H. P. Lovecraft − Leben und Werk 2. S. T. Joshi

H. P. Lovecraft − Leben und Werk 2 - S. T. Joshi


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unvernünftiger war als ihre jetzigen Überzeugungen. Sie hatten bloß die falschen Götter der Furcht und der blinden Frömmigkeit gegen die der Ausschweifung und der Anarchie eingetauscht.

      Zu jeder dieser Passagen gibt es eine exakte Parallele in Lovecrafts Korrespondenz, und es ließen sich noch weitere solcher Parallelen anführen. Nur selten hat er seine Weltanschauung so direkt in erzählender Prosa ausgedrückt, und »The Silver Key« kann als sein endgültiger Abschied von der Dekadenzliteratur als ästhetischem Vorbild und vom Kosmopolitismus als Lebensform verstanden werden. Ironischerweise hat er die erzählerische Struktur von »The Silver Key« ebenjener literarischen Richtung entliehen, von der er sich in der Erzählung lossagt: Die Art, wie Carter bei dem Versuch, seinem Leben einen Sinn zu geben, nacheinander verschiedenartige ästhetische, religiöse und persönliche Erfahrungen durchlebt, folgt dem Vorbild des Schlüsselromans der Dekadenz, Joris-Karl Huysmans À rebours, in dem der Held Des Esseintes eine vergleichbare intellektuelle Reise unternimmt. Carters Rückkehr in seine Kindheit ist vielleicht von einer viel früheren Bemerkung Lovecrafts inspiriert: »Erwachsen zu sein ist die Hölle«, schrieb er in einem Brief aus dem Jahre 1920.76 Allerdings kehrt Carter im Grunde weniger in seine kindliche Existenz, sondern zu den Traditionen seiner Vorväter zurück; für Lovecraft das einzig wirksame Gegenmittel gegen das Gefühl der Vergeblichkeit, das die Erkenntnis, wie unbedeutend die Stellung des Menschen im Universum ist, zwangsläufig nach sich zog.

      Es sollte inzwischen deutlich geworden sein, dass »The Silver Key« über weite Strecken auf dem Besuch beruht, den Lovecraft kurz zuvor in Foster gemacht hatte.77 Bestimmte Einzelheiten der Topographie, einige der Namen der handelnden Figuren78 und andere Übereinstimmungen lassen diese Schlussfolgerung unabweisbar erscheinen. So wie Lovecraft nach zwei Jahren der Entwurzelung in New York das Bedürfnis verspürte, die Verbindungen zum Ort seiner Herkunft wiederzuknüpfen, so muss er beim Verfassen von »The Silver Key« das Bedürfnis gehabt haben, ein für alle Mal deutlich zu machen, dass seine Imagination immer nach Neuengland zurückkehren und dessen Landschaft als einen Quell unerschütterlicher Werte und emotionalen Rückhalts betrachten würde, ganz gleich, wie weit sie zuvor auch in die Ferne geschweift war.

      Der Frage, in welchem Verhältnis »The Silver Key« zu Lovecrafts anderen Randolph-Carter-Geschichten steht, hat man bisher nur wenig Aufmerksamkeit gewidmet. Die Erzählung zeichnet Carters vollständigen Lebensweg von seiner Kindheit bis zu seinem Verschwinden im Alter von 54 Jahren nach. Stellt man eine Chronologie der Carter-Erzählungen auf, dann steht The Dream-Quest of Unknown Kadath an deren Anfang, denn Carter ist zur Zeit der dort geschilderten Ereignisse wohl in seinen Zwanzigern. Nachdem er mit dreißig den Schlüssel zum Tor der Träume verloren hat, unternimmt er seine Experimente mit dem literarischen Realismus, der Religion und dem Bohèmeleben. Enttäuscht wendet er sich daraufhin dunkleren Gefilden zu und experimentiert mit dem Okkultismus und düstereren Geheimlehren. Während dieser Phase trifft er auf Harley Warren und begibt sich mit diesem auf jene verhängnisvolle Friedhofsexkursion, die in »The Statement of Randolph Carter« geschildert wird. Kurz darauf und wieder in Arkham folgen dann die in »The Unnamable« geschilderten Ereignisse, die allerdings in »The Silver Key« nur indirekt angesprochen werden. Selbst aus diesen Ausflügen in die Gefilde des Unheimlich-Phantastischen zieht Carter keine Befriedigung, bis er im Alter von 54 Jahren den silbernen Schlüssel findet.

      Kurz nachdem er die Erzählung verfasst hatte, notierte Lovecraft, dass er sie »noch nicht in ihre endgültige Form gebracht« habe: »Ich werde«, so kündigt er an, »in Kürze eine große Menge philosophischen Materials aus dem Anfangsteil amputieren, das die Entwicklung der Handlung verzögert und das Interesse des Lesers erstickt, bevor die Erzählung überhaupt richtig begonnen hat.«79 Lovecraft hat diese Ankündigung nie in die Tat umgesetzt, da ihm klar geworden sein muss, dass eine derartige »Amputation« die Geschichte ihres Sinnes beraubt hätte: Carters Rückkehr in die Kindheit bliebe bedeutungslos, wenn ihr nicht die Erkenntnis vorausgehen würde, dass das Erwachsenenleben in der modernen Welt ihm wenig zu bieten hat. Dass die Leser von WEIRD TALES nicht das ideale Publikum für eine Geschichte wie »The Silver Key« waren, ist offensichtlich. Es erstaunt daher nicht, dass Farnsworth Wright die Erzählung zunächst ablehnte.80 Im Sommer 1928 bat Wright Lovecraft jedoch, ihm »The Silver Key« erneut vorzulegen, und diesmal kaufte er die Geschichte für 70 Dollar.81 Nachdem die Erzählung in der Januarausgabe 1929 erschienen war, berichtete Wright allerdings, dass die Leser »heftige Abneigung« gegen »The Silver Key« geäußert hätten.82 Er war jedoch so taktvoll, keinen dieser ablehnenden Kommentare in der Leserbriefkolumne von WEIRD TALES abzudrucken.

