahrscheinlich von der Grand Central Station – und kam am frühen Nachmittag in Providence an. Er schildert den letzten Abschnitt dieser Reise in einem berühmten Brief an Frank Long:

      Nun – der Zug raste weiter, und ich wurde von stillen Glückskrämpfen erschüttert, während ich nach und nach in ein waches und dreidimensionales Leben zurückkehrte. New Haven – New London – und dann das malerische Mystic mit seinen am Hang gelegenen Häusern aus der Kolonialzeit und der landumschlossenen Bucht. Dann endlich erfüllte eine noch subtilere Magie die Luft – edlere Dächer und Kirchtürme, die der Zug auf seinem Viadukt in luftigen Höhen passierte – Westerly – und ich war wieder in der königlichen Provinz RHODE-ISLAND & PROVIDENCE PLANTATIONS! GOTT SCHÜTZE DEN KÖNIG! Was folgte, war ein Rausch – Kingston – East Geenwich mit seinen steilen georgianischen Gassen, die von der Bahnlinie aus den Hang hinauf klettern – Apponaug und seine alten Dächer – Auburn, kurz vor der Stadtgrenze – ich hantiere in einem verzweifelten Versuch, ruhig zu erscheinen, mit Koffern und Taschen – DANN – eine aus einer Fieberphantasie entsprungene Marmorkuppel vor dem Zugfenster – die Luftdruckbremsen zischen – der Zug wird langsamer – ekstatisches Schaudern, und die Wolken, die meine Augen und meinen Geist umfangen hatten, lichten sich – ZU HAUSE – UNION STATION – PROVIDENCE!!!! 39

      Der gedruckte Text vermittelt nur einen unvollkommenen Eindruck: Im Original wird Lovecrafts Handschrift gegen Ende immer größer, bis die Lettern des letzten Wortes eine Größe von zweieinhalb Zentimetern erreicht haben. Es ist zudem vierfach unterstrichen und mit vier Ausrufungszeichen versehen. Maurice Lévy bemerkt zu recht: »Der Bericht von dieser mythischen Heimkehr hat etwas Bewegendes, etwas, das eine wesentliche, ursprüngliche Erfahrung zum Ausdruck bringt.«40

      Der gesamte Brief an Long, den Lovecraft zwei Wochen nach seiner Rückkehr schrieb, gewährt erstaunliche Einblicke. Im Grunde gab Lovecraft vor, dass es seine beiden New Yorker Jahre schlicht nicht gegeben hatte: dass sie ein »Traum« gewesen waren, aus dem er nun erwacht sei. Natürlich war das metaphorisch gemeint, aber in der Metapher schwingt ein aufrichtiges Empfinden mit: » … 1923 – 1924 – 1925 – 1926 – 1925 – 1924 – 1923 – Rumms! Zwei Jahre zum Schlechteren, aber wer zur Hölle schert sich darum? 1923 endet – 1926 fängt an! … Was haben ein oder zwei blinde Flecken in einem Lebenslauf schon zu bedeuten?« Vielleicht sollte man Lovecraft diesen Moment der Wunscherfüllung gönnen. Bald schon begriff er, dass er mit seinen beiden New Yorker Jahren irgendwie zurechtkommen und sein Leben entsprechend neu ausrichten musste. Sosehr er sich vielleicht auch nach der sorglosen Existenz vor seiner Hochzeit zurücksehnte, so wusste er doch, dass sie letztlich nur eine Phantasie war. Die folgenden elf Jahre bestätigen meiner Ansicht nach W. Paul Cooks berühmte Bemerkung: »Er kam als Mensch nach Providence zurück – und als was für ein Mensch! Er war im Feuer geläutert worden, und was herauskam, war pures Gold.«41

