Seewölfe Paket 7. Roy Palmer
gebracht. „Ich habe Höhleneingänge entdeckt“, sagte er verhalten. „Sie sind kaum zu erkennen, aber ich schätze, daß es sich mindestens um ein halbes Dutzend Grotten handelt. Dort haben sich bestimmt die Frauen, Kinder und Greise versteckt. Die Krieger werden alles tun, um sie zu verteidigen.“
„Du meinst, es ist zu riskant, was wir tun?“
„Willst du es auf einen Versuch ankommen lassen?“
„Ja“, sagte der Seewolf und kletterte weiter.
Und dann geschah etwas Seltsames, das keiner erwartet hatte, wahrscheinlich nicht einmal die Malaien selbst. Hasard konnte zwischen sie treten, ohne niedergestreckt oder durchbohrt zu werden. Die Eingeborenen beschränkten sich darauf, etwas zurückzuweichen und ihn unverändert feindselig anzublikken.
Was war die Ursache für ihr Zögern? Die Tatsache, daß die Seewölfe sich ihrer Waffen entledigt hatten? Hasards sicheres Auftreten? Die acht von der „Isabella“ wußten es nicht. Nur in einem war der Seewolf sicher. Die Malaien verstanden kein Wort von dem, was er zu ihnen sagte.
Hasard stand auf einem kleinen Plateau. Seine sieben Begleiter gruppierten sich dicht hinter ihm. Sie schritten langsam weiter, auf die Höhlen zu, und die Krieger unter der Führung eines alten, weißhaarigen Mannes mit prägnanten Zügen bewegten sich rückwärts.
Hasard nahm die Fackel und leuchtete in die Höhleneingänge. Und da sah er sie kauern: die Frauen, die Kinder aller Altersklassen, die alten Frauen und Männer des Stammes. Wie viele? Hundert? Mehr? Er vermochte ihre Zahl nicht zu schätzen.
Ängstlich wichen auch sie vor den Fremden zurück.
Hasard drehte sich den Kriegern zu. Er wollte dem alten Mann durch Zeichen zu verstehen geben, aus welchem Grund sie hier waren. Aber Dan stieß ihn plötzlich mit dem Ellbogen an.
Eine Wende der Situation war eingetreten.
Hasard erlaubte sich einen Rundblick. Das Ergebnis lautete, daß die neue Lage keineswegs zu ihren Gunsten sprach.
Abenteuerliche Gestalten hatten sich ringsum aufgerichtet, auf den Höhen der Felsentürme, im Dickicht vor den Höhlen, am Hang, den die Seewölfe eben noch hinaufgeklettert waren. Lautlos waren sie erschienen, und sie hielten die Waffen von Hasard und seinen Männern. Sie legten auf die unerwünschten Gäste an.
Hasards Blick verharrte auf einem Mann von überraschend hoher Gestalt. Einen Turban trug dieser dunkelhaarige, bärtige Schurke auf dem Kopf, und um seine Hüfte hatte er sich einen breiten, schärpenartigen Gurt gewunden. In seiner rechten Hand blinkte ein Krummsäbel.
Hasard schritt auf ihn zu.
„Ein großartiger Auftritt“, sagte er, aber es war seinen Männern nicht ganz klar, ob er zu ihnen oder zu den exotisch und wild aussehenden Kerlen sprach.
„Wir sind perfekt überrumpelt worden“, fuhr der Seewolf fort. „Es bleibt uns nichts anderes übrig, als zu kapitulieren. Wir könnten die Fischer als Geiseln nehmen und uns auf diese Art schützen, aber wir sind ja nicht als Feinde hier.“
Er blieb vor dem Turbanträger stehen. „Oder bist du anderer Meinung – Tiger von Malakka?“
6.
Der Teint des Mannes war dunkel und olivfarben grundiert, seine Augen ähnelten schwarzen Juwelen. Sie schienen sich mit ihrem Blick in Hasards eisblaue Augen bohren zu wollen.
„Woher kennst du mich?“ fragte er in tadellosem Spanisch. Hasard hatte sich dieser Sprache bedient, und es war folglich klar, daß der Dunkelhaarige jedes Wort verstanden haben mußte.
