H. P. Lovecraft − Leben und Werk 2. S. T. Joshi
bevorzugten Aufenthaltsorten zählen würde.
In den Erzählungen, die er im Jahr nach seiner Rückkehr verfasste, spielt Providence oft eine mehr oder weniger zentrale Rolle. Dieser Zeitabschnitt – vom Sommer 1926 bis zum Frühjahr 1927 – stellt die wohl produktivste Phase in Lovecrafts gesamter schriftstellerischer Laufbahn dar. Nur einen Monat nach seinem Abschied von New York schrieb er an Morton: »Es ist erstaunlich, wie viel besser mein guter alter Kopf arbeitet, seit er wieder in jene heimischen Gegenden versetzt worden ist, wo er hingehört. Je länger mein Exil andauerte, desto schwerer fielen mir selbst Lesen und Schreiben …«45 Das hatte sich nun grundlegend geändert: Zwei Kurzromane, zwei umfangreichere Erzählungen und drei Kurzgeschichten entstanden in diesem Zeitraum, zusammen mit einer Handvoll Gedichte und Essays. Und alle erzählenden Texte spielen – zumindest teilweise – in Neuengland.
Als Erstes brachte Lovecraft die Erzählung »The Call of Cthulhu« zu Papier, die er wahrscheinlich im August oder September 1926 verfasst hat. Die Handlung dieser Geschichte hatte Lovecraft bereits ein volles Jahr zuvor entworfen, wie aus seinem Tagebucheintrag für den 12./13. August 1925 hervorgeht: »Handlung für eine Geschichte – ›The Call of Cthulhu‹, ausgearbeitet.«
Der Untertitel der Erzählung, »Die folgenden Aufzeichnungen wurden im Nachlass von Francis Wayland Thurston aus Boston gefunden«, weist sie als Bericht Thurstons – der ansonsten nicht namentlich genannt wird – über Ereignisse aus, von denen er einerseits aus dem Nachlass seines verstorbenen Großonkels George Gammell Angell und andererseits durch persönliche Nachforschungen Kenntnis erlangt hat. Angell, Professor für semitische Sprachen an der Brown University, hat bei seinem Tod einige äußerst merkwürdige Schriftstücke hinterlassen. So hat er umfangreiche Aufzeichnungen zu den Träumen und dem Werk eines jungen Bildhauers namens Henry Anthony Wilcox gemacht, der ihm ein Basrelief gezeigt hatte, das er in der Nacht des 1. März 1925 im Schlaf angefertigt hatte. Es handelt sich um eine unbekannte Wesenheit von grässlichem Aussehen, und Wilcox berichtet, dass er in dem Traum, der ihn zu der Skulptur inspirierte, mehrfach die Worte »Cthulhu fhtagn« vernommen habe. Dies weckt Gammells Interesse, da er diese Laute Jahre zuvor bei einem Treffen der American Archaeological Society gehört hat, bei dem ein Polizeiinspektor aus New Orleans den versammelten Gelehrten eine Skulptur, die große Ähnlichkeit mit der von Wilcox aufwies, vorgelegt hatte. Diese Skulptur, so der Inspektor, sei von einem bösartigen Kult in den Sümpfen von Louisiana verehrt worden, zu dessen rituellen Gesängen der Satz »Ph’nglui mglw’nafh Cthulhu R’lyeh wgah’nagl fhtagn« gehört habe. Eines der Mitglieder des Kultes hätte diese absonderlichen Laute als »In seinem Haus in R’lyeh wartet träumend der tote Cthulhu« übersetzt. Cthulhu sei ein riesenhaftes Wesen, das zusammen mit anderen Wesenheiten, die als die Großen Alten bezeichnet würden, von den Sternen gekommen sei, als die Erde noch jung war. Cthulhu läge in der versunkenen Stadt R’lyeh begraben und würde wiederauferstehen, »wenn die Sterne richtig stünden«, um erneut die Herrschaft über die Erde zu übernehmen. All dies würde nicht zuletzt im Necronomicon des verrückten Arabers Abdul Alhazred erwähnt.
Thurston weiß nicht, was er mit diesen bizarren Informationen anfangen soll, doch dann findet er zufällig einen Zeitungsausschnitt, in dem vom merkwürdigen Ereignissen an Bord eines Schiffes im Pazifischen Ozean berichtet wird. Der Artikel ist mit der Abbildung eines Basreliefs illustriert, das den Reliefs von Wilcox und Legrasse sehr ähnlich ist. Thurston reist nach Oslo, um den norwegischen Seemann Gustaf Johansen, der an Bord des Schiffes war, zu befragen, erfährt jedoch, dass dieser verstorben ist. Johansen hat allerdings einen Bericht hinterlassen, aus dem hervorgeht, dass er, als die Stadt R’lyeh sich infolge eines Erdbebens vom Meeresgrund erhoben hat, tatsächlich dem entsetzlichen Cthulhu begegnet ist. Da die Sterne aber nicht »richtig stehen«, versank sie samt Cthulhu wieder. Doch die bloße Existenz dieser titanischen Wesenheit bleibt für Thurston eine Quelle tiefgreifenden Unbehagens, da sie zeigt, wie brüchig die angebliche Herrschaft des Menschen über die Erde ist.
