H. P. Lovecraft − Leben und Werk 2. S. T. Joshi

H. P. Lovecraft − Leben und Werk 2 - S. T. Joshi


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zu sein, dass die meisten Menschen – gleichgültig, ob es sich um sogenannte »Primitive« oder Zivilisierte handelt – sich mit einer atheistischen Sicht auf die menschliche Existenz nicht abfinden können, und entsprechend bevölkerte er seine Erzählungen mit Kulten, die auf ihre eigene pervertierte Art versuchten, jene Verbindung zu den Göttern wiederherzustellen. Was diese Kulte jedoch nicht begreifen, ist, dass das, was sie für »Götter« halten, bloß außerirdische Wesenheiten sind, die keine engere Beziehung zur Menschheit oder unserem Planeten haben und allein ihre eigenen unbekannten Ziele verfolgen.

      »The Call of Cthulhu« ist in mehr als einer Hinsicht ein Quantensprung für Lovecraft. Es ist seine erste Erzählung, die man im vollen Sinne als kosmisch bezeichnen kann. In »Dagon«, »Beyond the Wall of Sleep« und einigen anderen Texten hatten sich bereits einzelne Elemente von Lovecrafts Kosmizismus abgezeichnet, doch erst »The Call of Cthulhu« verleiht dieser Idee eine umfassende und künstlerisch befriedigende Gestalt. Die Vermutung, dass unterschiedliche Phänomene in den verschiedensten Weltregionen – Basreliefs, die in New Orleans, Grönland und im Südpazifik auftauchen oder von einem Künstler in Providence im Traum angefertigt werden, merkwürdig ähnliche Träume, die von unterschiedlichen Menschen gleichzeitig geträumt werden – alle mit der Cthulhu genenannten Wesenheit verknüpft sein könnten, lässt in Thurston die Erkenntnis heranreifen, dass nicht nur er, sondern die gesamte Menschheit in Gefahr ist. Und das bloße Wissen darum, dass Cthulhu noch immer am Grunde des Ozeans existiert, auch wenn er dort für Jahre, Jahrzehnte, Jahrhunderte oder Jahrtausende ruhen wird, veranlasst Thurston zu einem düsteren Ausblick: »Ich habe alles gesehen, was das Universum an Grauen aufzubieten hat, und sogar der Frühlingshimmel und die Blumen des Sommers sind mir danach für immer vergiftet.« Dieses Empfinden ist etwas, das viele von Lovecrafts späteren Erzählern gemeinsam haben.

      Eine eher triviale Frage, die jedoch unter Lovecraft-Lesern ebenso wie unter Spezialisten für viele Spekulationen gesorgt hat, ist die nach der richtigen Aussprache des Namens Cthulhu. In seinen Briefen scheint Lovecraft unterschiedliche Aussprachemöglichkeiten anzudeuten. Kanonisch geworden ist eine Briefstelle aus dem Jahre 1934:

      … das Wort soll den unbeholfenen menschlichen Versuch darstellen, die Phonetik eines absolut nicht-menschlichen Wortes zu erfassen. Die höllische Kreatur erhielt ihren Namen von Wesen, deren Sprachorgane in keiner Weise den menschlichen glichen, und dementsprechend steht er in keiner Beziehung zu den menschlichen Sprechwerkzeugen. Die Silben wurden von physiologischen Werkzeugen geformt, die völlig anders sind als die unsrigen, und können daher von menschlichen Mündern niemals vollkommen richtig ausgesprochen werden … Der eigentliche Klang – soweit menschliche Sprachorgane ihn nachahmen oder menschliche Buchstaben ihn aufzeichnen können – könnte etwas wie Khlûl’-hloo sein, wobei die erste Silbe sehr guttural und heiser ausgesprochen werden sollte. Das u klingt ähnlich wie in full, und die erste Silbe hört sich etwa wie klul an, wobei das h das Heisere und Gutturale wiedergeben soll.61

      Zwischen dem Kosmizismus von »The Call of Cthulhu« und der prosaischen Alltäglichkeit von »Pickman’s Model« scheinen Welten zu liegen. Aber auch wenn diese wohl Anfang September 1926 verfasste Erzählung sicherlich nicht zu Lovecrafts besten zählt, so weist sie doch einige interessante Züge auf. In »Pickman’s Model« berichtet der Erzähler, ein Mann namens Thurber, in einer für Lovecraft ungewöhnlichen umgangssprachlichen Prosa, warum er alle Beziehungen zu dem Bostoner Maler Richard Upton Pickman abgebrochen hat, der kurz darauf verschwunden ist. Eigentlich hatte Thurber noch zu Pickman gehalten, als sich alle anderen Bekannten und Freunde wegen der grässlichen Natur seiner Malerei bereits von ihm abgewandt hatten, und Pickman gewährt ihm sogar Zutritt zu seinem geheimen Kelleratelier im verfallenden North End von Boston in der Nähe des alten Friedhofs Copp’s Hill. Hier bewahrt der Maler einige der spektakulärsten seiner dämonischen Bilder auf. Insbesondere eines, das eine »riesenhafte und unbeschreibliche Abscheulichkeit mit funkelnden roten Augen« zeigt, die an einem menschlichen Kopf nagt wie ein Kind an einem Lutscher. Ein merkwürdiges Geräusch erklingt, und Pickman erklärt unruhig, dass es sich um Ratten handelt, die in den unterirdischen Tunneln leben, welche die Gegend durchziehen. Dann verschwindet er in einem anderen Kellerraum und feuert dort alle sechs Schüsse seines Revolvers ab – eine ziemliche merkwürdige Art, um gegen Ratten vorzugehen. Nachdem er sich verabschiedet hat, bemerkt Thurston, dass er unabsichtlich eine Photographie mitgenommen hat, die an der Leinwand des entsetzlichen Gemäldes befestigt war. Zunächst vermutet er, dass es sich um das Foto eines Hintergrunds für irgendeines von Pickmans Monster-Gemälden handelt. Doch dann wird ihm klar, dass es sich um ein Bild des Monsters selbst handelt: »Es war die Photographie eines lebendigen Wesens.«

