H. P. Lovecraft − Leben und Werk 2. S. T. Joshi

H. P. Lovecraft − Leben und Werk 2 - S. T. Joshi


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die Meere fuhren, schwächere Völkerschaften zu unterjochen.

      Wir sind so schwach, waffenlos, wehrlos, unwissend, so klein, wir Menschen, auf diesem Sandkorn in einem Wassertropfen!

      (…)

      Nun weiß ich Alles. Nun errate ich es. Die Zeit, da der Mensch herrschte, ist vorüber.48

      Lovecraft hatte guten Grund, von Maupassants Erzählung angetan zu sein. Und doch lässt sich nicht leugnen, dass er selbst das Thema subtiler und vielschichtiger gestaltet als sein französischer Vorgänger.

      Robert M. Price hat auf einen weiteren wichtigen Einfluss auf »The Call of Cthulhu« hingewiesen: die Theosophie.49 Diese Bewegung geht auf Helena Petrowna Blavatsky zurück, die in ihren Werken Isis Unveiled (1877) und The Secret Doctrine (1888–97) eine spezifische Mischung aus Populärwissenschaft, Mystik und Religion entwickelte. Es wäre ebenso mühselig wie nutzlos, die theosophische Lehre in ihren Einzelheiten wiederzugeben. Begnügen wir uns damit, darauf hinzuweisen, dass ihre Theorien über untergegangene Zivilisationen wie Atlantis und Lemuria – die Blavatsky behauptete, aus dem uralten »Buch Dzyan« entnommen zu haben, zu dem die Secret Doctrine vorgibt, ein Kommentar zu sein – Lovecrafts Phantasie beflügelten. Im Sommer 1926 hatte er das Buch The Story of Atlantis and the Lost Lemuria (1925) von W. Scott-Elliot gelesen,50 das in »The Call of Cthulhu« erwähnt wird. Im zweiten Kapitel werden die Theosophen sogar explizit genannt. Wenn der Mestize Castro später von den Großen Alten berichtet, dann macht er Andeutungen über gewisse Geheimnisse, die ihm »unsterbliche Chinesen« offenbart hätten – eine Anspielung auf die – fiktiven – theosophischen Berichte von der heiligen Stadt Shamballah in Tibet, dem vorgeblichen Ursprungsort der theosophischen Lehren. Lovecraft war natürlich weit davon entfernt, die Theosophie ernst zu nehmen. Er macht sich im Gegenteil über sie lustig, wenn er beispielsweise schreibt: »Der alte Castro erinnerte sich an Fetzen grässlicher Legenden, vor denen die Spekulationen der Theosophen verblassten und die den Menschen und die Welt als ein junges und kurzlebiges Phänomen erscheinen ließen.«

      Ein weiterer literarischer Einfluss ist »The Moon Pool«, ein Kurzroman von A. Merritt (1884–1943). Lovecraft stimmte immer wieder Lobeshymnen auf diesen Text an, der erstmals in ALL-STORY vom 22. Juni 1918 veröffentlicht worden war und auf der zum Archipel der Karolinen gehörenden Insel Ponape spielt. Jene »Mondtür« mit dem seltsamen Öffnungsmechanismus, durch welche die Protagonisten von Merritts Erzählung in eine Unterwelt voller Wunder und Schrecken hinabsteigen, erinnert stark an die seltsame gigantische Tür in »The Call of Cthulhu«, aus der das titelgebende Wesen hervorbricht, nachdem sie von den Seeleuten geöffnet wird.

      Bevor wir uns den allgemeineren Fragen zuwenden, die durch »The Call of Cthulhu« aufgeworfen werden, lohnt es sich vielleicht, kurz auf die autobiographischen Elemente der Erzählung einzugehen. Einige sind rein oberflächlicher Natur und kommen kaum über das Niveau halb privater Anspielungen hinaus: Der Name des Erzählers, Francis Wayland Thurston, ist offensichtlich von Francis Wayland (1796–1865) entliehen, der von 1827–1855 Präsident der Brown University war. Gammell ist eine Variante von Gamwell, während Angell zugleich auf eine der großen Durchgangsstraßen von Providence wie auf eine der bedeutendsten Familien der Stadt verweist. Der Name Wilcox findet sich in Lovecrafts Stammbaum.51 Und wenn Thurston das Zeitungsblatt mit dem Bericht über Johansens Reise während des Besuchs bei einem »gelehrten Freund in Paterson, New Jersey, der Kurator des dortigen Museums und ein renommierter Mineraloge war«, entdeckt, dann muss man kaum darauf hinweisen, dass es sich um eine Anspielung auf James F. Morton handelt.52

      Das Fleur-de-Lys-Haus in der Thomas Street 7, in dem Wilcox wohnt, existiert bis heute. Harsch, aber durchaus berechtigt nennt Lovecraft das Gebäude »eine hässliche viktorianische Nachahmung der bretonischen Architektur des 17. Jahrhunderts, die ihre stuckverzierte Fassade zwischen den eleganten Kolonialzeithäusern auf dem alten Hügel und im Schatten eines der schönsten georgianischen Kirchtürme des ganzen Landes zur Schau stellt« – bei dem erwähnten Kirchturm handelt es sich um den Turm der First American Baptist Church.

