H. P. Lovecraft − Leben und Werk 2. S. T. Joshi

H. P. Lovecraft − Leben und Werk 2 - S. T. Joshi


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der Erzählung effektiv und glaubwürdig vermittelt.

      Von jener berühmten grüblerischen Einleitung über die Stellung des Menschen in der Welt, die ihrerseits eine Weiterentwicklung des Beginns von »Facts concerning the Late Arthur Jermyn and His Family« ist:

      Die größte Gnade, die uns die Natur hat zuteilwerden lassen, ist wohl das Unvermögen des menschlichen Geistes, alle seine Inhalte miteinander in Beziehung zu setzen. Wir leben auf einer beschaulichen Insel der Unwissenheit inmitten schwarzer Ozeane der Unendlichkeit, und es ist nicht unsere Bestimmung, weit hinauszusegeln. Die Wissenschaften, von denen jede in ihre eigene Richtung strebt, haben uns bislang wenig geschadet. Eines Tages jedoch wird man die verstreuten Wissensfragmente zusammenfügen, und es werden sich so erschreckende Ausblicke auf die Wirklichkeit und unsere heillose Stellung in dieser Wirklichkeit eröffnen, dass wir angesichts der Offenbarung entweder den Verstand verlieren oder aus dem tödlichen Licht in die Ruhe und Sicherheit eines neuen dunklen Zeitalters fliehen werden …,

      bis zu Johansens atemberaubender Begegnung mit Cthulhu:

      Die widerwärtige See wirbelte und schäumte heftig, und während der Druck im Dampfkessel immer weiter anstieg, steuerte der tapfere Norweger sein Schiff direkt auf die sie verfolgende Gallertmasse zu, die sich wie das Heck einer dämonischen Galeone über die verseuchte Gischt erhob. Der entsetzliche Krakenkopf mit seinen zuckenden Fühlern überragte fast den Bugspriet der gedrungenen Jacht, doch Johansen hielt unerbittlich Kurs. Es gab ein Bersten, so als ob eine Blase platzen würde, dann eine schleimige Ungeheuerlichkeit, die an die Gedärme eines Mondfischs erinnerte, dann einen Gestank wie aus tausend geöffneten Gräbern und ein Geräusch, das der Chronist nicht in Worte zu fassen wagte …,

      ist die Erzählung ein Meisterwerk, sowohl im Hinblick auf ihren Erzählrhythmus wie auf die virtuose Steigerung des Grauens. Mit ihren 12.000 Wörtern hat sie die Dichte und Komplexität eines Romans.

      Die eigentliche Bedeutung von »The Call of Cthulhu« liegt jedoch weder in den in die Erzählung eingearbeiteten autobiographischen Details noch in ihrer literarischen Qualität, sondern in der Tatsache, dass es sich bei ihr um den ersten entscheidenden Beitrag zu dem handelt, was später als der »Cthulhu-Mythos« bezeichnet wurde. Sie enthält bereits viele der Elemente, die Lovecraft oder andere Autoren in späteren »Cthulhu-Mythos«-Erzählungen verwenden sollten. Zugleich ist es unbestreitbar, dass sich in den Erzählungen, die Lovecraft in den letzten zehn Jahren seines Lebens schuf, ein Geflecht von Zusammenhängen und Querverweisen herausbildet. Häufig sind diese Geschichten durch wechselseitige Verweise auf ein sich ständig weiterentwickelndes Korpus imaginärer Mythen miteinander verbunden, und viele von ihnen knüpfen an – teils nebensächliche, teils zentrale – Elemente vorangegangener Erzählungen an. Allerdings können wir heute einige zentrale Punkte festhalten, auch wenn manche von ihnen nicht unumstritten sind: 1) Der Begriff »Cthulhu-Mythos« stammt nicht von Lovecraft; 2) Lovecraft war der Überzeugung, dass seine weltanschaulichen Prinzipien in allen seinen Erzählungen gleichermaßen zum Ausdruck kamen; 3) der Cthulhu-Mythos – wenn man von einem solchen überhaupt sprechen kann – besteht weder aus den Erzählungen selbst, noch aus der Weltanschauung, die hinter den Erzählungen steht, sondern aus bestimmten Motiven und Elementen, die verwendet werden, um diese Weltanschauung auszudrücken. Betrachten wir diese drei Punkte genauer:

      1) Es steht zweifelsfrei fest, dass der Begriff »Cthulhu-Mythos« nach Lovecrafts Tod von August Derleth geprägt wurde. Lovecraft selbst kommt einer Benennung des von ihm erfundenen Pantheons und der mit ihm zusammenhängenden Phänomene am nächsten, wenn er in einem Brief beiläufig von »Cthulhuism & Yog-Sothothery« spricht,55 wobei allerdings unklar bleibt, was genau diese Begriffe bezeichnen.

