Seewölfe Paket 26. Roy Palmer
Verluste. Wir werden aber nicht sofort stürmen. Vorher werden wir Cámpora und seine Bastarde nämlich weichkochen.“
Vigo und Gilberto sahen ihn staunend an.
Allem Anschein nach zauberte er schon wieder etwas Verblüffendes aus dem Ärmel.
7.
Er ließ sie noch zappeln.
„Erst brauchen wir einen genaueren Überblick über die Lage“, sagte er und ging kurzerhand zum Hinterausgang des Hauses, ohne sich um die beiden Kerle zu kümmern.
Sie folgten ihm notgedrungen.
Draußen standen die Kerle in kleinen Gruppen zusammen und redeten murmelnd miteinander. Als sie de Escobedo erblickten, verstummten sie.
Der Untersetzte hatte sich aufgerappelt, trug sein speckiges Barett wieder auf dem Kopf und wich dem Blick des „Señor Gouverneurs“ aus.
„Vollzählig?“ schnauzte de Escobedo und blieb vor der offenen Tür stehen.
Vigo und Gilberto verharrten hinter ihm.
„Da fehlen noch mindestens fünf Leute“, murmelte Vigo.
Der Kerl mit dem geschlossenen Auge meldete sich zu Wort, indem er die Hand hob.
De Escobedo erteilte ihm mit herablassendem Nicken Sprecherlaubnis.
„Es konnten so schnell nicht alle verständigt werden, Señor Gouverneur. Aber sie werden bestimmt in ein paar Minuten hier sein.“
Weil sie gerade damit beschäftigt sind, Wein oder Rum in sich hineinzugießen, dachte de Escobedo. Er wußte nicht, wie er mit dem Alkoholproblem fertig werden sollte. Wenn er den Schnaps konfiszieren ließ, würden die Halunken wahrscheinlich mit Unmut reagieren. Ihr Kampfeswille würde auf den Nullpunkt sinken, oder sie würden gleich von der Fahne gehen.
Nein, da war es schon besser, ihnen das kleine Vergnügen zu lassen. Er mußte nur darauf achten, daß sie nicht zu wagemutig und leichtsinnig wurden.
„In Ordnung“, sagte er und drehte sich zu seinen Unterführern um.
„Was jetzt?“ fragte Vigo drängend.
De Escobedo grinste hintergründig. Er spürte, wie der Rotbart darauf brannte, zu erfahren, wie seine nächsten Pläne waren. Aber er würde ihn und Gilberto weiter zappeln lassen. Das ließ sie gefügiger, klein und ahnungslos werden.
„Nehmen wir erst einmal das Gebäude in Augenschein“, sagte er ausweichend. „Davon hängt meine Taktik sehr maßgeblich ab.“
„Wieso?“ entgegnete Vigo. „Wir waren doch schon drin. Was ist an dem Kasten so besonders?“
„Wir waren nur in den unteren Räumen“, sagte Gilberto.
„Sehr richtig“, sagte de Escobedo lobend. „Und um die oberen Stockwerke geht es mir, meine Freunde. Also los, verschwenden wir nicht noch mehr Zeit!“
Wieder übernahm er die Führung.
Zum Glück hatten die Plünderer die Treppen nicht mit Äxten zu Feuerholz zerhackt. Wenn die Stufen auch mit Trümmern übersät waren, konnte man doch einigermaßen zügig in die oberen Stockwerke gelangen.
De Escobedo warf einen kurzen Blick durch eins der zerschlagenen Fenster in der ersten Etage und winkte ab.
„Nicht das Geeignete.“
Kurz darauf wollte er eine der Zimmertüren im nächsten Stockwerk öffnen. Doch die Tür gab nicht nach. De Escobedo sah die Unterführer erstaunt an.
Mit einem entschlossenen Ruck zog er seine Pistole und wich einen Schritt zur Seite. Er mußte Entschlossenheit zeigen, Willensstärke. Das beeindruckte letztlich auch Burschen wie Vigo und Gilberto.
„Ist da jemand?“ brüllte er.
Alle drei horchten.
Doch kein Laut war aus dem Zimmer zu hören.