      Das in der Erzählung erwähnte Erdbeben spiegelt ebenfalls ein reales Ereignis wider. Zwar gibt es keinen Brief Lovecrafts an seine Tante Lillian, der den entsprechenden Zeitraum abdeckt, aber ein Tagebucheintrag vom 28. Februar 1925 füllt die Lücke aus: »G[eorge] K[irk] & S[amuel] L[oveman] bei mir – (…) – um 9:30 Uhr abends bebt das Haus …« Steven J. Mariconda, der die Entstehung von »The Call of Cthulhu« umfassend durchleuchtet hat, schreibt: »In New York fielen Lampen von den Tischen und Spiegel von den Wänden. Mauern bekamen Risse, und Fenster zerbrachen. Die Menschen flüchteten sich ins Freie.«53

      »The Call of Cthulhu« ist in vielerlei Hinsicht die Weiterentwicklung und Neufassung einer von Lovecrafts frühesten Erzählungen, »Dagon« (1917). In »Dagon« findet sich bereits eine ganze Reihe der Motive, die Lovecraft in der späteren Geschichte ausarbeiten wird: ein Erdbeben, durch das eine versunkene Landmasse zum Vorschein kommt; ein gigantisches Monster, das in den Tiefen des Ozeans haust, und – auch wenn dies nur vorsichtig angedeutet wird – die Vorstellung, dass eine ganze Zivilisation, die der Menschheit indifferent, wenn nicht gar feindlich gegenübersteht, in einem verborgenen Winkel dieser Welt existiert. Das letztgenannte Motiv bildet auch den Kern von Arthur Machens Erzählungen über das »kleine Volk«. Ohnehin lassen sich Parallelen zwischen »The Call of Cthulhu« und Machens »Novel of the Black Seal« feststellen – einer Episode aus The Three Impostors –, in der Professor Gregg, ähnlich wie Thurston in Lovecrafts Erzählung, disparate Einzelheiten, die jede für sich wenig aussagekräftig sind, zu einem Gesamtbild zusammensetzt, das andeutet, dass die Menschheit auf ein entsetzliches Grauen zusteuert.

      Von allen Erzählungen, die Lovecraft bisher verfasst hatte, weist »The Call of Cthulhu« die komplexeste Struktur auf. Es ist die erste Geschichte, in der er ausgiebigen Gebrauch von der Technik des mehrschichtigen Erzählens – der Erzählung in der Erzählung – macht, einer Struktur, die eigentlich der Romanform bedarf, um ihre volle Wirkung zu entfalten, die Lovecraft jedoch, dank der extremen Verdichtung des Textes, effektiv einzusetzen vermag. Als »Kritiker«, also bei der Beurteilung der Texte anderer Autoren, war sich Lovecraft der formalen Probleme eines verfehlten oder ungeschickten Gebrauchs der »Erzählung in der Erzählung« durchaus bewusst. Dies gilt besonders für die Gefahr, dass eine Binnenerzählung die Haupterzählung überlagert und damit die Einheitlichkeit des Textes untergräbt, eine Schwäche, die Lovecraft in seinem Essay »Supernatural Horror in Literature« in Maturins Melmoth the Wanderer diagnostiziert, wo, so Lovecraft, »[d]ie Geschichte, die Monçada dem jungen John erzählt, einen Großteil des vierbändigen Romans [füllt], ein Missverhältnis, das als einer der wichtigsten technischen Fehler der Komposition betrachtet wird.« Dass die Erzählstruktur derart aus dem Gleichgewicht gerät, lässt sich vermeiden, indem man die Binnenerzählung eng mit der Haupterzählung verknüpft, insbesondere indem man den Erzähler der Haupterzählung auf die eine oder andere Art in die Binnenerzählung miteinbezieht. In »The Call of Cthulhu« gibt es einen Haupterzähler (Francis Wayland Thurston), der mit seinen Worten die Aufzeichnungen eines Binnenerzählers (George Gammell Angell) zusammenfasst, der seinerseits wiederum zwei Berichte anderer Personen wiedergibt, den des Künstlers Wilcox und den des Polizeiinspektors Legrasse, wobei der Bericht des Letzteren gewissermaßen eine weitere Binnenerzählung enthält, die Aussage des alten Mestizen Castro. Später stößt Thurston dann auf einen Zeitungsartikel und den schriftlichen Bericht des Maats Johansen, die wiederum die Wahrheit von Angells Aufzeichnungen bestätigen. Dieses Konzert von Erzählerstimmen lässt sich in der folgenden Skizze zusammenfassen:

Illustration

      Diese Struktur wirkt nirgends unbeholfen, da der Leser sich stets der Anwesenheit des Haupterzählers Thurston bewusst ist, der die verschiedenen Binnenerzählungen zusammenträgt und sie immer wieder durch seine Kommentare miteinander verbindet. Bemerkenswert ist, dass der spektakulärste Teil der Erzählung – Castros Bericht von den Großen Alten – eine dreifache Binnenerzählung in der Folge Thurston – Angell – Legrasse – Castro darstellt. Man kann ohne Übertreibung sagen, dass Lovecraft das Prinzip des sekundären Erzählens hier bis an seine Grenzen treibt. Wenn Lovecraft


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