      In der Erzählung »The Strange High House in the Mist«, die Lovecraft am 9. November 1926 verfasste, ist der Einfluss Dunsanys deutlicher als in »The Silver Key«. Hier zeigt sich, dass Lovecraft die literarische Ästhetik des irischen Phantasten so weit verinnerlicht hatte, dass er in der Lage war, seine eigenen Ideen und Empfindungen in einer Form auszudrücken, die frei mit Dunsanys Stil und Atmosphäre umgeht. Direkt von Dunsany inspiriert sind in »The Strange High House in the Mist« vor allem einige Einzelheiten der Szenerie und die lebensweisheitliche, ja satirische »Botschaft« der Erzählung.

      Schauplatz der Handlung ist Kingsport, wohin Lovecraft zum ersten Mal seit »The Festival« (1923) zurückkehrt, jener Geschichte, in der er seine Eindrücke des realen Marblehead und der dort lebendigen Vergangenheit auf diese fiktive Stadt übertrug. Nördlich von Kingsport steigen »die Felsen hoch und merkwürdig empor, Terrasse auf Terrasse, bis die nördlichste wie eine erstarrte, graue Windwolke am Himmel hängt«. Auf dieser Klippe steht ein uraltes Haus, dessen Bewohner kein Bürger von Kingsport je zu Gesicht bekommen hat – nicht einmal »der schreckliche alte Mann«. Eines Tages kommt ein »Sommergast« namens Thomas Olney, der als »Philosoph« vorgestellt wird und »an einem College an der Narragansett-Bay gewichtige Dinge lehrt«, auf den Gedanken, dem Haus und seinem geheimnisvollen Bewohner einen Besuch abzustatten. Olney, dem eine gewisse Vorliebe für das Seltsame und Wunderbare eigen ist, steigt mühsam die Klippen empor, muss jedoch, als er vor dem Haus steht, feststellen, dass es auf der Landseite keine Tür hat, sondern nur »einige kleine Gitterfenster mit blinden Butzenscheiben, die nach der Art des siebzehnten Jahrhunderts in Blei gefasst waren«. Die einzige Tür befindet sich auf der gegenüberliegenden Seite des Hauses, dessen Mauer bündig mit der senkrecht abfallenden Klippe abschließt. Da vernimmt Olney eine leise Stimme, und »ein großes, schwarzbärtiges Gesicht« schaut zu einem der Fenster heraus. Auf Einladung des Hausherrn klettert Olney durch das Fenster ins Haus, wird von diesem freundlich aufgenommen und mit wunderbaren Erzählungen unterhalten:

      Und der Tag ging weiter, und Olney lauschte noch immer den Geschichten aus alter Zeit und von fernen Gegenden und vernahm, wie die Könige von Atlantis mit schlüpfrigen, gotteslästerlichen Geschöpfen kämpften, die aus Spalten im Meeresboden emporkrochen, und wie die mit Pfeilern versehenen, tangbehangenen Tempel in Poseidonis von verirrten Schiffen immer noch zu mitternächtlicher Stunde erspäht werden können, die bei ihrem Anblick wissen, dass sie verloren sind. Die Jahre der Titanen wurden heraufbeschworen, aber sein Gastgeber wurde zurückhaltend, als er vom dunklen Uralter des Chaos sprach, ehe die Götter oder die Alten geboren wurden und als die anderen Götter kamen, um auf dem Gipfel des Hatheg-Kla in der steinigen Wüste bei Ulthar hinter dem Flusse Skai zu tanzen.

      Dann ertönt ein Klopfen an jener Tür über der senkrecht abfallenden Klippe. Als Olneys Gastgeber öffnet, füllt sich das Haus mit allen Arten phantastischer Gestalten, darunter »Neptun mit dem Dreizack« und »die graue, schreckliche Gestalt des uralten Nodens«. Am nächsten Tag kehrt Olney nach Kingsport zurück, unfähig, jemandem von seinen Erlebnissen zu berichten, außer dem »schrecklichen alten Mann«, der hinterher beschwört, dass »der Mann, der von dem Felsen herabgestiegen war, nicht mehr ganz der Mann sei, der hinaufgestiegen war«. Olneys Seele verlangt nicht länger nach dem Wunderbaren und Geheimnisvollen, stattdessen ist er nun zufrieden, mit seiner Frau und seinen Kindern sein prosaisches bürgerliches Leben weiterzuführen. Aber wenn die Bewohner von Kingsport zu dem Haus auf den Klippen hinaufschauen, dann scheint es ihnen, als ob »des Abends die kleinen, niederen Fenster heller erleuchtet seien als früher«.

      Mehrfach hat Lovecraft bekannt, dass er, während er »The Strange High House in the Mist« verfasste, keine bestimmte Örtlichkeit im Sinn hatte. Er gibt an,


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