„Wer immer da drin ist!“ fuhr de Escobedo mit unverminderter Lautstärke fort. „Ich fordere den Betreffenden jetzt zum letzten Male auf, die Tür zu öffnen! Verdammt noch mal, es passiert Ihnen nichts! Wir haben andere Sachen im Kopf.“
Vigo und Gilberto nickten zustimmend. Mittlerweile waren sie wieder mit dem Handeln ihres „Señor Gouverneur“ voll einverstanden.
Aber noch immer rührte sich in dem abgeschlossenen Raum nichts.
„Aufbrechen“, befahl de Escobedo kurzerhand und trat noch einen Schritt weiter zur Seite.
Vigo nickte und grinste. Klar, daß er diese Aufgabe übernehmen würde, denn er war der Stämmigste. Gilberto zog gleichfalls seine Pistole, während der Rotbärtige vom Treppenabsatz aus Anlauf nahm.
Schon beim ersten Rammstoß mit der Schulter gab die Tür berstend und splitternd nach. Unter der Wucht seines Anpralls flog Vigo mit den weißen Holzfasern der Tür in den Raum.
Sofort war Gilberto mit einem federnden Satz zur Stelle, brachte die Pistole mit beiden Fäusten hoch und zielte durch den nun offenen Türrahmen.
Drinnen war Vigo zu hören, wie er sich mit Getöse aufrappelte.
Noch bevor de Escobedo zur Stelle war, ließ Gilberto die Pistole wieder sinken. Fassungslosigkeit malte sich in sein Gesicht.
Stirnrunzelnd trat der zukünftige Gouverneur von eigenen Gnaden neben ihn.
Das Wesen kauerte in der entferntesten Ecke des Raumes, rechts unterhalb der Fenster.
Ein Wesen?
De Escobedo schüttelte den Kopf und blinzelte irritiert. Wie Gilberto brauchte auch er einen Moment, um sich von seiner Verblüffung zu erholen. Sogar Vigo Stand da wie vom Donner gerührt.
In der Tat, auf den ersten Blick hatte man den Eindruck, es mit einem sonderbaren Wesen zu tun zu haben. Denn es war in eine schmutziggraue Decke gehüllt, und wie es da in der Ecke kauerte, konnte man nur seine Augen sehen. Zwei große, angstgeweitete Augen, die sich auf die Eindringlinge hefteten.
De Escobedo betrat den Raum und schob seine Pistole unter den Gurt. Gilberto folgte seinem Beispiel.
„Wer sind Sie?“ fragte de Escobedo und bemühte sich, seiner Stimme einen freundlichen Klang zu geben. Jetzt, bei näherem Hinsehen, stellte sich doch heraus, daß das Wesen menschliche Konturen hatte. War es jemand aus einer wohlhabenden Bürgerfamilie, konnte man vielleicht ein Lösegeld herausholen.
Oder mehr!
Der verlockende Gedanke durchzuckte de Escobedo plötzlich. Wenn er den Namen dieses Häufchens Elend kannte, konnte er es möglicherweise als Geisel einsetzen. Beispielsweise konnte er dann den sauberen Gefängnisdirektor zur Aufgabe zwingen. Dann würde ihm der Bau mit fünfzig Mann Verstärkung wie der besagte reife Apfel in den Schoß fallen.
Er trat noch einen Schritt auf das kauernde Etwas zu und setzte ein Lächeln auf.
„Wir tun Ihnen nichts“, sagte er lockend. „Wir sind keine Plünderer, und wir werden Ihnen hier heraushelfen. Wir bringen Sie sogar zu Ihrer Familie zurück.“
Die Angst wich nicht aus den großen Augen. Statt dessen kam ein Flackern hinzu, etwas wie ein Ausdruck von aufwallender Panik.
„Sprechen Sie unsere Sprache nicht?“ fragte de Escobedo. Immerhin lebten eine Menge Nicht-Spanier in Havanna – Portugiesen, Italiener, Franzosen, Araber.
Abermals erfolgte keine Reaktion.
„Laß mich mal ran“, sagte Vigo grimmig-entschlossen.
Bevor de Escobedo oder Gilberto es verhindern konnten, war der Rotbärtige mit zwei schnellen Schritten bei dem kauernden Bündel Mensch und riß die Decke weg.
Ein hilfloses Wimmern war die Folge.
Vigo