      2) Wenn Lovecraft 1931 in einem Brief an Frank Belknap Long davon spricht, dass »Yog-Sothoth eine im Kern unreife Vorstellung & ungeeignet für wirklich ernsthafte Literatur ist«,56 dann war er vielleicht übertrieben bescheiden – was immer an dieser Stelle konkret mit »Yog-Sothoth« gemeint ist. Doch war, wie im weiteren Verlauf des Briefes deutlich wird, für Lovecraft seine Pseudomythologie vor allem eins: ein Mittel, um seiner »kosmizistischen« Weltanschauung Ausdruck zu verleihen. Dies tritt ebenfalls deutlich in einem Brief hervor, den Lovecraft im Juli 1927 an Farnsworth Wright schrieb, als er ihm »The Call of Cthulhu« zum zweiten Mal für WEIRD TALES anbot, nachdem Wright die Erzählung zunächst abgelehnt hatte:

      Alle meine Erzählungen beruhen auf der Grundannahme, dass die gewöhnlichen menschlichen Gesetze, Interessen und Gefühle im unermesslichen Kosmos in seiner Gesamtheit keine Gültigkeit und keine Bedeutung haben. Für mich kann eine Erzählung, in der die menschliche Gestalt – und die begrenzten menschlichen Leidenschaften und Befindlichkeiten und Maßstäbe – auf andere Welten oder andere Universen übertragen werden, nur kindisch sein. Um zum Wesen eines echten Außerhalb vorzustoßen – ob es sich um ein Außerhalb der Zeit, des Raums oder der Dimensionen handelt –, muss man vergessen, dass Dinge wie organisches Leben, Gut und Böse, Liebe und Hass und alle derartigen lokalen Attribute einer unbedeutenden und vergänglichen Spezies, die sich Menschheit nennt, überhaupt existieren.57

      Bei näherer Betrachtung hat diese Erklärung vielleicht nicht das philosophische Gewicht, das ihr manche Kommentatoren – darunter ich selbst – in der Vergangenheit zugeschrieben haben: Obwohl der erste Satz eine äußerst allgemeine Aussage enthält, beschäftigt sich der überwiegende Teil des Abschnitts – und des gesamten Briefes – mit einer ziemlich spezifischen technischen Frage der Science Fiction oder des unheimlichphantastischen Erzählens, nämlich der Darstellung von Außerirdischen. Wogegen Lovecraft argumentiert, ist die weitverbreitete Konvention, Außerirdische nicht nur als humanoid darzustellen, sondern auch mit menschlicher Sprache, Gewohnheiten und Gefühlen auszustatten, wie dies zum Beispiel Autoren wie Edgar Rice Burroughs oder Ray Cummings praktizierten. Der Wunsch, sich davon abzusetzen, ist einer der Gründe, warum Lovecraft einen so abseitigen Namen wie »Cthulhu« ersinnt, um ein Geschöpf zu bezeichnen, das aus den Tiefen des Weltalls stammt.

      Doch behauptet Lovecraft in der oben zitierten Passage, dass alle seine Erzählungen auf die eine oder andere Weise auf dem kosmizistischen Prinzip beruhen. Wenn wir dennoch einige von ihnen zu einer eigenständigen Gruppe zusammenfassen, weil sie von seinem »künstlichen Pantheon und dessen mythologischen Hintergrund« (wie er es in »Some Notes on a Nonentity« formuliert) Gebrauch machen, dann geschieht dies nur der Zweckmäßigkeit halber und im vollen Bewusstsein, dass sich Lovecrafts Werk nicht willkürlich in strikt voneinander getrennte und sich gegenseitig ausschließende Kategorien unterteilen lässt, wie Derleth es mit seiner Unterscheidung von »Neuengland-Erzählungen«, »Dunsany-Erzählungen« und »Cthulhu-Mythos-Erzählungen« versucht hat. Es ist offensichtlich, dass sich diese Kategorien nicht scharf gegeneinander abgrenzen lassen und dass bestimmte Erzählungen durchaus zu mehreren Kategorien gleichzeitig gehören können.

      3) Es wäre sowohl oberflächlich als auch ungenau zu behaupten, dass der Lovecraft-Mythos mit Lovecrafts Weltanschauung identisch ist. Weltanschaulich hing Lovecraft einem konsequenten mechanischen Materialismus an, und wenn es so etwas wie einen Lovecraft’schen Mythos gibt, dann handelt es sich um eine Reihe von erzählerischen Elementen und Motiven, die ihm zum Ausdruck dieser Weltanschauung dienen. Wir können uns an dieser Stelle darauf beschränken, diese Elemente grob zu umreißen. Sie lassen sich provisorisch in drei Bereiche unterteilen: a) erfundene »Götter« und die Kulte oder Gefolgschaften, die sich um diese gebildet haben; b) eine ständig wachsende Bibliothek mythischer Bücher und okkulter Überlieferungen; c) eine imaginäre Topographie Neuenglands (die Städte Arkham, Dunwich, Innsmouth usw.). Es fällt sogleich auf, dass Elemente aus den ersten beiden Bereichen bereits in Lovecrafts früheren Erzählungen auftauchen, wenn auch oft in noch verschwommener Form. Doch erst in Lovecrafts Spätwerk verbinden sich die drei Bereiche miteinander. Man könnte argumentieren, dass der dritte Bereich nichts dazu beiträgt, Lovecrafts Kosmizismus auszudrücken, und es trifft zu, dass sein imaginäres Neuengland den Schauplatz von Erzählungen abgibt, die alles andere als »kosmisch« sind, wie beispielsweise »The Picture in the House«. Allerdings hat seine mythische neuenglische Topographie eine nachhaltige Faszination ausgeübt und kann trotz allem als wichtiger Bestandteil der Lovecraft’schen Mythologie betrachtet werden. Es ist nur insofern sinnvoll, die Fehlinterpretationen zu diskutieren, die


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