Es ist schwierig, in einer dürren Inhaltsangabe einen Eindruck vom formalen und inhaltlichen Reichtum der Erzählung zu vermitteln: ihren Andeutungen einer kosmischen Bedrohung, ihrem geschickt aufgebauten, sich nach und nach entfaltenden Höhepunkt, der Komplexität ihrer Struktur, der Vielzahl von Erzählerstimmen und ihrer stilistischen Perfektion – vom nüchternen und klinischen Beginn bis zu der poetischen Prosa des Schlusses, in der das Grauen geradezu epische Ausmaße annimmt. »The Call of Cthulhu« ist Lovecrafts beste Erzählung seit »The Rats in the Walls«. In ihr findet Lovecraft zu jener Sicherheit und Reife, die viele der Arbeiten seines letzten Lebensjahrzehnts auszeichnen sollte.
Die Ursprünge der Geschichte liegen noch weit vor der detaillierten Handlungsskizze, die Lovecraft 1925 anfertigte. Der Kerngedanke von »The Call of Cthulhu« findet sich bereits im Eintrag 25 in Lovecrafts Commonplace Book, der wahrscheinlich aus dem Jahr 1920 stammt:
Mann besucht Antikenmuseum – bietet Basrelief an, das er gerade angefertigt hat – alter & gelehrter Kurator lacht & sagt, dass er etwas so Modernes nicht annehmen kann. Mann erwidert, dass »Träume älter sind als das grüblerische Ägypten oder die nachdenkliche Sphinx oder das von Gärten umgebene Babylon« & dass er das Relief im Traum angefertigt hat. Kurator fordert ihn auf, ihm sein Werk zu zeigen & als er es tut, fragt der Kurator entsetzt, wer der Mann sei. Er nennt ihm modernen Namen. »Nein – früher«, erwidert Kurator. Mann erinnert sich nur in seinen Träumen. Dann bietet Kurator ihm hohen Preis, aber Mann fürchtet, Kurator wolle Skulptur zerstören. Nennt völlig überhöhten Preis – Kurator will mit Direktoren beraten. Gute Handlungsentwicklung hinzufügen & Beschaffenheit des Basreliefs beschreiben.
Bei diesem Eintrag handelt es sich um die ziemlich getreue Wiedergabe eines Traums, den Lovecraft Anfang 1920 gehabt hatte und den er ausführlich in zwei Briefen aus dieser Zeit beschreibt.46 Ich habe ihn nicht zuletzt deshalb so ausführlich zitiert, um zu zeigen, wie selektiv Lovecraft mit seinen Inspirationen umgeht. Nur ein sehr kleiner Teil dieses Handlungskerns hat es letztlich in die fertige Erzählung geschafft: Im Grunde bleibt nicht mehr übrig als das Motiv, dass ein moderner Bildhauer unter dem Einfluss von Träumen ein merkwürdiges Basrelief herstellt. Und obwohl Lovecraft auch den Satz über die Träume aus dem Commonplace Book übernimmt, schickt er ihm einen distanzierenden Kommentar des Erzählers voraus, wenn dieser sagt: »Die Worte des Bildhauers waren von einer eigenartigen phantastischen Poesie, die für seine gesamte Ausdrucksweise […] typisch gewesen sein muss.«
Dass Wilcox das Basrelief im Traum anfertigt, ist eine Hommage an Guy de Maupassants »Le Horla«, der als der zentrale literarische Einfluss auf »The Call of Cthulhu« gelten kann. Zwar ist es unwahrscheinlich, dass Lovecraft Maupassants Erzählung schon kannte, als er 1920 jenen Traum hatte, den er in seinem Commonplace Book festhielt. Doch als er »The Call of Cthulhu« verfasste, war ihm »Le Horla« zweifellos gegenwärtig. Die Erzählung ist sowohl in Joseph Frenchs Masterpieces of Mystery (1920) als auch in Julian Hawthornes Lock and Key Library (1909) enthalten. Den letzteren Band erwarb Lovecraft 1922 bei einem seiner New-York-Besuche. In »Supernatural Horror in Literature« wertet er »Le Horla« als Maupassants unheimlich-phantastisches Meisterwerk: »Hier wird von der Ankunft eines unsichtbaren Wesens in Frankreich erzählt, welches sich von Wasser und Milch ernährt, die Gedanken anderer beeinflusst und die Vorhut einer Horde außerirdischer Organismen zu sein scheint, die auf die Erde kommen, um die Menschheit zu unterjochen und zu überrennen. In ihrem besonderen Bereich findet sich zu dieser atmosphärisch dichten Erzählung nichts Vergleichbares …«47 Natürlich ist Cthulhu nicht unsichtbar, doch der hier zusammengefasste Grundgedanke von Maupassants Erzählung findet sich recht genau in »The Call of Cthulhu« wieder. Manche der Überlegungen von Maupassants Erzähler lassen sich durchaus als »kosmisch« im Lovecraft’schen Sinne bezeichnen. Nachdem er ein Buch über »die Geschichte und Manifestationen aller unsichtbaren Wesen, die den Menschen umschweben oder von denen er träumt« gelesen hat, verfällt er in folgende Grübelei:
Es ist, als ob der Mensch, seitdem er denkt, ein neues Wesen geahnt und gefürchtet hat, das stärker ist als er selbst, das Wesen, das sein Nachfolger auf der Erde sein wird …
Wer bewohnt diese Welten? Welche Gestalten? Welche Wesen, welche Tiere, welche Pflanzen gedeihen dort? Wissen diejenigen, die dort in fernen Welten denken, mehr als