H. P. Lovecraft − Leben und Werk 2. S. T. Joshi
eigentlich Elementargeister sind; 2) dass es möglich ist, zwischen den »Älteren Göttern«, welche die Kräfte des Guten verkörpern, und den »Großen Alten«, welche die Kräfte des Bösen repräsentieren, zu unterscheiden; 3) dass Lovecrafts Mythologie in ihrer Gesamtheit eine Verwandtschaft mit dem Christentum aufweist.
Man muss nicht lange nachdenken, um alle drei Behauptungen als absurd zurückzuweisen. Die Vorstellung, dass die »Götter« für Elemente stehen, scheint vor allem darauf zurückzugehen, dass Cthulhu unter Wasser gefangen ist und dass er äußerlich einem Kraken ähnelt, woraus Derleth ableitet, dass er für das Element Wasser stehen muss. Doch sowohl der Umstand, dass er explizit außerirdischer Herkunft ist, als auch die Tatsache, dass er in der versunkenen Stadt R’lyeh gefangen ist, lassen keinen Zweifel daran, dass seine Krakenähnlichkeit zufällig und Wasser nicht sein natürliches Element ist. Derleths Versuche, aus Lovecrafts anderen »Göttern« Elementarwesen zu machen, ist noch absurder: Nyarlathotep wird willkürlich dem Element Erde zugeordnet, während Hastur – eine Wesenheit, die nur ein einziges Mal beiläufig in »The Whisperer in Darkness« erwähnt wird – aus unklaren Gründen als Luftgeist fungiert. Nicht nur bleiben in dieser Zuordnung die beiden Wesenheiten, die allem Anschein nach die Hauptgötter des Lovecraft’schen Pantheons sind – Azathoth und Yog-Sothoth –, außen vor, Derleth muss auch erklären, warum es Lovecraft aus unerfindlichen Gründen nicht gelang, dem Element Feuer eine Gottheit zuzuordnen, und das obwohl er – Derleth zufolge – während seiner letzten zehn Lebensjahre kontinuierlich am »Cthulhu-Mythos« arbeitete.
Derleth, selbst praktizierender Katholik, konnte Lovecrafts düstere atheistische Weltsicht offenbar nicht ertragen und erfand daher willkürlich die von dem britannischrömischen Gott Nodens angeführten »Älteren Götter« als Gegengewicht zu den »bösen« Großen Alten, die von der Erde »verbannt« worden sind, aber seit unvordenklichen Zeiten Vorbereitungen treffen, zurückzukehren und die Menschheit auszurotten. Offenbar hat er sich seine Inspiration dafür aus Lovecrafts Roman The Dream-Quest of Unknown Kadath geholt, wo Nodens sich gegen die Machenschaften Nyarlathoteps auf die Seite Randolph Carters zu stellen scheint. Die Hinzuerfindung der Kategorie der »Älteren Götter« ermöglichte es Derleth zu behaupten, dass der »Cthulhu-Mythos« seinem Wesen nach mit dem Christentum verwandt sei, um ihn für Menschen, die seine konventionelle Weltsicht teilten, akzeptabel zu machen. Ein wichtiges »Beweisstück«, das er wiederholt für seine These anführte, war das folgende, vorgeblich aus einem Brief Lovecrafts stammende Zitat: »Alle meine Erzählungen, so unzusammenhängend sie auch sein mögen, beruhen auf der grundlegenden Überlieferung oder Legende, dass diese Welt einst von einer anderen Rasse bewohnt wurde, die ihre Stellung verlor oder vertrieben wurde, weil sie schwarze Magie praktizierte, und die nun außerhalb ihrer Grenzen lauert und nur darauf wartet, erneut von der Erde Besitz zu ergreifen.« Trotz der oberflächlichen Ähnlichkeit, die es mit der oben angeführten Passage aus seinem Brief an Farnsworth Wright hat, welche ebenfalls mit »Alle meine Erzählungen …« beginnt, scheint dieses Zitat in jeder Hinsicht untypisch für Lovecraft; in jedem Fall steht es in dezidiertem Widerspruch zur Stoßrichtung seiner Weltanschauung. Als Derleth später gebeten wurde, den Brief vorzulegen, aus dem das Zitat angeblich entnommen war, konnte er dies nicht. Aus gutem Grund: Es findet sich in keinem von Lovecrafts Briefen. Es stammt vielmehr aus einem Brief des Komponisten Harold S. Farnese an Derleth. Farnese, der eine kurze Korrespondenz mit Lovecraft geführt hatte, dachte offensichtlich ähnlich wie Derleth und legte Lovecraft seine eigene Fehlinterpretation seines Werks in den Mund.58 Derleth wiederum ließ sich das vorgebliche Zitat als Trumpfkarte für seine irreführende Lovecraft-Interpretation nicht entgehen.