      Hat Sonia Lovecraft zurück nach Providence begleitet? Sein Brief an Long ist in dieser Hinsicht merkwürdig unklar: Auf den gesamten zehn Seiten erwähnt er Sonia kein einziges Mal namentlich, und die ersten Abschnitte sind ausschließlich in der ersten Person Singular gehalten. Aber vielleicht war Long so gut mit der Situation vertraut, dass Lovecraft es nicht für nötig hielt, genauere Angaben zu machen. Am wahrscheinlichsten scheint es, dass Sonia Lovecraft nicht auf seiner Heimreise begleitete, sondern ihn ein paar Tage später besuchte, um ihm zu helfen, sich einzurichten. Lovecraft bestätigt diese Vermutung indirekt, indem er gegen Ende seines Briefes an Long in die erste Person Plural wechselt.42 Nachdem sie einige Tage damit verbracht hatten, Lovecrafts Habseligkeiten auszupacken, fuhren Lovecraft und Sonia am Donnerstag, dem 22. April, nach Boston, und am folgenden Tag erkundeten sie den Neutaconkanut Hill an der westlichen Stadtgrenze von Providence, den Lovecraft bereits im Oktober 1923 besucht hatte. Es ist unklar, wann Sonia nach New York zurückkehrte, aber sie blieb wahrscheinlich nicht viel länger als eine Woche.

      Cook gibt eine pointierte Schilderung von Lovecrafts Zustand unmittelbar nach seiner Ankunft in Providence:

      Ich sah ihn in Providence nach seiner Rückkehr aus New York, noch bevor er all seine Sachen ausgepackt und sein Zimmer eingerichtet hatte. Er war fraglos der glücklichste Mensch, den ich je gesehen habe. Er hätte für ein »davor … danach«-Bild in einer Medikamentenwerbung posieren können. Er hatte seine Medizin genommen, und es war offensichtlich, dass sie ihm gut bekommen war. Mit geradezu zärtlichen Gesten stellte er jedes Ding an seinen Platz, und seine Augen leuchteten, wenn er zum Fenster hinaussah, wie die eines Verliebten. Er war so glücklich, dass er vor sich hin summte – wenn er die notwendigen Organe besessen hätte, dann hätte er geschnurrt.43

      In Lovecrafts Brief an Long ist eine detaillierte Skizze des geräumigen Ein-Zimmer-Apartments mit Kochnische enthalten, das er bezog (siehe Seite 95).

      Weitere Skizzen zeigen den Wandschmuck an der Ostwand, wo sich auch die Eingangstür befand, darunter das Bild einer Rose, das seine Mutter gemalt hatte, und weitere Gemälde, die einen Hirsch und ein Bauernhaus zeigten und vielleicht von Lillian stammten. Die Südwand war vollständig von Bücherregalen eingenommen, und an der Westwand befand sich ein Kamin. Das Haus selbst war erst 1880 erbaut worden; es handelte sich also keineswegs um ein Kolonialzeithaus, aber es war ein angenehmes und geräumiges Gebäude. Wie die Angell Street 598 war es ein Doppelhaus, dessen Westhälfte die Adresse Barnes Street 10 hatte, während die Osthälfte die Hausnummer 12 trug. Lovecraft berichtete:

Illustration

      Das Haus ist makellos sauber & die Mieter sind ausschließlich ausgewählte Personen aus den guten, alten Familien. Die Gegend ist perfekt – alles alte Yankee-Häuser, von denen ein Gutteil aus der Kolonialzeit stammt … Der Ausblick aus dem Pseudo-Erker, wo mein Schreibtisch steht, ist bezaubernd – Ausschnitte alter Häuser, prächtige Bäume, urnenbekrönte, weiße georgianische Zäune & ein hinreißend altmodischer Garten, der einem in wenigen Monaten den Atem verschlagen wird.44

      Wir wissen nicht viel darüber, wie Lovecraft die ersten Monate in Providence verbrachte. Im April, Mai und Juni berichtete er, dass er sich verschiedene Gegenden der Stadt ansah, in denen er noch nie zuvor gewesen war. Zumindest einen dieser Ausflüge unternahm er in Begleitung von Annie Gamwell, die damals im Truman Beckwith House an der Ecke College und Benefit Street


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