H. P. Lovecraft − Leben und Werk 2. S. T. Joshi

H. P. Lovecraft − Leben und Werk 2 - S. T. Joshi


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fuhr Lovecraft nach Philadelphia, wo er bis Montagabend blieb. Sonia hatte darauf bestanden, ihm die Reise zu bezahlen,72 vielleicht als Entschädigung dafür, dass er sich überwunden hatte, in die »Pestzone« zurückzukehren. Wieder in New York, fand sich Lovecraft am 23. zu einem Treffen der »Gang« ein, das aus zwei Gründen bemerkenswert war: Zum einen hörte man sich gemeinsam die Übertragung des Dempsey-Tunney-Boxkampfes im Radio an, zum anderen traf Lovecraft dort mit Howard Wolf zusammen, einem Freund von George Kirk, der Reporter beim AKRON JOURNAL war. Lovecraft dachte sich nichts weiter dabei, doch sollte er später herausfinden, dass Wolf für seine Kolumne »Variety« einen Artikel über das Treffen und insbesondere über Lovecraft geschrieben hatte. Bei diesem Artikel handelt es sich wahrscheinlich um das erste Mal, dass Lovecrafts Name außerhalb der Welt der Amateurpresse und der Pulp-Magazine Erwähnung fand.73

      Wolf beschreibt Lovecraft als einen »noch ›unentdeckten‹ Verfasser von Horrorgeschichten, dessen Werke keinen Vergleich mit irgendetwas, was heute auf diesem Gebiet veröffentlicht wird, scheuen müssen«, und berichtet, dass er und Lovecraft sich den ganzen Abend lang über unheimlich-phantastische Literatur unterhalten hätten. Dann erwähnt er, dass er in der Folge eine Reihe alter Ausgaben von WEIRD TALES gelesen habe und von Lovecraft mehr und mehr beeindruckt gewesen sei. »The Outsider« ist für Wolf ein »echtes Meisterwerk«, und »The Tomb« hält er für »fast genauso gut«. Wolf findet sogar freundliche Worte für »The Unnamable« und »The Moon-Bog«, während er »The Temple« als »nicht so gut« beurteilt. Am Ende seines Artikels wagt er die Voraussage: »Soweit ich weiß, hat dieser Mann seine Erzählungen noch nie einem Verleger vorgelegt. Wenn zufällig ein Verlagslektor diese Zeilen lesen sollte, dann würde ich ihm raten, Lovecraft aufzufordern, seine Erzählungen zu sammeln und zur Veröffentlichung anzubieten. Ein daraus zusammengestellter Band dürfte bei der Kritik und möglicherweise auch beim Publikum erfolgreich sein.« Weder Wolf noch Lovecraft konnten ahnen, wie lange es dauern sollte, bis es dazu kam.

      Lovecraft blieb bis zum 25. September in New York und fuhr dann mit dem Bus nach Providence zurück. Den Briefen an seine Tanten nach zu urteilen, verbrachte er zwei recht vergnügliche Wochen in der Metropole, die mit jener Art von Besichtigungstouren und Treffen mit Freunden ausgefüllt waren, die ihn schon während seiner New Yorker Jahre aufrechtgehalten hatten. Sowohl Lovecraft wie Sonia waren sich wohl im Klaren darüber, dass es sich um nichts weiter als einen Besuch handelte.

      Ende Oktober unternahm Lovecraft eine weitere Reise, diesmal mit seiner Tante Annie Gamwell, die ihn jedoch weniger weit weg von Providence führte. Zum ersten Mal seit 1908 besuchte er die Gegend seiner Herkunft rund um Foster. Lovecrafts Bericht von dieser Reise ist eine herzerwärmende Lektüre: Er nahm nicht nur den Reiz des ländlichen Neuenglands in sich auf, der ihm zeitlebens so viel bedeutet hatte, sondern erneuerte auch die Bande zu Familienmitgliedern, die das Andenken von Whipple Phillips in Ehren hielten: »Gewiss fühlte ich mich lebhafter zu meinen familiären Ursprüngen hingezogen als bei irgendeiner anderen Gelegenheit, an die ich mich erinnern kann, und habe seitdem an kaum etwas anderes gedacht! Ich bin durchtränkt und gesättigt von den lebendigen Kräften meines ererbten Seins und ganz durchdrungen von Stimmung, Atmosphäre und Wesen meiner handfesten neuenglischen Vorfahren.«74

      Dass dies keine Übertreibung ist, zeigt sich in seiner nächsten Erzählung »The Silver Key«, die vermutlich in den ersten Novembertagen entstand. Hier muss Randolph Carter – der uns zuletzt in »The Unnamable« (1923) begegnet ist – im Alter von dreißig Jahren erkennen, dass er »den Schlüssel zum Tor der Träume verloren hat«, woraufhin er versucht, sich mit der wirklichen Welt zu versöhnen, die er jedoch als prosaisch und ästhetisch unbefriedigend empfindet. Nachdem er literarische, geistige und sinnliche Stimulanzien aller Art erprobt hat, findet er eines Tages auf dem Dachboden seines Hauses einen silbernen Schlüssel. Daraufhin nimmt Carter den »alten, erinnerungsschweren Weg« zurück ins ländliche Neuengland seiner Kindheit und findet sich, auf magische Weise in einen neunjährigen Jungen zurückverwandelt – wobei Lovecraft klug genug ist, keine Erklärung für die Verwandlung anzubieten –, vor dem Haus wieder, in dem er aufgewachsen ist. Ganz selbstverständlich setzt sich Carter mit seiner Tante Martha, seinem Onkel Chris und ihrem Knecht, Benijah Corey, zum Abendessen. Ohne Reue tauscht er sein tristes Erwachsenenleben gegen die Wunderwelt der Kindheit ein, und am nächsten Morgen eröffnet er sich in einer Höhle, in der er schon als Kind spielte, mithilfe des Silberschlüssels den Zugang zu noch weiter entfernten Traumreichen.