„Wir sehen uns zum erstenmal“, erwiderte der Seewolf, ohne dem Blick des Mannes auszuweichen. „Aber es gehört kein Scharfsinn dazu, sich auszurechnen, wer du bist. Der spanische Kommandant war so freundlich, mir mitzuteilen, daß er hinter dir her sei. Du bist an anderer Stelle der Insel gelandet, und erst vor kurzem, nicht wahr? Nur so konntest du ihnen entgehen.“
„Darauf antworte ich nicht.“
„Du brauchst es nicht. Ich kann mir auch so genügend zusammenreimen“, sagte Hasard völlig ungerührt. „Nur solltest du deinen Freunden, den Fischern, erklären, daß sie wieder die unumschränkten Herrscher über die Insel sind. Wir haben den spanischen Verband zusammengeschossen. Ihr werdet den Kanonendonner ja wohl gehört haben.“
„Ja. Und du nimmst den Mund reichlich voll“, sagte der „Tiger von Malakka“. „Wer bist du?“
„Man nennt mich den Seewolf.“
„Und wie lautet dein richtiger Name?“
„Den sage ich dir, wenn du mir deinen genannt hast.“
Der „Tiger“ hob den Krummsäbel, bis die scharfe Klinge beinahe die Brust des Seewolfs berührte. „Ich kann dich zwingen, es mir zu sagen.“
„Eine Meisterleistung einem unbewaffneten, wehrlosen Mann gegenüber“, sagte Hasard spöttisch. „Kannst du noch mehr solcher Kunststücke?“
Für einen Augenblick sah es so aus, als wolle der Tiger von Malakka wirklich Gebrauch von der Waffe machen. Hasards Männer rückten ein Stück zu ihrem Kapitän hin auf – unerschrocken trotz der Tatsache, daß sie waffenlos waren, und bereit, dem Seewolf zu helfen.
Carberry hielt den Schädel leicht gesenkt, um sich wie ein gereizter Stier auf den schwarzbärtigen Freibeuter zu stürzen. Sir John spürte, daß sich etwas Brandheißes anbahnte. Er zog es vor, sich in die Luft zu schwingen und über der Szene zu kreisen.
Die Züge des Tigers von Malakka glätteten sich wieder ein wenig.
„Es gelingt dir nicht, mich zu provozieren“, sagte er zu Hasard. „Der Tiger überwältigt einen Wehrlosen – das wäre Wasser auf eure Mühlen, wie?“
„Der leidet an geistiger Verirrung“, bemerkte Dan O’Flynn trocken, während er die große Gestalt des Seeräubers mit einem langen Blick abtastete. Hasards doppelläufige Reiterpistole steckte in dem Leibgurt des Tigers.
„Wir haben ihm und seinesgleichen geholfen“, sagte nun Ferris Tucker, wobei er sich ebenfalls der spanischen Sprache bediente. „Und jetzt bedroht er uns. Was soll der ganze Zauber eigentlich?“
„Ja“, meinte der Seewolf. „Das möchte ich auch gern wissen.“
Der Tiger von Malakka betrachtete die acht Männer, die ihm waffenlos ausgeliefert waren. Diesen Schwarzhaarigen mit den eisblauen Augen, dem kühnen Gesicht und der Narbe, die von der Stirn aus über die Wange verlief, dann den Narbengesichtigen mit dem wuchtigen Schädel und den riesigen Fäusten, den rothaarigen Riesen und den Hünen mit dem grauen Bartgestrüpp, den Bulligen mit dem braunen Haar, den Dunkelhaarigen an seiner Seite, den Schlanken in der abenteuerlichen Kostümierung, den noch sehr jungen Mann, der eben von geistiger Verirrung gesprochen hatte – tief in seinem Inneren konnte der Tiger nicht umhin, diese mutigen Kerle zu bewundern. Nichts schienen sie zu fürchten, weder Tod noch Teufel.
Er schaute zu dem bunten Vogel auf, der über ihren Köpfen schwebte und dann auf einem Felsen landete. Der Tiger ließ den Blick wieder sinken und fixierte den Mann, der sich Seewolf nannte. Fast wurde er wankelmütig und empfand so etwas wie Sympathie für den kleinen Trupp, aber dann gab er sich einen inneren Ruck.
„Ich will dir sagen, was ich denke“, erklärte er. „Fein habt ihr euch das alles ausgedacht, aber ich falle nicht darauf herein. Ein Spion bist du, Seewolf, ein verdammter Spanier, der mich durch eine billige Schmierenkomödie hereinlegen will. Anders könnt ihr mir nicht mehr ans Zeug, und so habt ihr euch diesen Überfall zurechtgelegt. Ihr habt ein wenig gewütet und geschossen, wußtet dabei aber ganz genau, daß ihr mich so niemals packen konntet. So habt ihr einen ‚Überfall‘ inszeniert, in dem du als Held auftreten solltest.“
Hasards Miene war fassungslos. Ihm fehlten wirklich die Worte.
Der Tiger trat zu dem Stammesältesten und legte ihm eine Hand auf die Schulter.