Es ist nicht mehr nötig, die ganze Angelegenheit noch einmal aufzuwärmen: Moderne Lovecraft-Spezialisten wie Richard L. Tierney und Dirk W. Mosig haben diese Frage so eindeutig geklärt, dass jeder Versuch, ihre Forschungen infrage zu stellen, nur noch als Geschichtsklitterung betrachtet werden kann. Es gibt in Lovecrafts Erzählungen kein kosmisches Ringen zwischen »Gut« und »Böse«. Was es gibt, sind Kämpfe zwischen verschiedenen außerirdischen Wesenheiten, doch haben diese Auseinandersetzungen keinerlei moralische Untertöne, sondern sind schlicht Bestandteil der Geschichte des Universums. Es gibt keine »Älteren Götter«, die darum kämpfen, die Menschheit vor den »bösen« Großen Alten zu beschützen. Die Großen Alten wurden von niemandem »vertrieben« und sind – außer Cthulhu – weder in der Erde noch sonstwo »gefangen«. Lovecrafts kosmisches Panorama ist weit weniger erbaulich: Die Menschheit nimmt keine zentrale Rolle auf der Bühne des Universums ein, und niemand hilft ihr, gegen jene Wesenheiten vorzugehen, die von Zeit zu Zeit die Erde heimsuchen, um Chaos und Verwüstung zu stiften. Letztlich sind die »Götter« der Lovecraft’schen Mythologie keine »echten« Götter, sondern bloß außerirdische Wesen, die gelegentlich ihre menschlichen Anhänger zum eigenen Vorteil manipulieren.
Dieser letzte Punkt ist insbesondere in Bezug auf »The Call of Cthulhu« interessant: Wenn Castro Inspektor Legrasse seine haarsträubende Geschichte von den Großen Alten erzählt, dann wirkt es, als ob eine enge Beziehung zwischen den menschlichen Anhängern des Cthulhu-Kultes und dem Gegenstand ihrer Verehrung bestehen würde: »Dieser Kult würde nicht sterben, bis die Sterne wieder richtig standen und die geheimen Priester den großen Cthulhu aus seinem Grab befreien würden, um seinen Untertanen das Leben zurückzugeben und ihn erneut seine Herrschaft über die Erde antreten zu lassen.« Die Frage ist: Hat Castro damit recht oder nicht? Betrachtet man die Erzählung als ganze, dann scheint er eindeutig unrecht zu haben. Mit anderen Worten, der Kult hat keinerlei Einfluss auf das Wiedererscheinen von Cthulhu, das durch ein Erdbeben ausgelöst wird, und spielt für ihn und seine möglichen Absichten keine Rolle. An dieser Stelle kommt Lovecrafts Bemerkung ins Spiel, dass man sich hüten solle, menschliche Interessen und Befindlichkeiten auf außerirdische Wesen zu übertragen: Wir wissen praktisch nichts darüber, was Cthulhu will oder beabsichtigt, und seine erbärmlichen und unwissenden menschlichen Verehrer suchen nur eine Bestätigung ihrer eigenen Wichtigkeit, wenn sie sich einreden, dass sie bei seiner Wiederkehr eine entscheidende Rolle spielen und mit ihm seine Herrschaft über die Erde antreten werden.
Hier stoßen wir endlich zum Kern der Lovecraft’schen Mythologie vor. Man hat Lovecrafts Bekenntnis, dass es Lord Dunsany war, »der mir die Idee zu jenem artifiziellen Pantheon und dem mythischen Hintergrund, für den ›Cthulhu‹, ›Yog-Sothoth‹, ›Yuggoth‹ usw. stehen«, eingab, entweder missverstanden oder ignoriert. Doch ist es entscheidend, um zu begreifen, was seine Pseudomythologie für Lovecraft bedeutete. Dunsany hatte sein imaginäres Pantheon in seinen beiden ersten Büchern The Gods of Pegāna (1905) und Time and the Gods (1906) – und nur in diesen – ausgearbeitet. Der bloße Umstand, dass ein Schriftsteller sich eine imaginäre Religion ausdenkt, verlangt nach einer Erklärung: Er deutet offensichtlich darauf hin, dass er die Religion, mit der er aufgewachsen ist – in diesem Falle das Christentum –, als unzulänglich empfindet. Dunsany war, soweit man weiß, Atheist, wenn er seinen atheistischen Überzeugungen auch nicht so offen Ausdruck verlieh wie Lovecraft. Und seine Götter waren, wie diejenigen Lovecrafts, in erster Linie Symbole für seine weltanschaulichen Überzeugungen. Im Falle Dunsanys ging es um Dinge wie die Rückgewinnung einer verlorenen Einheit zwischen Mensch und Natur und die Ablehnung zahlreicher Elemente der modernen Zivilisation (das Geschäftsleben, Reklame und allgemein die Abwesenheit von Schönheit und Poesie im Alltag). Lovecraft, der eine eigene weltanschauliche Botschaft vermitteln wollte, benutzte sein imaginäres Pantheon in einem analogen Sinne. Doch anders als Dunsany siedelte Lovecraft dieses Pantheon nicht in phantastischen Ländern an, sondern in der wirklichen Welt. Damit vollzog er den Schritt von der Fantasy zum Unheimlich-Phantastischen und verlieh seinen Wesenheiten eine weit erschreckendere Präsenz, als wenn sie ein imaginäres Land wie Pegāna bevölkert hätten.
Lovecraft schuf, wie David E. Schultz es treffend ausgedrückt hat, eine Anti-Mythologie.59 Denn was ist der Zweck der meisten Religionen und Mythologien? »Dem Menschen die Wege Gottes zu erklären«,60 wie Milton es zu Beginn von Paradise Lost formuliert. Die Menschheit hat sich immer für den Mittelpunkt des Universums gehalten und das Universum mit Göttern von unterschiedlichem Wesen und unterschiedlichen Fähigkeiten bevölkert, um die Naturphänomene ebenso wie die eigene Existenz zu erklären und sich vor der düsteren Aussicht des völligen Nichts nach dem Tode zu schützen. In jeder Religion und jeder Mythologie gibt es eine Verbindung