      »The Silver Key« wird oft zu Lovecrafts »Dunsany-Geschichten« gezählt, weil es sich um eine traumhaft-poetische Phantasie statt um eine Horrorerzählung handelt. Allerdings weist »The Silver Key« bei genauerer Betrachtung kaum Ähnlichkeiten mit Dunsanys Art des Erzählens auf, außer vielleicht in dem sehr allgemeinen Sinne, dass philosophisch-weltanschauliche Fragen in Form einer phantastischen Erzählung verhandelt werden. Und doch zeichnet sich zwischen »The Silver Key« und dem Werk des irischen Phantasten in anderer Hinsicht eine subtile Beziehung ab: Nachdem er den Zugang zu seiner Traumwelt verloren hat, beginnt Carter wieder, Bücher zu schreiben – aus »The Unnamable« kennen wir ihn ja bereits als Verfasser von Horrorerzählungen –, aber er findet in dieser Betätigung keine Befriedigung mehr:

      … denn das Gewicht des Irdischen lastete auf seinem Geist, und er konnte nicht mehr an schöne Dinge denken wie vor Zeiten. Ein ironischer Humor brachte all die Minarette, die er in der Dämmerung aufrichtete, wieder zum Einsturz, und die irdische Furcht davor, unglaubwürdig zu erscheinen, ließ all die zarten und wunderbaren Blumen in seinen Feengärten verwelken. Die Konventionen eines unechten Mitgefühls ließen seine Figuren rührselig werden, während die mythische Vorstellung, dass die Wirklichkeit Gewicht und die Erlebnisse und Gefühle der Menschen Bedeutung haben, all seine hochfliegenden Phantasien zu kaum verschleierten Allegorien und billigen Gesellschaftssatiren herabwürdigte. … Es waren elegante Romane, in denen er sich weltgewandt über die Träume lustig machte, die er mit leichter Hand aufs Papier warf. Doch erkannte er, dass ihre Perfektion ihnen das Leben ausgesaugt hatte.

      Diese Sätze bringen ziemlich genau Lovecrafts Meinung über Dunsanys späteres Werk zum Ausdruck, dem er vorwarf, die Haltung kindlichen Staunens und die Höhenflüge der Phantasie aufgegeben zu haben, die seine früheren Arbeiten auszeichneten. Die Einschätzung, die Lovecraft 1936 in einem Brief gab, wurde zwar schon zitiert, es ist aber durchaus erhellend, sie an dieser Stelle noch einmal anzuführen:

      Als [Dunsany] älter und abgeklärter wurde, verlor er seine Frische und Einfachheit. Er schämte sich seiner unkritischen Naivität und begann, zu seinen Erzählungen auf Distanz zu gehen und sie offensichtlich zu belächeln, während sie sich vor dem Leser entfalten. Statt zu bleiben, was der echte Phantastiker sein muss – ein Kind in einer kindlichen Traumwelt –, begann er, Wert darauf zu legen, den Leser merken zu lassen, dass er in Wirklichkeit ein Erwachsener war, der gutmütig so tat, als ob er ein Kind in einer kindlichen Welt sei.75

      In Wirklichkeit ist »The Silver Key« natürlich eine kaum verbrämte Darstellung von Lovecrafts eigener gesellschaftlicher, ethischer und ästhetischer Weltanschauung. Der Text ist über weite Strecken kaum eine Erzählung, sondern eher eine Parabel oder ein philosophischer Essay. Attackiert werden der literarische Realismus:

      Er widersprach nicht, als sie ihn belehrten, dass der kreatürliche Schmerz eines abgestochenen Schweins oder eines magenkranken Bauern im wirklichen Leben wichtiger wären als die unvergleichliche Schönheit von Narath mit seinen hundert reliefgeschmückten Toren und Domen aus Mondstein …

      eine konventionelle Religiosität:

      Er hatte sich dem sanften kirchlichen Glauben zugewandt, der ihm durch das naive Gottvertrauen seiner Vorväter lieb war, denn in diese Richtung erstreckten sich mystische Wege, die ein Entkommen aus seinem neuen Leben zu versprechen schienen. Erst bei näherem Hinsehen bemerkte er die Dürre ihrer Visionen, die schale und nüchterne Banalität, den lächerlichen Ernst und die groteske Wahrheitsgewissheit, die öde und unumschränkt unter den Bekennern herrschten … Es ermüdete Carter mitanzusehen, mit welchem Ernst diese Menschen versuchten, irdische Realität aus alten Mythen zu machen, die von jedem neuen Schritt jener Wissenschaft, auf die sie zugleich so stolz waren, widerlegt wurden …

      und eine künstlerische und politische Bohème:

      Ihr


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