      Zwar hat der Leser diese Schlusspointe bereits kommen sehen, doch ist es weniger der Handlungsaufbau, der »Pickman’s Model« bemerkenswert macht, als der Schauplatz und die Ästhetik der Erzählung. Bis hin zu den Straßennamen wird das Bostoner North End von Lovecraft äußerst realistisch geschildert. Weniger als ein Jahr nachdem er die Geschichte verfasst hatte, musste er allerdings zu seiner Enttäuschung feststellen, dass ein großer Teil der von ihm beschriebenen Gegend dem Erdboden gleichgemacht worden war, um neuer Bebauung Platz zu machen. Die Tunnel, die er in »Pickman’s Model« beschreibt, gab es tatsächlich. Sie waren wahrscheinlich in der Kolonialzeit von Schmugglern angelegt worden.62 Lovecraft gelingt es, die Atmosphäre jahrhundertealten Verfalls eindringlich wiederzugeben und dabei Pickman seine eigenen Auffassungen von kulturelle Traditionen in den Mund zu legen:

      Herrgott, Mann! Haben Sie sich einmal überlegt, dass dieses Viertel nicht gebaut wurde, sondern gewachsen ist, richtig gewachsen? Ganze Generationen lebten, fühlten und starben dort! Und das alles zu Zeiten, wo die Leute noch keinerlei Angst hatten zu leben, zu fühlen, zu sterben … Nein, Thurber, diese uralten Gegenden sind voll der traumhaftesten Wunder und Schrecken, voll der Flucht aus dem Banalen, was aber nützt es, wenn keine Menschenseele daraus Gewinn zu ziehen versteht?

      Allerdings finden sich in »Pickman’s Model« noch weitere Gedanken, die Lovecraft am Herzen lagen. In gewissem Sinne ist die Erzählung ein fiktionalisiertes Kompendium der ästhetischen Prinzipien unheimlich-phantastischer Literatur, die Lovecraft kurz zuvor in »Supernatural Horror in Literature« umrissen hatte. Wenn Thurber beklagt, dass »jeder lausige Titelillustrator heute imstande ist, Farbe auf die Leinwand zu klatschen, um dann das Ganze meinetwegen Nachtmahr, Hexenritt oder gar Porträt des Satans zu nennen«, dann knüpft er damit an Lovecrafts Überzeugung an, dass es künstlerischer Aufrichtigkeit und eines Wissens um die tatsächlichen Ursachen menschlicher Furcht bedarf, um unheimlich-phantastische Kunst zu schaffen. »Nur der wahre Künstler«, so fährt Thurber fort, »kennt die tatsächliche Anatomie des Grauens oder die Psychologie der würgenden Furcht, deren genaue Linien und entsprechende Farbkontraste und Lichtwirkungen unserem Unterbewussten eine unerklärliche Angst einflößen.« Mutatis mutandis haben wir hier eine recht exakte Formulierung von Lovecrafts Ideal unheimlich-phantastischer Literatur vor uns. Und wenn Thurber diagnostiziert, dass Pickman »in jeder Hinsicht – im Entwurf wie in der Ausführung – ein gründlicher, detailbesessener und fast wissenschaftlicher Realist« war, dann markiert Lovecraft damit in literarischer Form seine eigene Abwendung von einer poetischen Prosa im Stile Dunsanys hin zu jener spezifischen Form des »Realismus«, die das Markenzeichen seines Spätwerks ist.

      »Pickman’s Model« hat jedoch eine Reihe von Schwächen, die über die ziemlich vorhersehbare Handlung hinausgehen. Obwohl Thurber zunächst als »harter Kerl« charakterisiert wird, der im Ersten Weltkrieg gekämpft hat, scheint er übermäßig schockiert von Pickmans Bildern. Seine Reaktion wirkt übertrieben und hysterisch und erweckt beim Leser den Eindruck, dass er keineswegs so »hart« ist, wie er wiederholt behauptet. Nicht zuletzt wirkt der umgangssprachliche Stil der Erzählung – wie schon in »In the Vault« – aufgesetzt und unnatürlich, und es ist erfreulich, dass Lovecraft, abgesehen von seinen Exkursionen in den Neuengland-Dialekt, in der Folge auf ihn verzichtete.

      »The Call of Cthulhu« wurde von Farnsworth Wright für WEIRD TALES zunächst abgelehnt. Warum, darüber sagt Lovecraft nichts, außer der beiläufigen Bemerkung, dass Wright die Erzählung »langsam« fand.63 Es ist nirgends davon die Rede, dass Wright »The Call of Cthulhu« für zu anspruchsvoll oder abseitig für seine Leserschaft hielt. Nichtsdestotrotz


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