Seewölfe Paket 26. Roy Palmer
bedauerte es nur insoweit, als er sie nun nicht mehr als Geisel benutzen konnte.
„Wir haben jetzt einiges zu tun“, sagte er. „Nimm deine Pistole und komm mit. Die Leiche wird nachher weggeschafft, verstanden?“
„Wir haben einen neuen Plan!“ rief Gilberto begeistert und schilderte, was er von dem künftigen Gouverneur wußte.
Die Begeisterung griff auf den Rotbärtigen über. Schnell hatte er vergessen, was soeben geschehen war. Ohne die Tote noch eines Blickes zu würdigen, folgte er den beiden Männern in den Hinterhof.
8.
Vier Kerle meldeten sich als Scharfschützen. Unter ihnen war der mit dem geschlossenen linken Auge. Das Zielen über Kimme und Korn kostete ihn naturgemäß wenig Anstrengung.
De Escobedo hatte sich auf die oberste der drei Steinstufen gestellt, die von der Tür aus in den Hinterhof führte. Vigo und Gilberto standen wie Leibwächter unten vor ihm, und die ganze Meute hatte sich andächtig im Halbkreis versammelt.
„Scharfschützen links raustreten!“ befahl der Escobedo.
Die vier Kerle befolgten den Befehl mit stolz geschwellter Brust.
„Folgendermaßen geht es weiter“, fuhr de Escobedo fort, „die Scharfschützen tun ab sofort nichts mehr. Keinen Handschlag, verstanden? Das ist nicht etwa deshalb, weil sie was Besseres sind, sondern?“ Er warf es als Frage vor sie hin.
„Wir brauchen eine ruhige Hand“, erwiderte der mit dem geschlossenen Auge. „Körperliche Arbeit würde uns nur zittrige Finger bescheren.“
„Sehr richtig“, sagte de Escobedo mit anerkennendem Nicken. „Von euch wird es nämlich abhängen, wie erfolgreich wir unsere nächste Mission für die Nacht vorbereiten. Cámpora und seine Aufseherbastarde müssen bis zur Dunkelheit ständig in Trab gehalten werden. Also: Die Scharfschützen befassen sich ab sofort in aller Ruhe mit den Musketen, die sie einsetzen werden. Sucht euch die besten Waffen aus und bereitet eure Munition vor. Eine Bedingung gibt es für euch allerdings noch …“ Er legte eine wohlbedachte Pause ein und genoß, wie die Blicke an seinen Lippen hingen.
„Als Scharfschützen dürft ihr natürlich keinen Tropfen Alkohol anrühren!“
Der mit dem geschlossenen Auge und seine drei „Kollegen“ zogen lange Gesichter. Die anderen lachten meckernd. Es war genau das, was de Escobedo beabsichtigt hatte – ein Ausgleich der Schadenfreude, beliebtes und bewährtes Mittel von Vorgesetzten, um das Fußvolk bei Laune zu halten.
De Escobedo erteilte Vigo mit einem Nicken Erlaubnis, die weiteren Anweisungen zu geben.
„Alle, die keine Scharfschützen sind“, rief der Rotbärtige, „beschaffen Sandsäcke! Die gibt’s in dem Arsenal am Hafen. Besorgt euch dafür irgendwo Pferdefuhrwerke. Und tut es so, daß es vom Gefängnis aus nicht zu sehen ist.“
Die Kerle eilten los, um die Anweisungen auszuführen. Sie hatten das Gefühl, daß sie mit der neuen Taktik mehr Erfolg haben würden. Zumindest brauchten sie bei der Scharfschützenmethode vorerst nicht mehr ins offene Messer – sprich in den Blei- und Eisenhagel der Blunderbusse und Tromblons – zu rennen. Dieses Vorgehen, das der „Señor Gouverneur“ sich ausgedacht hatte, war weitaus weniger riskant als alles Bisherige.
Während das Sandsack-Kommando unterwegs war, besichtigte de Escobedo gemeinsam mit den Unterführern die Häuser beiderseits der Gasseneinmündung, in denen die Scharfschützennester eingerichtet werden sollten. Vier Häuser, jedes für einen Schützen. Für die Nester eigneten sich entweder die Dachböden mit den herausgebrochenen Schindeln oder aber die zerstörten Fenster in den obersten Stockwerken.
Eine knappe Stunde später wurden die Sandsäcke gestapelt.
