Seewölfe Paket 26. Roy Palmer
die dort hockte. Dunkelhaarig, gut gebaut, eine ausgesprochene Schönheit. Ihr an vielen Stellen zerrissenes Kleid sagte aus, was sie erduldet haben mußte.
„Sieh mal einer an!“ rief Vigo mit süßlicher Stimme und drehte sich halb zu den beiden anderen um. „Ist das nicht ein Prachtstück, das wir da aufgegabelt haben?“
Gilberto konnte nur staunend nicken.
„Mir wäre lieber, wenn wir wüßten, wie sie heißt“, sagte de Escobedo.
„Kriegen wir raus!“ entgegnete Vigo großspurig und winkte ab. „Laßt mich nur machen, Amigos. Ich habe da meine besonderen Fähigkeiten.“
Gilbertos Kinn ruckte vor.
„Kommt nicht in Frage!“ rief er scharf. „Du faßt die Frau nicht an!“
„He, he, he!“ rief Vigo. „Was ist in dich gefahren? Was soll das? Willst du hier auf einmal den Moralapostel spielen?“
De Escobedo schnitt mit einer Handbewegung durch die Luft.
„Moral oder nicht Moral“, sagte er schroff, „die junge Señora könnte uns von Nutzen sein. Ich will nicht, daß ihr ein Haar gekrümmt wird. Verstanden?“
„Tue ich auch nicht“, sagte Vigo. „Ich werde mich ganz liebevoll mit ihr beschäftigen.“
De Escobedo schüttelte den Kopf.
„Nichts da“, sagte er in herrischem Befehlston. „Die Frau wird nicht angerührt.“
Vigos bartgerändertes Gesicht verzerrte sich vor Wut. Mit einem jähen Ruck riß er die Pistole unter dem Gurt hervor und legte sie auf de Escobedo an.
„Die Süße gehört mir“, sagte er drohend. „Ich habe die Tür aufgebrochen und sie als erster gesehen. Sie gehört mir, verstanden? Wer mich daran hindern will, dem jage ich eine Kugel in den Wanst. Auch dir, Señor Gouverneur. Und dich warne ich, Gilberto. Du kriegst notfalls mein Messer zu spüren, wenn die Pistole leer ist.“
De Escobedo erbleichte. Er mußte begreifen, daß es mit seiner neu gewonnenen Autorität nicht weit her war. Diese Meute, mit der er sich eingelassen hatte, war unberechenbar und nicht mit normalen Maßstäben zu messen. In Extremsituationen reagierten Burschen wie Vigo schlimmer als Tiere.
Und die Frau hockte zitternd da und sagte noch immer nichts. Ob sie nicht mehr sprechen konnte? De Escobedo hatte davon gehört, daß es so etwas gab. Auswirkungen eines Schocks. Ja, vielleicht hatte sie so etwas wie einen Schock erlitten. Wenn sie nicht redete und ihre Erinnerung auch nicht wieder einsetzte, dann mußte man sie eben so als Geisel präsentieren.
Vielleicht stammte sie aus einer bekannten Familie und war unter Umständen sogar die Frau eines Pfeffersacks.
Nichtsdestoweniger sah de Escobedo ein, daß sich Gilberto und er der Gewalt beugen mußten. Vielleicht war Gilberto auch nur ein stilles Wasser, das sich gern selber mit der leichten weiblichen Beute befaßt hätte und nur aus Unsicherheit so tat, als ob er der Gerechtigkeit den Vorzug gäbe.
„Also gut“, sagte de Escobedo einlenkend, „du sollst dein Vergnügen haben, Vigo.“
„Ich bin von deiner Gnade nicht abhängig!“ schrie der Rotbärtige. „Was ich haben will, das nehme ich mir!“
De Escobedo nickte geduldig.
„Auch das, auch das. Ich möchte aber, daß sie unversehrt bleibt und wir nach Möglichkeit ihren Namen erfahren.“
Vigo grinste jetzt.
„Klar doch. Bei mir hat noch keine Señora Schaden genommen. Ich habe sogar schon Dankesbriefe erhalten. Wirklich!“
De Escobedo nickte abermals und setzte dazu eine Miene auf, als glaube er dem Rotbart.