Jenseits der Straße beobachteten José Cámpora und seine Männer das Geschehen. Zwangsläufig konnte ihnen nicht verborgen bleiben, was sich in Fenstern und Dachlücken abspielte. Wer Sandsäcke stapelte, der wollte sich schützen. Logisch. Die nächste Überlegung, zu welchem Zweck dieser Schutz vorgesehen war, lag ganz einfach auf der Hand.
Die Galgenvögel wollten also zum gezielten Beschuß übergehen.
Keine schlechte Idee, dachte Cámpora. Von den oberen Stockwerken und Dächern der gegenüberliegenden Häuser hatten die Kerle ein überhöhtes Schußfeld auf die Umfassungsmauer, die beiden Portaltürme und den gesamten Gefängnishof.
Die Absicht, die dahintersteckte, war für José Cámpora auf Anhieb klar.
De Escobedo wollte die Wachmannschaft des Gefängnisses systematisch dezimieren. Jene Männer, die unvorsichtig genug waren, sich hinter der Mauer, auf den Türmen oder im Hof zu zeigen, sollten einzeln abgeschossen werden. Zermürbungstaktik. Panik konnte ausbrechen. Furcht vor den Scharfschützen, denen man zum Opfer fiel, wenn man auch nur eine einzige unbedachte Bewegung ausführte.
„Das wird uns mächtig ins Hintertreffen bringen“, sagte der Dienstälteste der Aufsehermannschaft, mit dem Cámpora auf dem rechten Portalturm stand.
„Nicht, wenn wir etwas unternehmen“, widersprach Cámpora. „Noch sind sie beim Einrichten ihrer Scharfschützennester. Und dabei werden wir sie ein bißchen stören.“
„Planen Sie einen Ausfall, Señor?“ fragte der Dienstälteste erschrocken.
Cámpora lächelte mild.
„Ich bin nicht selbstmörderisch veranlagt, mein Lieber. Nein, ich meine es so: Tote lassen sich nicht ersetzen, aber Häuser lassen sich reparieren.“
Die Miene des Aufsehers erhellte sich.
„Ich verstehe, Señor.“
„Gut. Lassen Sie die Männer mit Musketen in Stellung gehen. Beide Drehbassen klar zum Feuern! Diese hier“, er deutete auf den Hinterlader neben sich, „übernehme ich selbst.“
Zwei Minuten später krachten die ersten Musketenschüsse von den Wehrgängen. Schmetternd schlugen die Kugeln in Dachschindeln ein, und in den aufgeschichteten Sandsäcken entstanden zerfranste Löcher, aus denen es gelblich rieselte.
De Escobedos Nestbauer brachten sich in Sicherheit.
Mit kaltem Lächeln ordnete Cámpora eine Feuerpause an. Noch hatten die Drehbassen nicht gefeuert. In eisiger Ruhe wartete er, bis de Escobedo seine Leute in Position gebracht hatte, damit sie das Feuer erwiderten.
Cámpora gab den Feuerbefehl in dem Moment, in dem sich in den beiden Häusern links von der Gasseneinmündung die Musketenläufe über die Sandsäcke schoben.
Haargenau im selben Moment krachten die Geschütze. Der Donnerhall brandete gegen die Mauern der Häuser und vermischte sich mit gellenden Schreien.
Wieder hämmerten die Musketen der Gefängniswächter.
Die beiden Kerle, die es hinter den Sandsäcken erwischt hatte, stürzten mit langgezogenem Schrei auf das Straßenpflaster.
De Escobedo nutzte die Nachladepause der beiden Drehbassen, um seinerseits zum Gegenangriff überzugehen. Aus den Fenstern und Dachöffnungen der Häuser zuckten die Mündungsblitze, die Schußfolge verdichtete sich zu einem Knattern.
Einer der Aufseher auf dem Wehrgang stieß einen gurgelnden Schrei aus. Rücklings stürzte der Mann auf den Gefängnishof hinunter.
José Cámpora reagierte blitzschnell. Mit einem Seitenblick sah er, daß der Mann tot war. Und er sah, wie im Eckhaus rechts von der Einmündung der noch rauchende Musketenlauf von den Sandsäcken weggezogen werden sollte. Dieser Scharfschütze dort drüben war es, der den tödlichen Schuß abgegeben hatte. Cámporas Drehbasse war nachgeladen.
Er schwenkte das Rohr und visierte das Fenster an, in dem der Kerl soeben seine leergeschossene Muskete gegen eine geladene austauschen wollte.
Cámpora stieß die Lunte ins Zündloch.
Die aus der Mündung zuckende