Die Frau wimmerte nur, als Vigo sie aufhob und in ein Nebenzimmer trug, dessen Tür sich noch verschließen ließ. Offenbar war sie nicht in der Lage, sich zur Wehr zu setzen. Völlig entkräftet mußte sie sein. Oder der Schock hatte sie zu einem willenlosen Etwas werden lassen.
De Escobedo und Gilberto begaben sich in das obere Stockwerk. Da war eine Treppe, die vom Korridor aus zum Dachboden führte. An mehreren Stellen waren Schindeln herausgebrochen worden, und man hatte freien Blick auf die Straße – vor allem auf das gegenüberliegende Gefängnis. Auch aus den Fenstern im zweiten Stockwerk war der Blick ähnlich gut.
„Siehst du jetzt, was ich meine?“ sagte de Escobedo und deutete mit einer Kopfbewegung auf den Wehrgang, wo die Aufseher patrouillierten.
Cámpora hatte ihre Zahl auf die Hälfte verringert. Keine Frage, daß er die verfügbaren Kräfte schonen wollte. Er wußte, daß ihm das Schlimmste noch bevorstand. Und er tat gut daran, sich darauf vorzubereiten. De Escobedo rieb sich innerlich hohnlachend die Hände.
„Ich fange an, zu begreifen“, sagte Gilberto gedehnt. „Von hier oben können wir sie ziemlich einfach aufs Korn nehmen.“
De Escobedo klopfte ihm auf die Schulter.
„Scharfschützen! Das ist es. Du bist der erste, der es erfährt. Wir werden hier oben Scharfschützennester einrichten und Cámpora und seine Bastarde den ganzen Tag über auf Trab halten. In der Nacht setzen wir dann endgültig zum Sturm an. Vigos Pech, daß er das nun erst später erfahren wird – da er doch so gespannt darauf war.“
Gilberto grinste.
„Ich glaube nicht, daß er es für Pech hält. Wenn seine Gier durchschlägt, kann er sich nicht beherrschen. Dann wird er zur Bestie.“
„Soll er“, sagte de Escobedo gleichgültig. „Ich will nicht darauf bauen, aber vielleicht können wir die Frau als Geisel verwenden – vorausgesetzt, die Familie, aus der sie stammt, ist reich und mächtig genug.“
„Eine hervorragende Idee!“ rief Gilberto begeistert.
De Escobedo nickte gelassen.
„Aber vorher richten wir die Scharfschützennester ein. Auf Mutmaßungen allein will ich mich nämlich nicht verlassen. Haben wir geeignete Leute in dem Haufen da unten?“ Er deutete mit dem Daumen in die Richtung des Hinterhofes.
Gilberto zog die Schultern hoch.
„Weiß ich nicht. Über die verborgenen Fähigkeiten der einzelnen Leute bin ich nicht im Bilde.“
„Also fragen wir sie“, entschied de Escobedo. „Vielleicht ist Vigo inzwischen auch interessiert genug, daß er sich uns anschließt.“
„Glaube ich nicht“, entgegnete Gilberto.
Sie stiegen die Treppe hinunter.
Ein Schuß krachte, als sie sich noch auf den unteren Stufen befanden.
„Das war in Vigos Zimmer!“ rief Gilberto und rannte los.
„Dieser verfluchte Idiot!“ knurrte de Escobedo.
Er folgte dem Unterführer und rechnete insgeheim damit, daß sich der Rotbärtige in einer Art Ekstase versehentlich am Fenster gezeigt hatte und von einem der Gefängniswächter erschossen worden war.
Dann, als Gilberto die Tür aufgestoßen hatte, glaubten beide, ein Trugbild zu sehen.
Vigo stand da. Er hatte notdürftig seine Kleidung hochgezerrt.
Die junge Frau lag am Boden und blutete aus einer Kopfwunde. Ihre gebrochenen Augen zeigten an, daß es keine Hilfe mehr für sie gab. In ihrer erschlafften Rechten lag die noch rauchende Pistole Vigos.
Er war kreidebleich im Gesicht, als er sich umwandte.
„Die – die …“, stotterte er, „die Chica hat auf einmal verrückt gespielt. Erst war sie ganz sanft und friedlich, aber dann …“ Er schüttelte den Kopf. „… dann hat sie mir die Pistole rausgezogen, ohne daß ich’s gemerkt habe. Und dann hat sie …“ Er verstummte.
„… sich selbst erschossen“, ergänzte de Escobedo. Damit bestätigte sich, was er vermutet hatte.